Ugo Bardi: "Der Seneca-Effekt. Warum Systeme kollabieren"

Wie das Ökosystem kippen könnte

Ugo Bardi: Der Seneca-Effekt. Warum Systeme kollabieren und wie wir damit umgehen können
Ugo Bardi: Der Seneca-Effekt. Warum Systeme kollabieren und wie wir damit umgehen können © oekom Verlag
Von Bodo Morshäuser · 13.01.2018
Wie lange dauert es noch bis zum Zusammenbruch der Erde? Diese Frage versucht der Chemiker Ugo Bardi in seinem Buch zu beantworten. Auch versucht er zu ergründen, aus welcher Richtung die größte Gefahr droht: Der CO2-Ausstoß? Oder die Ölförderung?
In diesem Bericht an den Club of Rome geht es um so unterschiedliche Dinge wie Finanzwirtschaft, Lawinen und Luftballons. Ihre Gemeinsamkeit: Es sind komplexe Systeme. So nennt man Netzwerke aus Knoten und Verbindungen, egal ob physikalischer, biologischer oder ökonomischer Art. Facebook ist ein Netzwerk, der menschliche Körper ist eines, und die Biosphäre dieses Planeten ebenso. Netzwerke sind so geschaffen, dass sie Spannungen abfedern. Gelingt das nicht mehr, bringt ein Baustein den anderen zum Umfallen. Diesen Systemkollaps nennt Bardi den Seneca-Effekt.
"Kollaps ist eine Eigenschaft und kein Defekt des Systems. Er ist das Werkzeug, das vom Universum genutzt wird, um das Alte zu beseitigen und Platz für Neues zu schaffen."
Der Autor ist Chemiker. Er versucht die Frage zu beantworten, wie das komplexe System Erde und seine Biosphäre in Zukunft reagieren, wenn sie noch mehr strapaziert werden. Wie würde ein Zusammenbruch ablaufen? Wie könnte eine Rettung aussehen? Wie kann Leben auf dem Planeten erhalten werden? Wie weit ist das gestresste Lebewesen Erde von dem Kipppunkt entfernt, der eine Kaskade sich selbst verstärkender Rückkopplungen entfesselt, die das System wie ein Feld kippender Dominosteine kollabieren lassen?

Kollaps ist unausweichlich

Bardis These ist von einer knappen Bemerkung des Stoikers Seneca abgeleitet und lautet: Komplexe Systeme wachsen langsam und brechen unverhältnismäßig schnell zusammen.
"Zusammenbrüche finden einfach statt und in manchen Situationen kann es hilfreich sein, sie zu befördern oder zuzulassen. Der gesteuerte Zusammenbruch einer überholten Struktur kann den Wandel erleichtern, der ohnehin unvermeidbar ist."
Ugo Bardi illustriert seine These am römischen Imperium und führt dessen rasanten Untergang auf die zu spät erkannte Erschöpfung der Gold- und Silberminen zurück – auf ihnen basierte das römische Finanzsystem. Eine Kettenreaktion legte in kurzer Zeit alle gesellschaftlichen Bereiche lahm. Eine Kettenreaktion ähnlicher Art führte 2008 erst zur Finanz- und dann zur Staatsschuldenkrise, die noch nicht beendet ist. Auslöser war das Misstrauen von Investoren, die große Summen aus ihren Banken abzogen.

