Übermenschen als Wahlkampfhelfer

26.04.2007
Boris Strugatzki wurde mit seinem 1991 verstorbenen Bruder Arkadi zu einem der erfolgreichsten russischen Science-Fiction-Autoren. Sein jetzt auf Deutsch erschienener Roman "Die Ohnmächtigen" liest sich hingegen eher wie eine Mischung aus Fantasy und Politsatire. Darin werden Menschen mit übernatürlichen Kräften für den Wahlkampf in St. Petersburg missbraucht.
Für Menschen mit besonderen Fähigkeiten hat sich die jeweilige "Macht" immer interessiert. Auf jene öffentlich-dekorative Weise, die man bei Verleihungen von Staatspreisen oder Verdienstkreuzen beobachten kann, die aber auch sichtbar wird in ehrwürdigen Institutionen wie Akademien, eigens ersonnen, um "die Macht" mit der gebündelten Weisheit der besonders Befähigten zu beraten.

Der Rationalismus der Aufklärung hat diese "besonders Befähigten" in erster Linie zu Wissenschaftlern werden lassen, aber das war nicht immer so: Es hat Zeiten gegeben, da waren "besondere Fähigkeiten" ein höchst irrationales Privileg. Sie beruhten auf der Gabe, mit dem Übermenschlichen in Kontakt zu treten, mit dem Unerklärlichen, dem Göttlichen, dem Weltgeist oder sonstigen schwer zu definierenden "paranormalen" Gremien und Autoritäten.

Wenn man seit dem Zerfall der Sowjetunion Russland gern als "Absurdistan" bezeichnet hat, dann ist dies genau der Ansatz, dem sich eine nicht unwesentliche Strömung der jüngeren russischen Literatur verdankt. Wo die Entwicklungen einer Gesellschaft sich jenseits aller Vernunft vollziehen, da kann sich auch die Literatur - begriffen als Begleitkommentar solcher Entwicklungen - nicht mehr auf die Ratio stützen. Im Land der großen Realisten (von Tolstoi und Turgenjew bis zu Solschenizyn, Tendrjakow und Trifonow) ist seither die Stunde der Fantasy angebrochen.

Boris Strugatzki, mit seinem 1991 verstorbenen Bruder Arkadi eher als Science-Fiction-Autor bekannt geworden, hat mit dem Roman "Die Suche nach der Vorherbestimmung" so etwas wie seinen Abschied von der rational gestützten Interpretation der Wirklichkeit formuliert. Baruch Spinozas "Ethik" als Versuch, menschliche Affekte und universalen (letztlich göttlichen) Weltenplan "nach geometrischer Methode" zu versöhnen, diente ihm dabei als Folie für die satirische Absage an einen (im konkreten Fall den sowjetischen) Gesellschaftsentwurf, der zumindest vorgab, die Vernunft und ihre Folgerungen zur Grundlage zu haben.

Diese Absage hat sich nun ganz schlüssig in den Roman "Die Ohnmächtigen" verlängert. Denn die hier auftretenden Menschen mit besonderen Fähigkeiten schweben mit ihren Begabungen regelrecht in der Luft des Absurden, des Unfassbaren. Der Hang, die Wirklichkeit im Zusammenhang mit einem gedanklichen oder ideologischen "System" zu interpretieren, ist längst obsolet. Die Begabungen reduzieren sich auf ihr "schamanisches", ihr vorrationales Potential, ohne jeden Bezug auf eine Ideologie, ein System, eine Gesellschaftsordnung.

Der besonders Befähigte, man lese durchaus: der Intellektuelle, wird nicht mehr gebraucht als ein systematisch denkendes Wesen, dessen Erkenntnisse für die sinnvolle Gestaltung eines Gemeinwesens von Nutzen wären, er findet sich vielmehr auf einem absurden Markt wieder, auf dem seine Fähigkeiten mehr schlecht als recht verwertbar sein können. Und verwertbar können sie durchaus sein. Denn wenn einer - wie der Meteorologe Wadim - in den Verdacht gerät, die Wirklichkeit nicht nur vorhersagen, sondern sogar bestimmen, also lenken zu können, dann wird er für "die Macht" und ihre Erwägungen besonders interessant. Zum Beispiel vor den nächsten Gouverneurswahlen in Sankt Petersburg.

Der betroffene Meteorologe ist auf die Attacke, da er im Auftrag eines gewissen "Ajatollah" den Wahlausgang beeinflussen soll - natürlich unter Todesandrohung - ebenso wenig vorbereitet wie seine Freunde, auch sie mit besonderen Fähigkeiten ausgestattet: Einer hat ein fotografisches Gedächtnis, ein anderer kann mit Strömen von Hass Menschen töten, ein weiterer Insekten dominieren. Ihr Plan, den Freund aus der bedrohlichen Schlinge zu ziehen, ihre Lebensgeschichten - die bis zu obskuren Menschenversuchen in der Stalin-Zeit zurückreichen -, die Geschichte ihres "Lehrers", der die in ihnen schlummernden Talente einst entdeckt hat, die halbseidenen Machenschaften von Politikern, Unternehmern, Geheimdienstleuten und konkurrierenden "Schamanen", all das kreuzt sich in diesem Roman zu einem höchst verwirrenden Geschehen, so verwirrend wie die russische Gegenwart.

Wenn es in diesem Roman auch nicht leicht fällt, die Fäden des Geschehens immer sicher zu verfolgen, so entschädigt Strugatzki den Leser mit seiner hohen Erzählkultur. Jedes einzelne Geschehnis wird detailfreudig und mit viel Sinn für Spannung und Atmosphäre geschildert, eine Vielzahl von Zitaten und Anspielungen aus der russischen und der internationalen Literatur lädt den Text gleichsam kulturhistorisch auf.

Zum Autor:
Boris Strugatzki, Jahrgang 1933, wurde mit seinem Bruder Arkadi (1925-1991) zu einem der erfolgreichsten russischen Science-Fiction-Autoren. Die Gesamtauflage des Autorenduos erreichte im Original etwa 40 Millionen Exemplare. Ihre Bücher wurden in rund 30 Sprachen übersetzt. Vor allem die Erzählung "Picknick am Wegesrand", unter dem Titel "Stalker" von Andrej Tarkowski verfilmt, brachte ihnen Weltruhm ein. Nach dem Tod seines Bruders begann Boris Strugatzki 1995 in alleiniger Autorschaft zu publizieren, zunächst den Roman "Die Suche nach der Vorherbestimmung" (dt.: 2004). Der jetzt vorliegende Roman "Die Ohnmächtigen" erschien im Original 2003.

Rezensiert von Gregor Ziolkowski

Boris Strugatzki: Die Ohnmächtigen
Roman. Aus dem Russischen von Erik Simon.
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2007.
340 Seiten, 22,50 Euro.