Überlebenswille und Schaffenskraft

Von Heike Wipperfürth · 03.02.2012
Die Frage, ob das KZ Theresienstadt ein kulturelles Zentrum Europas war, stellt das jüdische Kulturzentrum 92Y in New York. Die kreative Kraft der Lagerinsassen steht fünf Wochen lang im Fokus der Veranstaltungen der Reihe "Will To Create, Will To Live".
Der Pianist wartet schon, noch kurzes Kopfnicken des Sängers, so begegnete das New Yorker Publikum kürzlich der Musik, die Verbindungen zu den Opfern des Naziterrors knüpft. Von der Sehnsucht nach Liebe und Frieden handelt das Lied der in Auschwitz ermordeten jüdischen Tschechin Ilse Weber – verfasst im Konzentrationslager Theresienstadt.

Das Konzert ist Teil der Veranstaltung " Will To Create, Will To Live: The Culture of Terezin,” auf Deutsch " Wille zum Schaffen, Wille zum Leben: Die Kultur von Theresienstadt” die derzeit im 92nd Street Y, einer jüdischen Kulturstätte in New York, stattfindet.

Theresienstadt, ein Durchgangslager zu den Gaskammern von Auschwitz, 60 Kilometer von Prag entfernt, wurde auch "Vorhof zur Hölle” genannt. Doch Konferenzleiterin Hanna Arie-Gaifman, die viele Familienangehörige in Theresienstadt und Auschwitz verloren hat, hat ein anderes Anliegen: Die kulturelle und geistige Kraft der Lagerinsassen – darunter professionelle Schauspieler, Komponisten, Maler und Intellektuelle.

Um ihr künstlerisches Schaffen unter schrecklichen Umständen drehen sich Debatten, Musikabende und Filmvorführungen: fünf Wochen lang. Eine Ausstellung zeigt die Vielseitigkeit des kulturellen Angebots: von Jazzmusik und Kabarett und 2400 Lesungen bis zu Aufführungen der Zauberflöte von Mozart und Verdis Requiem.

Eine einzigartige Welt inmitten der Vernichtungsmaschine der Nazis, sagt Michael Beckerman, Leiter der Musikabteilung der New York Universität:

"Es war ein normaler und ein furchterregender Ort zugleich. Aber ich glaube, man kann sagen, dass Theresienstadt von 1942 bis 1944 das kulturelle Zentrum Europas war. Es gab mehr Kulturangebote, die perverserweise weniger zensiert wurden, als in anderen Teilen Europas."

Für die amerikanische Tänzerin und Tanzhistorikerin Judith Brin Ingber haben die Inszenierungen für Kinder einen besonderen Reiz. Zum Beispiel die Kinderoper "Brundibar". Um die jüngsten Insassen von Elend und Hunger abzulenken, wurde "Brundibar", vom Komponisten Hans Krasa vor seiner Verschleppung nach Theresienstadt verfasst, 50-mal aufgeführt – in Dachstuben und Hofecken.

Vor allem aber imponiert Judith Brin Ingber eine andere Beschützerin: Friedl Dicker-Brandeis. Unterricht wurde mit dem Tode bestraft, doch die Künstlerin turnte mit Kindern und gab Zeichenunterricht, um sie vor Grausamkeiten zu schützen.

Vor ihrer Deportation nach Auschwitz versteckte sie 5000 Bilder ihrer Schützlinge in zwei Koffern, die erst viel später wieder gefunden wurden. Kindern zu helfen habe sie schon vor ihrer Verschleppung nach Theresienstadt geplant, sagt Judith Brin Ingber:

"Sie nahm große Laken, färbte sie grün und braun, damit Kinder im Lager Bäume und Wälder darstellen und improvisierte Auftritte mit Bewegungen machen konnten."

Der Wille zum Aufstand gegen das Böse und die Niedertracht - und der Wille zum Leben und zur Liebe – das ist auch das Hauptanliegen der Konferenzleiterin Hanna Arie-Gaifman:

"Es geht um die Kraft der Kunst für das Überleben. Das Dritte Reich gibt es nicht mehr. Aber das kulturelle Erbe, die Erhaltung der Erziehung und der Darstellung leben weiter."

Die Kultur im Getto wurde von den Nazis missbraucht. Als das Rote Kreuz Theresienstadt einen Besuch abstatten wollte, ließen sie einen Propagandafilm drehen, der das KZ als Paradies für Juden darstellte – von Kurt Gerron, einem inhaftierten Schauspieler und Regisseur. Wenig später wurde er in Auschwitz ermordet, ebenso wie viele Kinder, die er bei der Aufführung der Oper Brundibar gefilmt hat.

Vier Konzerte im 92Y sind so eine Art Potpourri bekannter und unbekannter Kompositionen aus Theresienstadt. Aufgeführt wurde auch ein Streichtrio von Hans Krasa. Der Tanzmusik am Anfang folgt ein Schlaflied - eine Klangszene, die oft in Musikstücken aus Theresienstadt zu hören sei, sagt der Musikprofessor Michael Beckerman.

Ob das Schlaflied ein Geheimcode sei, der Zuhörer auf den Tod als des Schlafes Bruder aufmerksam machen solle, der im KZ allgegenwärtig war, könne er nicht explizit beantworten. Klar sei aber, dass vor allem in späteren Werken geheimnisvolle Nachrichten steckten, die es zu entschlüsseln gelte.

Entschlüsselung sei die einzige Möglichkeit, um das, was die Komponisten mitteilen wollten, zu begreifen, sagt Michael Beckerman:

"Ich glaube, in diesen Stücken spiegelt sich ein bestimmter Ort und eine bestimmte Zeit wieder. Ihr Aufbau, ihre Gestaltung und ihr Standpunkt tun das auch. Die Auswahl, die die Komponisten trafen ist wichtig, wenn wir wissen wollen, was damals geschah."

So lernen wir vielleicht auch, die Terrorzeiten der Vergangenheit nicht noch einmal zu wiederholen.
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