Ukraine

Röttgen: "Putin wird weitermachen"

Norbert Röttgen (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag
Norbert Röttgen (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag © picture alliance / dpa / Oliver Berg
12.04.2014
Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen, befürchtet eine dauerhafte Destabilisierung der Ukraine. Der russische Präsident Putin werde "alles daransetzen", zu verhindern, dass die Ukraine ein zu Europa gehörendes "Erfolgsmodell" werde. Hinter der Krim-Krise steht nach Röttgens Meinung die grundsätzliche Frage, ob Putin die europäische Friedensordnung mit militärischer Gewalt infrage stellen werde.
Norbert Röttgen, CDU, plädiert für eine politische Führungsrolle Deutschlands
Deutschlandradio Kultur: Unser Gast ist der CDU-Politiker Norbert Röttgen. Seit Beginn der Legislaturperiode ist er Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag. Tag, Herr Röttgen.
Herr Röttgen, dass Wladimir Putin die Krim wieder aufgibt, das glaubt ja wohl niemand so ernsthaft. Blicken wir jetzt mal auf die Ost-Ukraine und die Ähnlichkeiten der aktuellen Ereignisse dort zu dem, was auf der Kim geschehen ist. Die sind ja gerade in den letzten Tagen unübersehbar. – Stehen wir jetzt vor der nächsten russischen Landnahme, diesmal in der Ost-Ukraine?
Norbert Röttgen: Erstens dürfen wir auch die auf der Krim nicht akzeptieren. Und zweitens ist meine Einschätzung, dass Putin weitermachen wird, vielleicht und wahrscheinlich mit anderen Mitteln, aber er schließt keine Mittel aus. Meine Einschätzung, um das vielleicht gleich zu Beginn des Gespräches zu sagen, ist, dass er alles daransetzen wird zu verhindern, dass die Ukraine ein zu Europa gehörendes Erfolgsmodell als Herausforderung an die Politik von Putin in Russland selber wird.
Deutschlandradio Kultur: Muss sich jetzt jeder Staat, der eine starke russische Minderheit oder in einigen Regionen sogar eine russische Mehrheit hat, bedroht fühlen?
Norbert Röttgen: Jedenfalls muss man verstehen, dass das die Reaktion in diesen Staaten ist. Nehmen Sie etwa die baltischen Staaten, jedenfalls zwei der baltischen Staaten, wo das der Fall ist. Und das wird so empfunden natürlich – je kleiner der Staat, desto mehr. Im Kern geht es darum, dass – glaube ich – das Interesse von Putin ist, Konkurrenzmodelle, erfolgreiche Gesellschaften unmittelbar in der Nachbarschaft Russlands zu verhindern, weil sie eine machtpolitische Herausforderung an Putin selber beinhalten würden.
Deutschlandradio Kultur: Also die Strategie wäre vielleicht, eine territorial einigermaßen integre, aber schwache Ukraine, die mehr oder weniger ein failed state ist und deshalb in russischer Abhängigkeit bleibt?
Norbert Röttgen: Ja, das würde Putin genauso in den Kram passen. Das glaube ich.
Einheitliche politische und wirtschaftliche Signale der EU
Deutschlandradio Kultur: Die Nato reagiert auf diese Lage mit verstärkter Präsenz an den Ostgrenzen der EU. Ist das der richtige Schritt oder ist da vielleicht auch die Gefahr einer weiteren Eskalation drin?
Norbert Röttgen: Meine Meinung ist, dass wir – wir, die Europäer, wir, der Westen – einheitlich, geschlossen und klar sein müssen in dem, was wir tun. Aber zu dieser Klarheit, zu der aus meiner Sicht politische und notfalls auch wirtschaftliche Mittel und Instrumente zählen, gehören keine militärischen Instrumente. Ich finde das ganz wichtig, dass zwar Putin natürlich militärisch agiert und vorgeht, dass wir auf dieser Ebene aber keine Antwort in Erwägung ziehen. Es gibt keine militärische Option. Und ich bin auch gegen militärischen Symbolismus.
