Überraschende historische Perspektiven

08.11.2007
Er zählt zu den bedeutendsten deutschen Historikern der Gegenwart. Das Buch, das jetzt von Heinrich August Winkler erschienen ist, enthält 20 Essays zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, die er in den letzten 30 Jahren veröffentlicht hat. Den Abschluss bildet ein Auszug aus seiner Abschiedsvorlesung an der Humboldt-Universität in diesem Jahr.
Historiker machen sich einen Namen, wenn sie große Monographien schreiben, wegweisende Bücher zu einem großen Thema der Geschichtswissenschaft. Heinrich August Winkler ist durch seine im Jahr 2000 erschienene deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts über die Zunft hinaus bekannt geworden. Er zählt heute zu den bedeutendsten deutschen Historikern der Gegenwart. Der Titel seines Werks "Der lange Weg nach Westen" ist ein vielfach verwendeter Begriff für die Schwierigkeiten Deutschlands, eine westliche Demokratie zu werden.

Winkler ist ein sehr medienpräsenter Historiker. Das verdankt er weniger seinen dicken Büchern, sondern mehr noch seiner Fähigkeit, als Essayist über geschichtliche Themen zu schreiben. Das Buch, das jetzt von ihm erschienen ist, enthält 20 Essays zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, die er zwischen 1978 und 2007 veröffentlicht hat. Den Abschluss bildet ein Auszug aus seiner Abschiedsvorlesung an der Humboldt-Universität in diesem Jahr.

Wer die Essays liest, freut sich, dass sie noch einmal in Buchform erschienen sind – denn Winkler versteht es vorzüglich, seine Leser herauszufordern, indem er herkömmliche Sichtweisen über Bord wirft, überraschende Perspektiven aufzeigt und eingefahrene Urteile korrigiert. Die Unfähigkeit der Deutschen, erfolgreich Revolution zu machen, ist ebenso bekannt wie das Versagen des deutschen Bürgertums in der 1848er Revolution. Winkler bezweifelt in seinem Beitrag über diese Revolution, dass man von Versagen sprechen könne – und beschreibt die schwierige Konstellation des Revolutionsjahres, in dem es schließlich "keine realistische Alternative gab".

Umgekehrt beschreibt Winkler, welche Chance die SPD 1919 verpasst hat, im Jahr nach der Novemberrevolution. In einem brillanten Essay geht er der Frage nach, warum die Weimarer Sozialdemokraten damals auf den moralischen Bruch mit dem Kaiserreich verzichteten. Schon im Frühjahr 1919 wussten die regierenden Sozialdemokraten, dass die kaiserlichen Politiker im Ersten Weltkrieg das deutsche Volk "vier Jahre lang systematisch irregeführt" hatten. Es wäre "ein wirklicher republikanischer Neubeginn" gewesen, wenn sich die Sozialdemokraten getraut hätten, diese Wahrheit offen auszusprechen. Sie wagten es nicht – und überließen der Gegenseite das Feld.

Die Dolchstoßlegende konnte ihre Wirkung entfalten – die Behauptung, die Reichswehr habe den Krieg nur deshalb verloren, weil sie durch die revolutionäre Bewegung keine Unterstützung aus der Heimat mehr bekommen habe. Damit verloren die Demokraten die erste große Propagandaschlacht nach der Republikgründung – und hellsichtige Politiker warnten schon damals vor den Folgen.

Winkler zitiert den Linken Gustav Hoch, der auf einem Parteitag den Genossen der Mehrheits-SPD zurief: "Wir haben mit der großen Gefahr zu rechnen, dass eine nationalistische Strömung über uns kommt, was unsagbares Unglück gerade für die Arbeiterschaft, für die sozialistische Republik bedeuten würde. Aber in unsere Hand ist es gegeben: Wenn wir .. ohne Scheu .. der Wahrheit die Ehre geben, .. dann brauchen wir eine nationalistische Strömung nicht zu fürchten."

Doch die SPD hatte nicht den Mut, sich offensiv in diese Auseinandersetzung zu begeben – mit den vorhergesagten fatalen Konsequenzen. Mehrfach stellt Winkler in seinen Beiträgen, in denen er mit besonderer Aufmerksamkeit sozialdemokratische Politik durchleuchtet, einen Mangel an politischem Mut bei der SPD fest. Im Krisenjahr 1923 verabschiedete sich die SPD (immerhin die wichtigste staatstragende Partei der Weimarer Republik) aus der damals regierenden Großen Koalition. Dabei wussten die Parteiführer, dass dann ein Putsch und damit das Ende der Republik drohte. In dieser Situation gab die Partei den Kampf für den Erhalt der Koalition auf, und Winkler kommentiert: "Sie (die SPD) .. entschied sich für den Vorrang der Sozialpolitik." Ein interessanter Satz – wenn man bedenkt, dass die gebeutelte Beck-SPD heute wiederum ihr Heil in einem Rückzug aufs sozialpolitische Feld sucht.

In dem Essayband bekommen die Leser Winklers wichtigste Thesen und Gedanken serviert, die er in seinem Werk über die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelt hat. In dieser knappen Form wird noch einmal deutlich, welch ein scharfsinniger Politikhistoriker er ist – auch wenn er bisweilen Motive (wie die Angst vor dem Bürgerkrieg) überstrapaziert.

"Auf ewig in Hitlers Schatten?", ist der Titel des Buches. Vorsichtig ausgedrückt ergibt sich dieser Titel nicht zwingend aus dem Inhalt der Beiträge. Er bezieht sich auf Winklers Beitrag zum Historikerstreit 1986 (den er selbstkritisch zehn Jahre später noch einmal analysiert) - aber Winkler ist in seinen Beiträgen nicht auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage. Dennoch ergibt sich aus der Lektüre des Buches eine Antwort. Für den Historiker des 19. und 20. Jahrhunderts ist Hitler der Bezugspunkt fast aller Darstellungen. Insofern überschattet Hitler den gesamten Zeitraum, keine Frage.

Rezensiert von Winfried Sträter

Heinrich August Winkler:
Auf ewig in Hitlers Schatten?
Anmerkungen zur deutschen Geschichte

Verlag C. H. Beck 2007