Ulrich Alexander Boschwitz: "Der Reisende"

Ein literarischer Spätfund

12:23 Minuten
Zerstörte und geplünderte Ladenlokale prägen die Straßen in Deutschland während den nationalsozialistischen Ausschreitungen.
Vom Großbürger zum Gejagten: So ging es vielen jüdische Deutschen nach 1933. Ihre Angst und Verzweiflung beschreibt der Roman "Der Reisende" mit atemberaubender Eindringlichkeit. © imago/United Archives International
Reuella Sachaf und Peter Graf im Gespräch mit Joachim Scholl · 15.07.2019
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Als literarische Sensation wurde der Roman "Der Reisende" gefeiert, als er 2018 auf Deutsch erschien, 80 Jahre nach seiner Entstehung. 30 Jahre lang habe sie dafür gekämpft, sagt die Nichte des Autors, der auf der Flucht vor den Nazis ums Leben kam.
Otto Silbermann ist ein gutsituierter Kaufmann aus Berlin. Dass er jüdische Wurzeln hat, spielt seinem Leben keine größere Rolle. Doch das ändert sich, als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kommen. Vom Großbürger wird er zum Gejagten, der verzweifelt mit Zügen durch Deutschland reist, das er nicht verlassen darf.
Davon handelt der Roman "Der Reisende", den Ulrich Alexander Boschwitz 1938 schrieb und der auch die Geschichte des Autors widerspiegelt: 1915 als Sohn eines jüdischen Vaters und einer protestantischen Mutter in Berlin geboren, wurde er nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ins Exil getrieben, erst nach Schweden, dann nach England. Dort wurde er nach Kriegsausbruch als "feindlicher Ausländer" interniert und nach Australien gebracht. Auf der Rückreise 1942 wurde sein Schiff von einem deutschen U-Boot torpediert. Der erst 27-jährige Schriftsteller ertrank wie hunderte andere Passagiere auch.

30 Jahre lang kämpfte die Nichte für die Veröffentlichung

Noch zu Lebzeiten Boschwitz' waren englische und amerikanische Ausgaben des "Reisenden" erschienen, 1945 auch eine französische Übersetzung. Auf Deutsch erschien das Buch erst 2018. Vor allem, weil Boschwitz' Nichte, die in Israel lebende Reuella Sachaf, unermüdlich dafür gekämpft hat: 30 Jahre lang habe sie versucht, Menschen in Israel für dieses Buch zu interessieren, sagt sie. "Und keiner war interessiert." Dann habe ihr ein Literaturkritiker von Haaretz geholfen, den Kontakt zum deutschen Verleger Peter Graf herzustellen. "Dass das funktioniert hat, ist für mich eine Art Auferstehung."
Denn die Geschichte, die "Der Reisende" erzählt, ist nicht nur die von Ulrich Alexander Boschwitz, sondern auch die vieler anderer Juden, die sich als Deutsche sahen und sich vollständig mit Deutschland identifizierten. Ihre Mutter etwa, berichtet Reuella Sachaf, habe damals als "ideale, reine Schönheit" gegolten.
"Sie hatte aber zum Ausdruck gebracht, dass ihr Vater jüdisch war. Und als die Nazis dann an die Macht kamen, musste sie sich mit einem Mal verstecken, also ein ganz anderes Leben haben. Meine Mutter, die aus einer sehr wohlhabenden Familie kam, hatte plötzlich das Leben eines Menschen auf der Flucht."

Atemberaubende Eindringlichkeit

"Ich wusste sofort: das muss erscheinen", sagt Verleger Peter Graf, der das Buch herausgegeben und lektoriert hat. "Er ist alleine deshalb, weil es die früheste literarische Auseinandersetzung mit den Ereignissen der November-Pogrome ist, ein bedeutendes literarisches Dokument. Es ist aber auch ein unglaublich gut geschriebener Roman, der heute noch zu uns spricht – in einer Eindringlichkeit, die atemberaubend ist."
Als literarische Sensationsentdeckung wurde "Der Reisende" im vergangenen Jahr gefeiert und inzwischen in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Doch es wird nicht bei diesem einen Buch bleiben, betont Graf.
"Im Herbst können wir zum Glück seinen ersten Roman entdecken: 'Menschen neben dem Leben', ein Berlin-Roman zur Zeit der Inflation. Auch da wird man sehen – bei einer ganz anderen Thematik – das ist eine Stimme in der deutschsprachigen Literatur der Zeit, die wirklich eine Bedeutung hat und die, denke ich, dauerhaft ihren Platz in der Literaturgeschichte finden wird."
(uko)
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