Deutschlandradio Kultur: Das sieht die Verteidigungsministerin offenkundig anders.
Norbert Röttgen: Das glaube ich nicht, aber jedenfalls meine Meinung ist diese. Militärischer Symbolismus wirkt ja auf Putin nicht überzeugend, nicht beeindruckend, sondern es bestätigt ihn eher in seiner falschen Einschätzung, dass der Westen schwach sei. Wir sollten diese Fehleinschätzung nicht bestätigen.
Deutschlandradio Kultur: Da klingen Sie ganz ähnlich wie der Bundesaußenminister, wie Frank-Walter Steinmeier, der ja auch davor warnt, Öl ins Feuer zu gießen. Andererseits reden wir doch in letzter Zeit viel über eine neue deutsche Außenpolitik, die mehr Gewicht ins internationale Gefüge einbringen will. Was bleibt davon übrig, wenn man jetzt dann doch wieder so sehr, sehr vorsichtig vorgeht?
Deutschland als Teil einer vernetzten Welt
Norbert Röttgen: Also, erstens unterstütze ich wirklich den Bundesaußenminister – auch in dieser Frage, auch was die Frage der Nato, Nato-Präsenz und die Relevanz der Nato jetzt und die Rolle der Nato in dieser Auseinandersetzung anbelangt. Aber zweitens hat das gar nichts mit der Frage zu tun, dass dadurch neue deutsche Außenpolitik, sozusagen kurz nachdem sie thematisiert wurde, schon wieder abgeräumt wird.
Denn nach meinem Verständnis, ich glaube, auch nach dem Verständnis all derjenigen, die wie der Bundespräsident oder auch der Bundesaußenminister ja sich dafür eingesetzt haben, war das ja überhaupt nicht und keinesfalls in erster Linie militärisch zu verstehen. Das war sicherlich ein Missverständnis. Wenn wir von deutscher Außenpolitik reden, dann kann sich in Einzelfällen als Ultima Ratio, in äußersten Fällen auch ein Bundeswehreinsatz stellen.
Aber es geht eben um etwas ganz anderes. Es geht im Kern und zuallererst darum, dass wir alle miteinander verstehen in der Politik, in der Gesellschaft, dass wir Deutschen Teil einer interdependenten Welt geworden sind, also einer Welt von wechselseitigen Abhängigkeiten, die kaum noch Grenzen kennt. In der Kommunikation, im Handel, in großen Herausforderungen wie Klimawandel, aber auch in Sicherheitsherausforderungen haben wir eben keine uns schützenden Grenzen mehr. Wir sind ja auch überwiegend froh, dass die Grenzen weg sind. Also sind wir Teil einer Weltgemeinschaft und Gesellschaft und es gibt große Erwartungen an uns von unseren Freunden. Sie haben weniger Angst vor uns, als dass sie erwarten, ihr genießt Vertrauen, ihr habt Kompetenz, ihr habt wirtschaftliche Kraft, also tragt euren Teil bei zu der Entwicklung einer friedlichen Welt unter den Bedingungen der Globalisierung. – Das ist, glaube ich, das Thema neuer deutscher Außenpolitik.
Deutschland muss seine Verantwortung erkennen und wahrnehmen
Deutschlandradio Kultur: Habe ich jetzt das Wort „Führungsrolle" – nicht militärisch, das habe ich verstanden, aber Führungsrolle, das ich in anderen Reden, also auch bei Steinmeier zum Beispiel und beim Bundespräsidenten vernommen habe – bei Ihnen nicht gehört? Vielleicht deklinieren wir es doch einfach mal am konkreten Fall Ukraine durch: Was kann Deutschland da tun im Sinne dieser neuen Außenpolitik, die Sie gerade ein bisschen blumig beschrieben haben?
Norbert Röttgen: Na ja, blumig ist das (nicht), (aber) ich nehme das auch gerne hin. Es geht eben darum, dass wir unsere Verantwortung erkennen und dass wir sie wahrnehmen.