Der Moment ist nicht vorhersagbar

Möglicherweise erleben wir zur Zeit sogar den Seneca-Effekt, und zwar ausgehend vom Finanzsektor. Wir wissen es nicht. Der Seneca-Effekt, so Bardi, sei zwar mit Sicherheit zu erwarten, der Zeitpunkt seines Eintreffens jedoch nicht vorhersagbar. Aber bis zum Kipppunkt leisten Systeme Widerstand gegen einen Zusammenbruch, sie sind belastungsfähig und selbsterhaltend, sie sind resilient.
"Das Ökosystem der Erde (oder 'Gaia') ist nicht nur ein Meister der Resilienz, sondern auch der Erholung von Katastrophen. Es existiert seit nunmehr fast vier Milliarden Jahren und hat alle möglichen Katastrophen – von der Verwandlung der Erde in ein Treibhaus bis zu ihrer fast vollständigen Umhüllung mit einem Eispanzer – über sich ergehen lassen müssen. Es hat Asteroideneinschläge und gewaltige Vulkanausbrücke überlebt... Gaia erlitt große Verluste und kam dennoch immer wieder auf die Beine und konnte ein neues blühendes Ökosystem aufbauen, auch wenn dies mitunter Millionen Jahre dauerte."
Über die Zukunft des Planeten, wie wir ihn kennen, entscheidet das Zusammenspiel von fünf Faktoren: die Energieressourcen, die industrielle Produktion, das Ausmaß an Umweltverschmutzung, die vorhandenen Nahrungsmittel und die Zahl der Erdbevölkerung. Geraten diese Faktoren aus dem Gleichgewicht, wird laut Bardi der Seneca-Effekt einsetzen. Ein kollabierendes Teilsystem wird die anderen mit sich reißen. Ohne Energie keine Produktion, ohne Produktion keine Nahrungsmittel, ohne Lebensmittel kein Leben, ohne Leben keine Produktion.

Viele mögliche Auslöser

Und Bardi benennt einige Ansätze des Gleichgewichtsverlusts. Seit Millionen Jahren nimmt die Solarstrahlung zu. Damit die Temperatur auf dem Planeten konstant bleibt, verringert sich in gleichem Maß die natürliche CO2-Konzentration in der Luft. Durch den menschengemachten zusätzlichen CO2-Ausstoß droht dieses natürliche Gleichgewicht aus dem Lot zu geraten. Die Folge ist möglicherweise ein Temperaturkollaps, der den Kollaps sämtlicher Systeme nach sich ziehen würde.
Oder wird es die Ölförderung sein, die den Seneca-Effekt auslöst? Aussagen über Ölvorkommen sind so lange ohne Aussagekraft, wie die Kosten der Ölförderung nicht eingerechnet sind. Schon lange steigen die Kosten der Förderung und ab einem gewissen Kipppunkt - den noch keiner kennt - wird sie wirtschaftlich sinnlos sein. Dann gilt: Ohne Öl keine Produktion, ohne Produktion keine Nahrung und so weiter.
"Ein echtes Ökosystem ist, wie die Realwirtschaft, kein Ort, an dem Interaktionen nur paarweise stattfinden, etwa zwischen Verkäufer und Käufer, wie es die Grundidee der wirtschaftlichen Ordnung vorsieht. Das System ist vielmehr vernetzt und was ein Käufer tut, beeinflusst alle Käufer und alle Verkäufer. Stark vernetzte Systeme neigen zu Schwankungen und Zusammenbrüchen. Und genau das beobachten wir in realen Ökosystemen ebenso wie in der Weltwirtschaft."

Nicht immer schlüssig argumentiert

Und wie sieht es mit dem Ökosystem dieses Buches aus? Einige Kurzschlüsse fallen auf. Der syrische Bürgerkrieg brach nicht aus, weil die Erdölförderung keine Überschüsse mehr abwarf. Vielmehr zogen sich nach Ausbruch des Bürgerkriegs ausländische Förderfirmen aus Syrien zurück, worauf die Produktion einbrach. Und die iranische Revolution von 1979 war nicht Reaktion auf ein Ende der Ölreserven. Der Iran ist nach wie vor der sechstgrößte Ölproduzent der Welt. Die damalige Produktionslücke ist auf den Regimewechsel zurückzuführen und nicht umgekehrt. Solche Ungenauigkeiten trüben den Blick auf dieses eigentlich lehrreiche Buch, das aber doch lesenswert ist.
Allerdings: die Schlusskapitel, in denen es darum geht, wie Zusammenbrüche zu verhindern sind oder wie ein Systemkollaps produktiv genutzt werden kann, wirken blass und unmotiviert. Dazu passt, dass das Buch mit stoizistischen und buddhistischen Sinnsprüchen endet. Wobei: Den letzten kann man auf das Buch selbst anwenden:
"Mache den besten Gebrauch von dem, was in deiner Macht liegt, und nimm den Rest gelassen hin."

Ugo Bardi: Der Seneca-Effekt. Warum Systeme kollabieren und wie wir damit umgehen können
320 Seiten, 25 Euro
oekom verlag

Mehr zum Thema