Überseestadt an der Weser

Wie in Bremen ein neues Viertel entsteht

12:14 Minuten
Der Weser-Tower in der Bremer Ueberseestadt bei Abenddaemmerung.
In der Überseestadt treffen Sozialbauten auf hochpreisige Wohnungen – und das ist so gewollt. © imago/Torsten Krueger
Von Felicitas Boeselager · 18.10.2019
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Anfang der 2000er als reines Luxus-Quartier geplant, ist die Überseestadt heute ein vielfältiges Viertel, das auch sozialen Projekten Raum bietet. Der neue Bremer Stadtteil ist seinen Kinderschuhen entwachsen – und steckt nun mitten in der Pubertät.
"Die Überseestadt ist ein neuer Stadtteil Bremens, der entsteht auf ehemaligem Hafengelände. Und das in einer Art und Weise, die nicht ganz alltäglich ist", sagt der Tourguide. Wer in den rot-weißen Stadtmusikanten-Express steigt, um die Bremer Überseestadt zu besichtigen, macht eine spezielle Sightseeingtour. Schließlich wird hier eine Baustelle besichtigt.
Die Überseestadt in Bremen gilt als das größte Städtebauprojekt in Europa und ist der Bremer Tourismuszentrale so viel wert, dass sie eine eigene Tour dorthin anbietet. 1998 entstand der Plan hier ein neues Quartier zu entwickeln. Andreas Heyer von der Wirtschaftsförderung Bremen hat im Jahr 2009 die Projektkoordination übernommen und erinnert sich an die Anfänge:
"Wo ein Kollege von mir mit mir an so einem trüben Tag rausfuhr und ich ganz viel grüne Wiese, mit leicht tiefhängenden Wolken sah, dachte ich: Das wird eine Herausforderung. Da standen auch noch ältere Gebäude. Dann nahm das nach und nach immer mehr Fahrt auf."
Heute werden die wilden Wiesen in der Überseestadt zu ordentlichen Grünflächen angelegt für die rund 2.400 Menschen, die hier inzwischen hingezogen sind. Wenn alles fertig ist, dann soll das neue Viertel 6.000 Einwohner zählen. Aber es bietet auch viel Platz für Gewerbe, 16.000 Menschen arbeiten hier jetzt schon.
Mit der Touristenbahn geht es die Weser entlang Richtung Überseestadt, in zehn Minuten gelangt man von der Innenstadt hierhin.

Ein Hostel im verlassenen Silo

"Seit 2017 ist Kellogg's Geschichte in Bremen, das Grundstück ist verkauft." Schon von weitem ist das alte Kellogg-Silo mit dem markanten roten Schriftzug zu erkennen, das zu einer Art Wahrzeichen der Überseestadt geworden ist. Es war ein harter Schlag für die Stadt, als Kellogg seinen Standort hier schloss, jetzt versucht man das Beste daraus zu machen.
Das ehemalige Kellogg-Areal liegt direkt am Weserufer und hat den Charme eines alten Industriestandorts. Der private Investor dieses Areals plant hier ein CO2-neutrales Quartier. Mit 1200 zusätzlichen Wohnungen, Schulen, Kitas und einem Hostel in dem verlassenen Kellogg-Silo. Noch ist davon wenig zu sehen. Ein Vorbote des neuen Wohnkonzepts ist die sogenannte Gemüsewerft an der Spitze des Geländes.
Michael Scheer von der Gemüsewerft öffnet das schwere Gittertor und zeigt auf allerlei Gemüse in Hochbeeten. "Das ist das Ergebnis von Leuten, die von uns was haben wollen. Ich habe nicht gewusst, was Cola-Rauke ist. Das riecht wie ein Kaugummiautomat. Und das riecht wie Cola. Dann wollten wir Tee sozusagen auf eine andere Art und Weise verkaufen, deswegen haben wir Nana-Minze. Dann die ganzen Klassiker: Salbei, Lavendel, alles Bio. Wir sind ab Ende des Jahres biozertifiziert."
Die Gemüsewerft ist ein Stadtgartenprojekt mit drei Standorten in Bremen. Daher auch der Name "Werft", sie entstand ursprünglich auf einem alten Werftgelände. Auch der neue Ableger in der Überseestadt liegt am Wasser: "Wir haben 80 Meter Weserufer, 2.000 Quadratmeter, das ist schon innerstädtisch eine echte Kampfzone hier. Immobilienwirtschaftlich sind wir wirklich nicht interessant, aber wir sind ideologisch interessant und diese Fläche hier ist meiner Meinung nach der schönste Platz auf dem Kellogg-Areal."