Also, was bedeutet das im Fall der Ukraine, den ich für den Testfall halte, der viel schneller gekommen ist nach den Reden, als, glaube ich, alle gedacht haben. Es heißt eben, erstens ein Verständnis zu entwickeln und zu kommunizieren, mit dem wir konfrontiert sind. Um was geht es eigentlich? Geht es – in Anführungszeichen – nur darum, dass die Krim annektiert wird? Das wäre schlimm genug. Ich glaube, es geht um mehr. Es geht darum, dass Putin die europäische Friedensordnung, die sich am Ende des letzten blutigen Jahrhunderts entwickelt hat, infrage stellt – wieder mit den alten Mitteln militärischer Gewalt und Einschüchterung. Das ist der erste politische Beitrag, ein Verständnis der Krise nicht nur zu gewinnen, sondern dann auch zu vermitteln der Bevölkerung gegenüber.
Zweitens, wenn man das so sieht, dann können wir das nicht so hinnehmen, weil wir ein Interesse daran haben und weil wir auch als Wert dem friedlichen Zusammenleben verbunden sind. Wir wollen Stabilität, also müssen wir dem konsequent entgegentreten – durch Mittel der Politik, durch eine klare Sprache, aber auch durch politische und notfalls wirtschaftliche Maßnahmen. Da hat Deutschland dann eine besondere Verantwortung. Unsere Freunde, unsere Partner schauen darauf, was Deutschland tut.
Die Amerikaner sagen: Wir beschließen eine Milliarde Unterstützung. Wir sind auch in der Rhetorik klar, aber wir sagen euch auch, Europäer, es ist euer Kontinent und euer Problem. Ihr müsst es lösen. Und innerhalb der europäischen Gemeinschaft, der Europäischen Union geht es darum, zu Klarheit und Geschlossenheit zu kommen. Da schauen viele auf Deutschland. Man kann auch von Führungsrolle reden. Sie ist aber nie sozusagen ein nationaler Alleingang, sondern unsere Verantwortung, von der ich lieber rede, ist immer europäisch eingebettet.
Deutschland würde Wirtschaftssanktionen initiieren
Deutschlandradio Kultur: Würde Führungsrolle auch bedeuten, dass – wenn, wir wollen es ja nicht hoffen, aber wenn die Situation um die Ukraine weiter eskaliert – dann auch Deutschland führend an der Einführung von Sanktionen gegen Russland beteiligt wäre, Wirtschaftssanktionen eingeschlossen?
Norbert Röttgen: Ja, wir haben es ja beschlossen. Ich glaube, wir haben eine Strategie, die aus drei Teilen besteht: erstens Vorrang von Diplomatie und Politik und Gespräch mit Russland, zweitens konsequente politische und wirtschaftliche Unterstützung der Ukraine, die Ukraine nicht fallenlassen, sondern unterstützen, und drittens die Ankündigung an Putin, wir werden das nicht hinnehmen. Darum beschließen wir schon Maßnahmen der Isolierung. Und wir haben eine Stufenfolge, die wir auch weiter aktiveren werden, wenn Putin seinerseits seine Machtansprüche weiter ausdehnt.
Deutschlandradio Kultur: Die Ukraine-Krise nahm ihren Anfang ja, als der damalige Präsident Janukowytsch sich weigerte, das Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterschreiben und sich stattdessen enger an Moskau band. Die Sache wurde dann schnell zu einer Entweder-Oder-Situation. – Hätte die EU mit einer sensibleren Reaktion die Eskalation, die wir dann beobachten mussten, vermeiden oder zumindest abschwächen können?
Norbert Röttgen: Das ist eine Frage nach einem hypothetischen Verlauf. Darum kann man sie nicht beantworten.
Deutschlandradio Kultur: Aber sowas kann sich ja wiederholen in anderen Fällen.
Norbert Röttgen: Ja, erstens das und zweitens kann man unabhängig davon fragen, dass man nicht weiß, wie es dann weitergegangen wäre: Haben wir etwas falsch gemacht?
