Herrscher und Beherrschte

Tyrannen ohne Zukunft

Nero während des Brandes von Rom, abgebildet in einem historischer Stich von 1888
Nero während des Brandes von Rom. Seine übermenschliche Macht erhält der Tyrann ausgerechnet von denen, die er beherrscht, schrieb Étienne de la Boétie. © picture alliance / Bildagentur-online/Sunny Celeste
Ein Kommentar von Sieglinde Geisel · 11.03.2022
Wie ist es möglich, dass die halbe Welt unter den Ambitionen eines einzelnen Menschen leidet, der genau betrachtet gar nicht so mächtig sein müsste? Das fragt sich die Publizistin Sieglinde Geisel und findet Auskunft in einer 500 Jahre alten Schrift.
Fast die ganze Welt hat er gegen sich, und doch hat niemand auf dieser Welt mehr Macht als er, dem nichts heilig ist. Er droht der ganzen Welt mit dem Untergang. Wie könne es sein, „dass so viele Menschen, so viele Städte, so viele Nationen öfters einen einzigen Tyrannen dulden können, der nicht mehr Macht hat, als man ihm gibt?“, so fragte sich ein junger Mann im Jahr 1550.

Der Tyrann, ein Scheinriese

Étienne de la Boétie war ein Freund Michel Montaignes, der ihm mit seinem Essay „Von der Freundschaft“ ein Denkmal gesetzt hat. „Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft“ lautet der Titel von Étienne de la Boéties Aufsatz, der davon handelt, dass auch der mächtigste Herrscher nichts weiter ist als ein ganz gewöhnlicher Mensch. „Der Mensch, der mit euch so herrisch umgeht, hat nur zwei Augen, nur zwei Hände, einen Leib und alles andere wie der Geringste unter den Tausenden von Einwohnern unserer Städte“. De la Boétie beschreibt den Tyrannen als einen Scheinriesen: kein Herkules, sondern ein Wicht, „der nur allzu oft der feigste und weibischste unter der ganzen Nation ist“, so in der Übersetzung aus dem Jahr 1912.

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Seine übermenschliche Macht erhält der Tyrann ausgerechnet von denen, die er beherrscht. Deshalb können sie ihm diese Macht auch wieder nehmen – und erst noch ohne jedes Blutvergießen: „Er ist gestürzt, sobald das Land nicht mehr einwilligt, sein Sklave zu sein.“ Je mehr Tyrannen ungehindert zerstören und vernichten können, und je mehr Menschen ihnen dienen, desto stärker werden sie, sobald ihnen jedoch niemand mehr gehorcht, verdorren sie, „gleich der Pflanze, welcher man die Feuchtigkeit und Nahrung entzogen hat“.

Unblutige Entmachtung – nur ein Gedankenmodell

Wie wohltuend sich das liest, wie einleuchtend die Logik dahinter erscheint! Wie sehr möchte man, dass es so einfach ist. Wir alle wissen, dass die Wirklichkeit eine ganz andere ist. Das Problem beginnt schon damit, dass die Untertanen erst einmal die Absicht haben müssen, den Gehorsam aufzukündigen. Die unblutige Entmachtung der Herrscher durch die Beherrschten ist nur ein Gedankenmodell, das wusste auch Étienne de la Boétie.
Man darf die Rechnung nicht ohne die Schergen machen. Immer gebe es fünf oder sechs, die dem Tyrannen zu Dienste seien: „Diese sechs haben wieder sechshundert Kreaturen unter sich, und diese sechshundert haben wieder sechstausend in ihrer Abhängigkeit.“ Und so weiter.

Der Tyrann nährt sich von der Angst

Am grausamsten sind jene Tyrannen, die nicht durch Erbfolge oder einen gewaltsamen Umsturz an die Macht gekommen sind, sondern von ihrem Volk gewählt wurden. Weil ein gewählter Tyrann von seinem Volk abhängig ist, muss seine Untertanen umso mehr knechten. Er muss sie erstens von ihrer Freiheit so gründlich entfremden, „dass sie endlich die Freiheit ganz vergessen“. Und nicht nur von der Freiheit muss er sie entfremden, sondern zweitens auch von der Wirklichkeit: Wenn die Untertanen seine Märchen glauben, kann er machen, was er will. Dazu kommt als Drittes die Angst: von ihr ernährt sich jeder Tyrann. Deshalb fürchtet er nichts so sehr wie die Furchtlosigkeit seiner Untertanen, seien es Teenager oder unerschrockene alte Frauen.
Ein Tyrann ist ein Mensch, der weder liebt noch geliebt wird, so schreibt Étienne de la Boétie, einer, „der aus Mangel eigener vernünftiger Selbstliebe sein eigenes Land und dadurch sich selbst zugrunde richtet“. Die Tyrannen in Shakespeares Dramen sind ausnahmslos dem Untergang geweiht, denn sie haben kein Konzept für Zukunft. Doch genau das ist es, was sie so gefährlich macht.

Sieglinde Geisel studierte in Zürich Germanistik und Theologie und arbeitet als freie Journalistin. Sie ist für verschiedene Medien als Literaturkritikerin, Essayistin und Reporterin tätig und lehrt an der Freien Universität Berlin sowie an der Universität St. Gallen. Geisel ist Gründerin von „tell – Onlinemagazin für Literatur und Zeitgenossenschaft“ und schreibt dort regelmäßig.

© Deutschlandradio / Melanie Croyé
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