Ukraine

Euro-Maidan scheitert an Reformangst

Von Aleksandr Nowikow · 17.08.2015
Die Ukraine braucht dringend Wirtschaftsreformen – doch kein einziger Minister hat diese Aufgabe in die Hand genommen. Die Angst der Politiker gegen Korruption und Monopole vorzugehen sei groß, sagt der Völkerrechtler Aleksandr Nowikow. Stattdessen setzten die Politiker auf Populismus.
Unerbittlich vergeht die Zeit für die Ukrainer. So romantisch der Euro-Maidan begann, so tragisch wird er nun Vergangenheit. Semen Glusman, ein Systemkritiker, der noch aus der sowjetischen Epoche bekannt ist, brachte es kürzlich auf den Punkt: "Die Regierung hört uns nicht". Immer noch nicht, muss man hinzufügen.
Dabei hatte Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk frühzeitig versprochen, dass er lieber eine "Kugel in die Stirn" bekommen, als von jenen Forderungen abweichen wolle, welche die damalige Opposition auf dem Maidan-Platz im Zentrum Kiews und im ganzen Lande formuliert hatte. Das Versprechen im Stile eines Kamikaze hat bislang nichts bewirkt, denn er scheint der Herausforderung nicht gewachsen zu sein.
Europäische Verfassung teilt Gewalten
Gewiss, seit dem Mai 2014 ist ein neuer Präsident und ein neues Parlament gewählt worden. Das Verfassungsmodell wurde zugleich europäischer. Es schwächte die Rolle des Staatsoberhauptes und stärkte den Einfluss der Volksvertreter – und dadurch den der Regierung.
Auch den nächsten Schritt legt die Verfassung fest: Die Regionen sollen mehr Rechte und mehr Finanzmittel erhalten. Das Land will sich künftig föderal verwalten. Zudem soll dieses Konzept helfen, den Konflikt im Osten der Ukraine beizulegen. Unter dem Druck des Krieges war es bereits gelungen, die Armee wieder handlungsfähig zu machen, oft tatkräftig unterstützt von den Familien der Soldaten.
Und schließlich wurde die galoppierende Inflation eingefangen. Jedoch – und da setzt die Enttäuschung ein – der Staat ist in Finanznot und die neugewählte Regierung hat bisher keine ausführliche, allen verständliche Wirtschaftsreform entworfen. Eigentlich gibt es niemanden, dessen Auftrag dies ist, der als Minister Reformen persönlich verantworten soll.
Alte Strukturen lähmen Reformeifer
Leszek Balcerowicz, der polnische Wirtschaftswissenschaftler, wird bei seinen Besuchen in Kiew nicht müde zu mahnen, dass die Liste dessen, was zu tun ist, aus den erprobten Programmen der Nachbarländer gut bekannt ist und schnell umgesetzt werden müsse.
Es liegt wohl nicht daran, dass Arsenij Jazenjuk und seine Minister dies nicht wüssten. Dass sie dennoch so unentschlossen wirken, ist eher mit der Angst zu erklären, schlagartig die ukrainischen Spielregeln zu ändern, gegen die Korruption, die Monopole und das Plündern der Ressourcen vorzugehen.
Und diese Angst mag ferner erklären, warum die Staatsanwaltschaften noch nicht begonnen haben, in all jenen Fällen aus der Ära des geflohenen Ex-Präsidenten Janukowitsch zu ermitteln, in denen Günstlingen, Ministern und Mitarbeitern des Staatsapparates vorgeworfen wird, Unrecht begangen zu haben. Von Verhaftungen geschweige denn Prozessen war bislang nichts zu hören.
Es waren Unternehmer, Intellektuelle und Studenten, die sich auf dem zentralen Platz der Hauptstadt dafür einsetzten, dass die Ukraine sich nach Standards entwickelt, wie sie überall in Europa üblich sind. Doch anstelle von Reformen bekommen sie von den Politikern Populismus geboten. Die Konkurrenz ist hart. Vor den Regionalwahlen im Herbst schießen Parteien wie Pilze aus dem Boden.
Rechter Populismus ersetzt Maidan
Weil die Allergie gegen alles Linke unvermindert stark ausgeprägt ist, geben sich sie politisch vorwiegend rechts. Was sie aber nicht hindert, einen wirtschaftlichen Bolschewismus zu vertreten. Und so erleben die Anhänger des Euro-Maidan, dass eine zögerliche Regierung die enttäuschten Wähler jenen Populisten in die Arme treibt, die vor allem falsche und alte Rezepte zu bieten haben.
Ausgerechnet der umstrittene rechte Sektor kann sich nun zum Gralshüter des Maidan, zum Ordnungsfaktor, zum Anwalt des alten wie des neuen Bürgerprotestes aufschwingen, weil den Oppositionellen, die zu Regierenden wurden, der Mut zu Reformen auf halbem Wege abhandengekommen ist.
So allerdings wird sich die Ukraine nicht im europäischen Geist erneuern. So wird vom Maidan nur ein kurzer romantischer Traum in Erinnerung bleiben.
Aleksandr Nowikow, Jahrgang 1982, ist Völkerrechtler und Dozent an der Nationalen Juristischen Akademie "Jaroslaw Mudry" in Charkiw. Sein Forschungsschwerpunkt sind Verfassungsänderungen in den postsozialistischen Staaten, so schrieb er seine Doktorarbeit über den "Rechtlichen Status des Präsidenten von Polen".
Aleksandr Nowikow, ukrainischer Rechtswissenschaftler, Professor an der Nationalen Juristischen Universität "Jaroslaw Mudry" in Charkiw
Aleksandr Nowikow© privat
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