Deutschlandradio Kultur: Haben wir den russischen Erzählstrang in der Geschichte nicht bewusst genug wahrgenommen? So kann man es auch formulieren.
Norbert Röttgen: Ja, genau. Ich glaube erstens, dass nichts unterlassen wurde, was das russische Vorgehen, was Putins Vorgehen rechtfertigt. Ich glaube aber zweitens, dass wir, die Europäer, die Europäische Union, die östliche Nachbarschaftspolitik also auch, das politische und wirtschaftliche Kooperationsangebot unter anderem an die Ukraine zu technisch betrieben haben, zu wenig außenpolitisch analysiert, begleitet haben, auch gegenüber Russland.
Ich glaube nicht, dass wir Putin hätten überzeugen können von unserem Verständnis von Nachbarschaft, dass sie sich nicht gegen einen richtet. Putins Interessenlage und Analyse ist eben eine andere: Alles, was sich an meiner Grenze erfolgreich entwickelt, was nicht nach meinem Muster und unter meinem Einfluss stattfindet, ist eben eine Bedrohung.
Aber trotzdem hätten wir das offensiver tun müssen, unser Verständnis darlegen müssen, auch das Gespräch darüber intensiver suchen müssen. Ob das den Gang der Dinge beeinflusst hätte, weiß ich nicht, aber die östliche Nachbarschaftspolitik ist kein technischer Vorgang, kein technokratischer Vorgang, kein juristischer Vorgang, das ist es alles auch, aber es ist eben ganz tief und im Kern ein außenpolitisches Vorgehen, dem wir nicht hinreichende außenpolitische Analyse und Aktivität haben zukommen lassen.
Neu nachdenken über Nachbarschaftspolitik
Deutschlandradio Kultur: Das heißt also, diese östliche Nachbarschaftspolitik der EU oder vielleicht auch die Frage, ob die Nato sich nach Osten weiter ausdehnt, Stichwort zum Beispiel Georgien, das muss jetzt grundsätzlich neu durchdacht werden. Oder hat sich das erledigt?
Norbert Röttgen: Nein, das hat sich nicht erledigt, aber das sind eben alles Fragen, die im Raume stehen, die man nicht ignorieren durfte und die man nicht ignorieren darf: Was ist unsere Konzeption, die wir mit Nachbarschaftspolitik im Osten verbinden? Was verstehen wir darunter? Hat sie eine sicherheitspolitische, also eine militärpolitische Komponente oder hat sie sie gerade nicht? Über diese Fragen müssen wir klare Auskunft geben.
Deutschlandradio Kultur: Mal konkret: Jetzt eine Aufnahme, Georgiens in die Nato, wäre das jetzt das richtige Signal für Putin?
Norbert Röttgen: Es wäre für die Nato und den Westen nicht die richtige Entscheidung. Es steht jetzt im Moment richtigerweise nicht an.
Deutschlandradio Kultur: Europa und gerade auch Deutschland tut sich ja schwer mit Entschlossenheit gegenüber Russland wegen der Abhängigkeit vom russischen Öl und Gas. Wie lässt sich diese Abhängigkeit von Energieimporten verhindern oder zumindest verringern?
Norbert Röttgen: Ich glaube nicht, dass wir uns deshalb schwer tun, aber jedenfalls bemerken wir nun, dass die Verwundbarkeit in dieser Auseinandersetzung ganz anders ist als sie im Kalten Krieg war, wo es ja militärische Konfrontation gab. Jetzt haben wir eben Abhängigkeiten wechselseitiger Natur. Die stellen wir fest. Und soweit die Energiepolitik betroffen ist, gibt es ganz wenig kurzfristige Lösungen. Energiepolitik ist immer langfristig und es dauert immer Zeit. Aber das ist eine der Konsequenzen, dass wir unsere Abhängigkeit reduzieren müssen, unsere Energieabhängigkeit reduzieren müssen und daraus Schlussfolgerungen ziehen können und ziehen müssen.