Ein Hochbeet als politische Botschaft

Außer Gemüse wächst in den Hochbeeten auch Hopfen in die Höhe. Damit beliefern Scheer und sein Team eine lokale Brauerei, die später auch auf das Areal ziehen soll. Zwischen den Hochbeeten steht ein gelber Waggon einer ausrangierten Straßenbahn, hier finden Teambesprechungen, aber auch Veranstaltungen für Besucher statt. Die Gemüsewerft ist ein sozialer Träger, erzählt Scheer: "Bei mir arbeiten Menschen mit Behinderung, seelisch, geistig, psychisch und alles dazwischen."
Ein Hochbeet sei auch immer eine politische Botschaft, sagt Scheer, auch darum freut ihn der prominente Standort so. Als nächstes will er hier einen Biergarten mit 120 Sitzplätzen direkt an der Weser eröffnen. Neben den vielen, modernen Restaurants, die in der Überseestadt entstanden sind, soll auch er mehr Menschen in den neuen Stadtteil locken. "In dem Abschnitt, den wir im hinteren Teil hier haben, wird gerade eingezogen. Das ist gerade frei, das ist das sogenannte Blauhaus."
Hopfen in Hochbeeten.
Der Hopfen aus der Überseestadt wird an eine Brauerei verkauft, die bald auch in das Quartier ziehen soll.© Felicitas Boeselager / Deutschlandradio
Weiter geht es in den hinteren Teil der Überseestadt, vorbei an neuen Mehrfamilienhäusern mit großen Balkonen und Blick aufs Wasser, hin zu einem riesigen Gebäudekomplex. Das Blauhaus gilt als Deutschlands größtes inklusives Wohnprojekt. Hier wohnen junge Familien, Menschen mit psychischen Problemen, Menschen mit Behinderung, Normalverdiener, Geringverdiener und Geflüchtete.
"Das ist unser Wohnzimmer. Aber wir haben noch kein Sofa oder so, das braucht Zeit", sagt Hamida Barati und führt durch ihre Wohnung. Es riecht noch neu in den hellen, kaum möblierten Zimmern. Erst vor wenigen Wochen ist sie hier mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern eingezogen. Sie erinnert sich an ihren Einzug: "Ja, das war toll und das Stadtviertel gefällt uns auch sehr."
Vor vier Jahren ist die Familie Barati aus Afghanistan nach Bremen geflohen. Seitdem hat sie in verschiedenen Heimen gewohnt, im Blauhaus hat sie jetzt ihre erste eigene Wohnung gefunden. Obwohl noch längst nicht alle Wohnungen bezogen sind, scheint das Konzept der nachbarschaftlichen Hilfe im Blauhaus aufzugehen. "Sie sind sehr nett, wenn ich Hilfe brauche, dann helfen sie mir, sie sind sehr nett."

Sozialbauten und hochpreisige Wohnungen

In der ersten Planungsphase der Überseestadt spielten Sozialbauten oder bezahlbarer Wohnraum weder wirtschaftlich noch gesellschaftlich eine Rolle. Damals hatte man vor allem die lukrative Lage am Wasser vor Augen und wollte hier hochpreisige Wohnungen anbieten. Das habe sich in den vergangenen Jahren aber sehr geändert, erzählt Andreas Heyer von der Wirtschaftsförderung Bremen:
"Wenn wir uns aber die Baukostenentwicklung angucken in Deutschland generell, wie viel ich benötige, damit ich so einen Wohnbereich entwickeln kann, dann brauche ich von allem etwas. Wenn ich es nicht höherwertig entwickeln kann, dann wird es mir nicht gelingen, einen etwas geringeren Mietzins zu verlangen für ein gesamtes Objekt. Und deshalb wird es diese Durchmischung. Nicht nur für arm, nicht nur für reich, sondern es wird für Menschen da sein, die nur 6,80 Euro zahlen können, manche, die Wohnraum suchen für 8,50 Euro, für 9,50 Euro. Und für Menschen, die auch bereit und in der Lage sind, 15 bist 16 Euro zu zahlen. Weil ansonsten lässt sich bauwirtschaftlich kein Objekt mehr herstellen."
So wohnen inzwischen viele unterschiedliche Menschen in dem neuen Quartier. "Das, was wir hier jetzt auf der rechten Seite haben, das ist der älteste und längste Speicher hier im Hafengebiet", heißt es auf der Sightseeingtour. Der Speicher XI ist ein 450 Meter langes, altes Backsteingebäude. Im hinteren Teil ist die Hochschule für Künste untergebracht und vorne haben ein Museum, ein Restaurant und verschiedene Firmen ihren Sitz.

