Ulrike Almut Sandig: "Monster wie wir"

Sexueller Missbrauch im Pfarrhaus

05:16 Minuten
Zu sehen ist das Cover des Buches "Monster wie wir" von Ulrike Almut Sandig.
Zu viel Gewalt, die gut erzählt wird: Ulrike Almut Sandig beschreibt in "Monster wie wir" das Aufwachsen in einer sächsischen Kleinstadt in den letzten Jahren der DDR. © Schöffling Verlag / Deutschlandradio
Von Sigrid Löffler · 11.08.2020
Audio herunterladen
Ruth und Viktor wachsen in einer sächsischen Kleinstadt in den späten DDR-Jahren auf. Beide erleben körperliche und sexuelle Gewalt. Gewalt und ihre Langzeitfolgen sind das zentrale Thema des Romandebüts der Lyrikerin Ulrike Almut Sandig.
Der Verlag stellt Ulrike Almut Sandig als "gefeierte Dichterin und Klangkünstlerin" vor. Tatsächlich ist Sandig, 1979 als Tochter des Pfarrers und Politikers Heiner Sandig in Großenhain bei Dresden geboren, bislang vor allem als Lyrikerin mit Lesekonzerten und musikalischen Hörbüchern in Zusammenarbeit mit Musikern und Komponisten sowie mit einem Erzählungsband ("Flamingos", 2010) bekannt geworden.

Unendliche Kindheit und häusliche Gewalt

Jetzt liegt ihr erster Roman vor: "Monster wie wir". Er erzählt lebhaft, anschaulich und detailgenau vom Aufwachsen in einer sächsischen Kleinstadt in den späten DDR-Jahren. Aus dem Abstand von einem Vierteljahrhundert und in einer Mischung aus rückblickender Erinnerung und unmittelbarem Erleben berichtet die Ich-Erzählerin Ruth von ihrer Kindheit im ostdeutschen Braunkohlegebiet.
Ruth und Viktor sind Sandkasten-Gespielen, Klassenkameraden und beste Freunde: Ruth, die mit ihrem älteren Bruder in einem Pfarrhaushalt aufwächst, und Viktor, der Sohn einer Ukrainerin und eines NVA-Offiziers. Gemeinsam toben sie scheinbar unbeschwert durch ihre "unendliche Kindheit", zwischen Eisessen, Schlittschuhlaufen, Schwimmen im Baggersee und allerhand Kinderstreichen.
Doch von allem Anfang an deutet sich unterschwellig das eigentliche Thema des Romans an. Häusliche Gewalt scheint allgegenwärtig und wird als selbstverständlich hingenommen. Dass sie verprügelt werden, dass es Ohrfeigen und Schläge aufs nackte Hinterteil setzt, ist die alltägliche Erfahrung der Kinder. Ständig tönt Gebrüll aus den Nachbarhäusern.
Auch zwischen dem Pfarrer und seiner Frau sind nicht nur verbale Übergriffe, sondern auch Handgreiflichkeiten an der Tagesordnung: "Alles beginnt damit, eine Ohrfeige für das natürliche Ende eines Gesprächs zu halten."
Ruths geschultem Blick entgehen auch nicht die Prügelspuren der Kinder auf den Fotos im Familienalbum: "Die einen hatten Bisse am Hals. Die anderen rote Backen, Hintern oder blaue Rücken. Manche hatten beides."

Schweigen und Verdrängen

Doch Ruth und Viktor erleben zuhause nicht nur Gewalt, sondern auch Missbrauch. Ruth wird von ihrem Großvater sexuell missbraucht, Viktor vom Freund seiner älteren Schwester regelmäßig vergewaltigt. Darüber wird nicht gesprochen. Die Eltern wollen nichts bemerken.
Die Kinder sind Meister im Nichtanmerkenlassen. Sie schweigen und verdrängen das Erlebte, für das sie keinen Begriff haben, aus dem Gedächtnis. Ruth entwickelt Angstphantasien über Vampire und behauptet: "Opa ist ein Vampir." Doch die Mutter versteht das Signal nicht. Der Gedanke, sich einem Erwachsenen anzuvertrauen, kommt den Kindern gar nicht.
Viktor erzählt keinem außer Ruth, was der Freund der Schwester mit ihm macht, doch Ruth hört gar nicht richtig hin und vergisst es gleich wieder. "Wenn man nicht darüber spricht, ist es nicht geschehen. So und nicht anders hatten wir es gelernt."
Zum Selbstschutz verfallen die Kinder auf unterschiedliche Strategien. Ruth flüchtet sich ins Geigenspiel auf dem Dachboden, wo sie vor dem Großvater sicher ist; Viktor trainiert Sit-ups, baut seinen schmächtigen Körper zum Muskelpaket um und stellt sich in den Schutz einer Schläger-Clique in der Schule, um sich unverwundbar zu machen. Doch die monströse Spur der Gewalt verfolgt Ruth und Viktor auch im späteren Leben weiter.

Drang der Autorin nach Überdeutlichkeit

Viktor – inzwischen ein Hüne mit rasierter Glatze, in Bomberjacke und Springerstiefeln – verdingt sich als Haushaltshilfe bei einer wohlhabenden Familie in einer Villa bei Marseille. Als er entdeckt, dass der Hausherr seinen zehnjährigen Sohn missbraucht, während die Mutter wegschaut, schlägt er seinen Dienstgeber mit der ganzen lang aufgestauten Wut über seinen selbsterlittenen Missbrauch zusammen.
Ruth ihrerseits – inzwischen eine international tätige Berufsmusikerin – hat eine gewaltgesättigte Beziehung zu einem finnischen Musiker, deren körperlich sichtbare Spuren sie vor ihrer Umwelt wegzulügen pflegt.
Die Gewalt im Intimen und Familiären hat im Roman ihr unübersehbares Gegenstück in der gewaltsamen Zerstörung der Natur: Die Bagger im Braunkohle-Tagebau haben inzwischen mehrere Dörfer verschlungen und den ganzen Landstrich in einen Canyon verwandelt.
Ulrike Almut Sandig ist wie besessen vom Thema Gewalt. So temperamentvoll und stilsicher der Roman erzählt ist, so sehr leidet er doch am Drang der Autorin nach Überdeutlichkeit. Der Leser wird mit dem Gewaltthema weit über die Glaubwürdigkeitsgrenze hinaus traktiert.
So macht dem Roman letztlich ein Paradoxon zu schaffen: Als je allgegenwärtiger die Gewalt beschrieben wird, desto abnehmender beim Leser die Bereitschaft, sich auf die Dringlichkeit einzulassen, mit der die Autorin dem Leser ihr Thema einzuhämmern sucht.

Ulrike Almut Sandig: "Monster wie wir"
Schöffling Verlag, Frankfurt/Main 2020
237 Seiten, 22 Euro

Mehr zum Thema