Ich glaube, dass Deutschland sich verlassen kann auf Russland als Lieferant, weil die Abhängigkeit Russlands von dem Verkauf von Energierohstoffen viel, viel größer und einseitiger ist als unsere Abhängigkeit im Bezug. Deutschland bezieht ungefähr ein Drittel des Gases aus Russland, aber mehr als die Hälfte des Budgets Russlands wird finanziert durch den Verkauf von Energierohstoffen. 80 Prozent des Exports machen Rohstoffverkäufe aus. Das ist die Lebensader Russlands.
Aber in Bezug auf die Ukraine sieht es schon anders aus. Die kleinen baltischen Staaten hängen zu 100 Prozent ab. Aber wir haben keine Leitungsverbindungen, Gasverbindungen von Europa, der Europäischen Union zum Baltikum. Das heißt, dort sind die Abhängigkeiten viel, viel ausgeprägter. Darum ist hier Europa gefordert, eine Energieunion zu bilden, um uns wechselseitige zu verstärken, zweitens unsere Gasbezüge zu diversifizieren, also die Einseitigkeiten zu reduzieren. Da ist insbesondere, glaube ich, die weitere Einfuhr von Flüssiggas möglich und nötig. 15 Prozent sind schon Flüssiggas. Dafür braucht man Terminals. Manche europäische Länder haben sie, Deutschland nicht. Die USA, die ein Exporteur von Gas werden könnten, haben auch noch keinen Terminal gebaut – erst im Jahre 2015, aber das ist sozusagen Teil von Mittel- und Langfriststrategie.
Und drittens sehe ich eine Bestätigung in unserer Energiewende. Denn erneuerbare Energien, die wir entwickelt haben, ein Viertel unseres Stroms aus erneuerbaren Energien bedeutet, dass wir in diesem Umfang eben nicht mehr auf Importe von Energierohstoffen – Gas, Kohle, Öl – angewiesen sind. Das heißt, einen gemeinsamen europäischen Rahmen schaffen, Energieunion, diversifizieren und auf Innovation und Technologie setzen durch erneuerbare Energien – da ist eine Strategie möglich.
Bedeutung der Globalisierung kommunizieren
Deutschlandradio Kultur: Über den Wunsch nach einer engagierteren deutschen Außenpolitik haben wir ja vorhin schon gesprochen. Umfragen lassen diesen Wunsch in der Bevölkerung nicht erkennen. Zum Beispiel: Eine große Zahl der Deutschen hält die Annexion der Krim auch für eine Art Wiedervereinigung und findet daran eigentlich nichts zu kritisieren.
Haben Sie Verständnis für diesen Mangel an politischer Bildung?
Norbert Röttgen: Ich würde es natürlich nicht so bezeichnen. Darum habe ich ja auch eben schon im Verlauf des Gespräches gesagt: Deutsche Verantwortung in der Außenpolitik heißt zuerst und zuallermeist, auch gegenüber der eigenen Bevölkerung ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass wir betroffen sind, dass wir Teil einer vernetzten Welt sind und dass wir nicht mehr in den Bedingungen der Vergangenheit, des Kalten Krieges leben, wo sich andere um uns und unsere Sicherheit gekümmert haben – die Amerikaner vor allen Dingen – und alles zementiert war und wir unter diesem Schutz uns politisch, demokratisch und wirtschaftlich entwickelt haben. So sind wir Jahrzehntelang aufgewachsen, sozialisiert worden. Es hat uns auch geprägt. Und nun verändert sich langsam die Realität und wir müssen uns auf diese neue Realität einstellen.
Ich kann gut verstehen, dass Menschen eine Aversion haben, in Konflikte hineingezogen zu werden. Diese Konflikte wollen wir auch alle nicht. Aber sie sind da. Sie haben ihre Auswirkungen. Und ich glaube, es ist unser Interesse, aber auch unsere Verpflichtung, an der friedlichen Beilegung oder Nichtentstehung von Konflikten zu arbeiten.