Unternehmen im neuen Viertel

"Das ist unser Konferenzraum, hier finden unsere Besprechungen statt", sagt Sohrab Mohammad und führt durch seine Firma. Er ist mit seinem jungen Unternehmen vor drei Jahren in das Loft-Büro im Speicher XI gezogen. Von hier aus verkaufen sie Reis im Internet. Die Firma gibt es seit neun Jahren, sie war von Beginn an in der Überseestadt angesiedelt.
"Das ist so krass in der Retrospektive, was hier alles passiert ist. Es wurden überall Straßen gebaut, dann sind überall neue Gebäude hochgezogen worden. Huch, hier steht ja auf einmal ein neues Haus. Sehr, sehr beeindruckend was hier alles zu sehen ist."
Nur wenige Schritte vom Büro entfernt hat Mohammad gemeinsam mit seinem Mitgründer im Jahr 2011 den ersten Reis per Hand verpackt und verschickt. Damals saßen sie in einem Container, in einer kalten Halle im Großmarkt. Heute mieten sie drei dieser Hallen und sind selbst Teil der Erfolgsgeschichte des Stadtteils geworden. Mohammad wohnt auch in der Überseestadt, ist sehr zufrieden hier.
"Es muss sich natürlich in der Praxis noch alles bewahrheiten, es ist ja noch alles relativ neu. Aber es fehlen eigentlich nur noch ein paar Nuancen, dass es da wirklich perfekt wird zu wohnen."

Überseestadt in der Pubertät

Diese Nuancen lassen sich schnell bestimmen: Noch fehlt es hier an Supermärkten und der Verkehr ist ein Problem. Die Menschen, die in der Überseestadt arbeiten, müssen viel Zeit im Stau einberechnen, bis sie ihren Arbeitsplatz erreichen. Das hat verschiedene Gründe: Unter anderem fehlt ein Ringschluss um Bremen herum, aber es liegt auch daran, dass die Überseestadt sich schneller entwickelt hat als erwartet. Jetzt müssen Verkehrsbetriebe und Nahversorger nachziehen, sagt Heyer.
Michael Scheer lehnt in der Tür eines gelben Eisenbahnwaggons.
Das Team der Werft um Michael Scheer trifft sich nicht in einem Schiff, sondern in einem alten Waggon.© Felicitas Boeselager / Deutschlandradio
"Es schon alles final mitzudenken wäre im Nachgang natürlich das Ratsame gewesen, aber man muss sich auch in die Situation versetzen, in der man damals war. Es war ja kein Selbstgänger, solche großen Millionenbeträge zu investieren. Es waren ja alles nur Initiativinvestitionen der öffentlichen Hand gewesen."
Manche sagen, die Überseestadt sei jetzt in der Pubertät angekommen. In drei bis vier Jahren soll schließlich alles bebaut und bezogen sein. Noch wirkt der neue Stadtteil zwar schick, aber eben auch etwas steril. Micheal Scheer von der Gemüsewerft ist genervt von der Diskussion, ob es gelingen kann, dieses Viertel wirklich zu urbanisieren:
"Also ein bisschen müssen die Leute auch selbst dafür sorgen, also immer dieses 'Gib mir was vom Reißbrett und wenn du das nicht gut machst, bist du blöd', das kann ich ehrlich gesagt alles nicht mehr hören. Wenn die Leute was wollen, dann sollen sie sich das holen. Und wenn sie sich das nicht holen wollen, dann sollen sie nicht meckern."
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