Ulrich Schmid (Hrsg.): "De Profundis"

Zwischen Reinheit und Morast der Russischen Revolution

Buchcover "De Profundis" von Ulrich Schmid (Hrsg.), im Hintergrund Kämpfer der Roten Armee in Moskau im Oktober 1917
"De Profundis", herausgegeben von Ulrich Schmid, ist bereits 1990 in der zerfallenen Sowjetunion erschienen. Nun liegt es in Deutsch vor. © Suhrkamp Verlag / dpa / Ria Novosti / Sputnik
Von Marko Martin · 04.11.2017
Ein frühes, lange vergessenes Zeugnis russischer Revolutionskritik erscheint nun erstmals auf Deutsch: "De Profundis" bietet eine beunruhigend aktuelle Lektüre - die zum Verständnis Russlands von unschätzbarem Wert ist, urteilt unser Rezensent.
Eine "nur vermeintlich durcherzählte Geschichte" nennt der renommierte Osteuropa-Historiker Karl Schlögel die Geschehnisse in Russland vor hundert Jahren, für die sich längst der Begriff "Oktoberrevolution" eingebürgert hat. "Revolution": Obwohl Zeitzeugen sich eher an einen Putsch einer straff organisierten Minderheit erinnern.
Einige von ihnen – samt und sonders Kritiker des im Februar 1917 gestürzten Zarenregimes und der reaktionären orthodoxen Kirche – hatten sich dann nach Lenins Machtergreifung gleich zusammengefunden, um als Historiker und Intellektuelle in Texten und Essays die neu entstandene Lage zu analysieren. Ihr 1918 entstandenes Buch "De Profundis" konnte nicht mehr erscheinen; die Bolschewiki hatten erneut die Pressezensur eingeführt, und der nach der demokratischen Februarrevolution 1917 kurz entstandene Freiheitsraum war bereits wieder verschwunden.

Vor 50 Jahren in Paris erstmals erschienen

1967 schließlich in einem Pariser Exilverlag veröffentlicht, konnte das Werk erst 1990 in der zerfallenden Sowjetunion erscheinen. Und erst heute, 2017, liegt es endlich auf Deutsch vor: elf umfangreiche Aufsätze, versehen mit einem Vorwort von Karl Schlögel, herausgegeben und kenntnisreich kommentiert von Ulrich Schmid, einer weiteren Koryphäe aktueller Russland-Forschung.
"De Profundis" ist dabei weit mehr als von historisch-akademischem Interesse, denn die Positionen der damaligen Kritiker prägen auch das heutige Russland: Da sind einerseits Verdammungen des atheistischen Materialismus der Bolschewiki und ein Lobpreis der vermeintlich "reinen russischen Seele", der durchaus Anschluss zum gegenwärtigen Putinschen Diskurs hat, der ebenfalls auf der Mythisierung eines "ewigen Russland" rekurriert.

Eine andauernde Misere bis heute

Aufklärerisch-emanzipatorischer sind die Analysen wie jene von Iossif Pokrowski (1868-1920), der bereits vor hundert Jahren die bis heute andauernde Malaise stringent beschrieb:
"Das geringe Interesse der russischen Intelligenzija an Fragen des Rechts ist seit Langem bekannt. Das idealistische Lager strebt leidenschaftlich nach dem absolut Guten, erweist sich in Fragen des praktischen Aufbaus der Gesellschaft jedoch oft als hilflos. Es sucht die absolute Wahrheit und ignoriert vollständig die Welt des Relativen, in der wir leben. Wir träumen von den Gipfeln der Reinheit und verharren ausweglos in moralischem Morast."
Ähnlich argumentiert auch Semjon Frank (1877-1950): "Das ist die innere Verwandtschaft zwischen dem typischen russischen Konservativen und dem Revolutionär: Die gleiche Vorliebe für mechanische Gewaltmaßnahmen und brutale Repression, die gleiche Kombination von Hass gegen lebendige Menschen mit einer romantischen Idealisierung abstrakter politischer Formen und Parteien."

Auf dem "Philosophen-Dampfer" ins Exil

Karl Schlögel und Ulrich Schmid weisen schließlich auf das Schicksal der in "De Profundis" versammelten Autoren hin: Anders als viele ihrer in der Sowjetunion gebliebenen Kollegen wurden sie nicht ermordet - sei es, weil sie bereits Anfang der 20er-Jahre verstarben oder 1922 auf Lenins Befehl zwangsweise in St. Petersburg an Bord der sogenannten "Philosophen-Dampfer" und ins unfreiwillige Exil gehen mussten. Zum Verständnis Russlands und seiner fortgeschrittenen Interpreten bleibt ihr Buch von unschätzbarem Wert.

Ulrich Schmid (Hrsg.): De Profundis. Vom Scheitern der Russischen Revolution
Aus dem Russischen übersetzt von Anselm Bühring, Helmut Dahm, Dagmar Herrmann, Gabriele Leupold, Dorothea Trottenberg, Volker Weichsel und Regula Zwahlen
Mit einer Einleitung von Karl Schlögel
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017
568 Seiten, 28,80 Euro

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