Wir sind ein Teil, eine Minderheit in dieser Welt, die gut regiert, wohlhabend, sozial gesichert lebt. Und daraus ergeben sich Interessen – an Stabilität, aber auch eine Verpflichtung, auch eine moralische Verpflichtung, unseren Beitrag zu leisten. Und darüber müssen wir viel mehr reden. Da hat auch die Politik eine Bringschuld und nicht das Recht, irgendeinen dafür zu kritisieren, dass er es noch nicht verstanden hat.
Interesse für die Krise entwickeln
Deutschlandradio Kultur: Also, das Bewusstsein ist aber noch nicht unbedingt da, wo Sie es gerne hätten. Oder, andersrum gesagt, man könnte ein bisschen mehr außenpolitische Lobbyarbeit betreiben.
Norbert Röttgen: Ja, wir müssen schlicht mehr darüber reden. Ich sage ja, die Politik hat eine Bringschuld, darüber auch zu sprechen, klarzumachen, dass es überhaupt nicht zu allererst um militärische Beteiligung geht, sondern um Politik, aber um Einsatz, um Engagement. Und das ist auch alles nicht umsonst und kostenlos zu haben. Keiner wünscht sich die Krise, die wir im Moment haben, aber wenn sie schon da ist, muss man auch sagen: Was können wir Gutes daraus machen? – Eben die Erkenntnis, dass wir uns kümmern müssen und keine uns abschottenden Grenzen um uns herum haben und auch gar nicht haben wollen.
Deutschlandradio Kultur: Das machen wir zusammen mit den Partnern in der Europäischen Union, aber auch mit dem großen transatlantischen Partner USA, wobei man ja immer noch den Eindruck hat, dass hierzulande und in den USA etwas unterschiedliche Auffassungen davon bestehen, wie man Freiheit einerseits und Sicherheit andererseits gegeneinander abwägt, welches Gewicht auch militärische Maßnahmen oder zumindest militärische Drohungen als Instrument der Außenpolitik haben. – gibt es da einen grundsätzlichen transatlantischen Dissens?
"Macht der Geheimdienste in den USA ist problematisch"
Norbert Röttgen: In einer Frage gibt es einen Dissens, Stichwort: NSA, den ich auch für grundsätzlich halte. Eine amerikanische Praxis in diesem Bereich, also Geheimdienstaktivitäten im Ausland auch gegenüber Partnern und Freunden, die praktisch darin bestehen, dass alles, was technisch machbar ist, auch politisch und tatsächlich geschieht, das ist viel zu weitgehend. Das ist auch nicht zu akzeptieren. Und darum ist das ein Gebiet, wo es auch einen grundsätzlichen Dissens gibt. Den sollten wir nicht beschönigen, sondern weiter thematisieren, auch auf Veränderung drängen.
Andererseits ist er aber nicht typisch für unser Verhältnis. Wir brauchen einander im transatlantischen Verhältnis. Und das ist das noch Wichtigere als das andere Problem, das wir noch nicht gelöst haben – Stichwort: NSA, was nach meiner Einschätzung nebenbei bemerkt nicht nur eine Frage ist der Abwägung von Freiheit und Sicherheit. Da bin ich zum Beispiel der Auffassung, dass die Amerikaner da unsere Belehrung auch nicht brauchen. Sie haben eine viel ältere Verfassungstradition. Und wenn man sich etwa die Reden, die Barack Obama dazu gehalten hat noch als Senator, durchliest, dann sind sie von einem tiefen theoretischen Verständnis und praktischen Verständnis in dieser Frage geprägt.
Deutschlandradio Kultur: Oder Sendungsbewusstsein.
Norbert Röttgen: Nein, das war vor allem ein Problembewusstsein. Das war kein Sendungsbewusstsein... und (Obama) hat das Thema auch drauf, was die Abwägung von Freiheit und Sicherheit anbelangt...Darum glaube ich, und die Amerikaner haben es verinnerlicht, ja mehr, dass es gar nicht so sehr darum geht, sondern es geht auch darum, dass sich mindestens auch in der Folge des Angriffs von Nine-Eleven auch in der administrativen, in der politischen Architektur der USA eine Macht der Geheimdienste entwickelt hat, die ich für den kritischen Fall halte, die ja auch nun innenpolitisch Gegenstand der Auseinandersetzung ist. Sozusagen der Versuch, hier wieder Kontrollen inhaltlicher, parlamentarischer Art einzuziehen, der findet ja gerade statt. Ich glaube, dass es hier eine große Machtkonzentration innerhalb des Staates gibt. Das halte ich übrigens auch für den eigentlich problematischen Fall.
