Übertriebene Empfindsamkeit

Wenn Individuen nur noch um sich selber kreisen

04:36 Minuten
Ein Illustration zur Selbstliebe: Eine Figur nimmt sich selbst in den Arm.
Die Empfindsamkeit ist eine zivilisatorische Errungenschaft, doch sie geht zunehmend mit egoistischen, einfordernden Haltungen einher, sagt Astrid von Friesen. © imago images/viennaslide
Ein Kommentar von Astrid von Friesen · 16.09.2021
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Es scheint paradox zu sein, wenn eine Gestalt- und Trauma-Therapeutin wie Astrid von Friesen sich über zu intensive Empfindsamkeit echauffiert. Doch permanente Selbstbeschäftigung hat einen hohen Preis, meint sie.
"Wir haben nun seit 100 Jahren Psychotherapie und Psychoanalyse, die Menschen werden immer empfindsamer, und die Welt geht immer mehr vor die Hunde." Das konstatierte der amerikanische Psychotherapeut James Hillman schon vor 20 Jahren, und die weitere Entwicklung gibt ihm Recht. Wir leben in einer empfindlichen und verrohten Zeit.
Dabei war die Hinwendung zu Sensibilität und Gefühligkeit einmal eine gute, eine notwendige Sache.
Die "Epoche der Empfindsamkeit" war eine zivilisatorische Errungenschaft um 1800, zelebriert in der Literatur der Romantik, um die Gesellschaft für das Innenleben zu sensibilisieren. Kontrastiert und ergänzt durch Immanuel Kant, der Wissen, Einsicht, Vernunft betonte, wozu Klarheit und Verlässlichkeit gehört. Auch kam es nach 1950, nach den Erfahrungen mit Totalitarismus und zwei Weltkriegen sowie dem Fokus auf Massenbewegungen, zu einer signifikanten Steigerung der Sensibilität für individuelles Leid und Menschenrechte.

Sensibilität ist nicht gleich Einfühlung in andere

Seitdem wächst unsere Sensibilität, oftmals bis zur Selbstdiagnose von Hypersensibilität. Eine Paradoxie: Diese ist weder unbedingt verknüpft mit Einfühlung in Andere noch für die Notwendigkeiten, Wertschätzung und Stabilisierung der Gesamtgesellschaft, vielmehr mit zunehmend egoistischen, einfordernden Haltungen.
Wenn Ratgeberliteratur, Coaches und Therapeutinnen die Ratsuchenden als Opfer ihrer Eltern sowie ihrer Kindheitsumstände bestätigen und sie nicht zu dem emotionalen Quantensprung befähigen, die Geworfenheit der Eltern-Schicksale zu würdigen, kann weder erwachsene Versöhnung, erlösende Dankbarkeit ihnen gegenüber noch mit sich selbst stattfinden: Das bewirkt ein Verharren in der Opferposition selbstgerechter Kinder, voll diffuser Wut. Ein Merkmal von Narzissten: Nur das Ich ist bedeutsam, weder die eigene Gruppe noch der Mitmensch noch das Funktionieren von Kultur und Gesellschaft, die dann langsam vor die Hunde geht.
Auf dem Gefühlsmarkt von Yoga, Achtsamkeit und Energiearbeit sowie durch die Überflutung von medial induzierten, zunehmend hysterischen Gefühlslagen geht es um den individuellen Selbst- und Glücksoptimierungswahn, jedoch immer weniger um die ursprüngliche Aufgabe von Psychotherapie, nämlich psychiatrisch wirklich Kranke zu begleiten und Neurotiker zu befähigen, sozial aktive, integrierte und verantwortungsbewusste Mitmenschen zu werden.

Gefühligkeit allerorten

Sogar bezogen auf Kriminalität geht es um Gefühligkeit, denn die "gefühlte Kriminalitätsangst" hat oftmals wenig mit der statistisch real vorhandenen Gefährdung zu tun, ebenso wenig die "gefühlte Überfremdung" durch den Islam. Bezogen auf Umweltfragen bezeugten 171 Studien aus 56 Ländern, dass streng konservative Menschen an den Klimawechsel einfach nicht glauben, als sei dies eine Gefühlsfrage. Ebenso sind Wahlentscheidungen extrem stark von Empfindungen abhängig.
Wie so oft: Aus einer Tugend entwickelt sich eine Untugend! Ja, es war ein Menschheitsfortschritt, sich überhaupt in Babys einzufühlen, in Geknechtete, in Misshandelte, in arme und hungernde Menschen. Doch wenn das sich ach so individuell gebende Individuum nur noch in sich selbst einfühlt, wenn verwöhnende und lebensbehindernde Helikopter- oder Schneeflug-Eltern ihren Kindern weder Dankbarkeit, Haushaltsmithilfe noch Disziplin abverlangen, agieren Erwachsene unsensibel gegenüber Mitgeschöpfen, dann wird vor lauter Selbst-Empfindsamkeit die soziale Welt wirklich "vor die Hunde gehen".

Astrid von Friesen, Diplom-Pädagogin, Gestalt-, Paar- und Trauma-Therapeutin in Dresden und Freiberg, Supervisorin, Journalistin und Publizistin, unterrichtete 20 Jahre an der TU Bergakademie Freiberg. Ihre beiden letzten Bücher mit Gerhard Wilke: "Generationen als geheime Macht - Wechsel, Erbe und Last" (2020) sowie "Die Macht der Wiederholungen: Von quälenden Zwängen zu heilenden Ritualen" (2021).

Astrid von Friesen
© dpa / picture alliance / Matthias Hiekel
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