Diskussion um Snowden-Auftritt keine Erklärung für Rücktritt Binningers
Deutschlandradio Kultur: "Maßlos" hat der Bundesinnenminister dazu gerade in dieser Woche nochmal gesagt.
Norbert Röttgen: Sowohl innenpolitisch wie auch nach außen gerichtet, und es geht um die Wiedererlangung von Maß und Kontrolle.
Deutschlandradio Kultur: Darum kümmert sich ja auch der Bundestag. Es gibt den NSA-Untersuchungsausschuss. Bis vor Kurzem war der CDU-Politiker Vorsitzender desselben, Herr Binninger. Der ist jetzt nur zurückgetreten von seinem Job als Ausschussvorsitzender. Begründung: Die Frage, ob man Herrn Snowden als Zeugen lädt oder nicht ist strittig. – Ist das eine plausible Begründung für so einen Rücktritt?
Norbert Röttgen: Also, ich schätze meinen Kollegen Clemens Binninger sehr. Es ist jetzt nichts passiert in der Zwischenzeit, was sozusagen zur Verwunderung geführt hätte. (Vielmehr gibt) es jetzt auch eine innenpolitische Auseinandersetzung darüber: Wie gehen wir mit dem Zeugen Snowden um? Was bedeutet das auch für unser Verhältnis zu den USA? – und andere Fragen. Man könnte auch sagen: Wie viel innenpolitische Taktik wird nun angewendet in einer grundsätzlichen Thematik auch im transatlantischen Verhältnis, obwohl, das wäre eine andere Formulierung. – Das ist jetzt keine Verwunderung. Dass die Opposition, die ja von der Mehrheit über die Regel hinaus alle Minderheitsrechte zugestanden bekommen hat, von diesen Rechten auch Gebraucht macht, auch unter parteipolitischen und taktischen Gesichtspunkten, ist keine Überraschung.
Darum kann ich noch zu der Entscheidung von Clemens Binninger, nach so kurzer Zeit den Vorsitz niederzulegen, selber noch nichts sagen. Jedenfalls ist aus meiner Sicht nichts passiert, was überraschend gewesen wäre – vielleicht unerfreulich, aber nicht überraschend.
Deutschlandradio Kultur: Aber ein Herr Snowden, der hier einreist, freies Geleit erhält und in ein Land seiner Wahl wieder ausreisen könnte, das ist doch eine Ohrfeige für die Vereinigten Staaten.
"Snowden ist nur ein Thema im transatlantischen Verhältnis"
Norbert Röttgen: Diese Vorgehensweise hätte sowohl völkerrechtliche, was Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland anbelangt, als auch außenpolitische Implikationen. Darum finde ich übrigens auch den Fall zu wichtig, zu ernst, und zwar auch außenpolitisch, als dass wir hier parteipolitische Spiele und Interessenverfolgung zulassen dürfen.
Nochmal: Der Fall NSA, dem messe ich grundsätzliche Bedeutung zu, aber er ist ein Bereich. Und wir würden einen schweren Fehler machen, einen schweren Fehler, wenn wir zulassen würden, dass dieses eine Problemthema charakterisierend, bestimmend würde für das transatlantische Verhältnis. Wir haben ganz andere Themen, Herausforderungen. Und wir brauchen in dieser interdependenten, vernetzten, gefährdeten, unregierten Welt – glaube ich – den Westen, um sich für unsere Werte und Interessen von Rechtsstaat, Demokratie usw. einzusetzen. Darum bin ich absolut dagegen zu beschönigen auf der einen Seite, aber diesen Konflikt auszuweiten, das ist gegen unsere Interessen.
Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank für das Gespräch.
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