Überlebende Irmgard Sinner aus Lübeck

Vergebung als Lehre aus zwei Diktaturen

Die Hansestadt Lübeck mit der St. Petri Kirche.
Die Hansestadt Lübeck mit der St. Petri Kirche: Hier lebt Irmgard Senner heute. © picture-alliance / dpa / Klaus Nowottnick
Von Stefan May · 12.02.2015
Die Nazi-Diktatur raubte ihr den Vater. Die DDR verpfuschte ihr Leben ein weiteres Mal: Sie kam ins Gefängnis und verlor schließlich ihre Tochter. Heute engagiert sich Irmgard Senner in der Lübecker Nagelkreuz-Gemeinde, der es vor allem um Vergebung geht.
12 Uhr Mittag. Wie jeden Tag erklingt die Orgel zur täglichen Andacht in Sankt Marien zu Lübeck: Ihre Klänge hallen durch die Mutterkirche der norddeutschen Backsteingotik mit ihren leuchtend weiß gekalkten Ziegelsäulen. Und es hallt die Stimme des Pastors, der in einer kurzen Betrachtung auf die im Zweiten Weltkrieg zersprungenen Glocken verweist, die hinten im Kirchenschiff ein Stück Geschichte erzählen und inzwischen Symbole der Nagelkreuzgemeinschaft geworden sind.
Pastor: "Die internationale Nagelkreuz-Gemeinschaft, die community of crossed nails, zu der wir als Mariengemeinde gehören, betet darum jeden Tag weltweit gemeinsam mit zwei Worten, zwei Worten, die alles zum Ausdruck bringen, was Menschen in Erinnerung an alles das Unfassbare bewegt: Vater vergib."
"Vater vergib" lautet das Gebet der Nagelkreuz-Gemeinschaft. Sie nahm nach dem Zweiten Weltkrieg im englischen Coventry ihren Ausgang, das von den Deutschen 1940 zerstört worden war. Nach dem Krieg schickte der Probst von Coventry aus Zimmermannsnägeln geschmiedete Kreuze in jene Städte, die von den Briten bombardiert worden waren – zur Versöhnung der weltweiten Christenheit. Die in zwei Worte gefasste Botschaft und Bitte der Nagelkreuzgemeinschaft "Vater vergib" hat für Irmgard Sinner eine besondere Bedeutung. Sie ist eine von jenen paar dutzend Menschen, die zur Mittagsandacht nach Sankt Marien gekommen sind. Nicht nur, weil sie sich in der Nagelkreuzgemeinschaft, wie in einigen anderen Gemeinschaften, Gruppen und Ehrenämtern engagiert. Vater vergib - das hat für die 86-jährige Frau eine besondere Bedeutung in ihrem Leben. Davon erzählt sie Daheim – was nicht weit entfernt ist.
Andacht in der Gemeinde der Nagelkreuz-Gemeinschaft
Flotten Schritts geht die alte Dame voran, durch die von den beiden Armen der Trave umschlossene Altstadt, an schmalen roten Ziegelhäusern vorbei, mit akkurat gepflegten Gärtchen dahinter, buckeligen Fassaden, die Straßen mit Kopfsteinpflaster säumen. Wir machen Halt vor einem stattlichen Gebäudekomplex an einer Straßenkreuzung: "Stiftung Sankt Johannis-Jungfrauenkloster" steht über seiner Front, dahinter liegt ein fast parkartiger Garten: Ein Wohnhaus "für bedürftige Damen über 50", wie es in den Stiftungsbestimmungen heißt, mitten im Zentrum von Lübeck. Im Hochparterre hat Irmgard Sinner ihre Wohnung. Dort erzählt sie, wie es bei ihr mit der Nagelkreuz-Gemeinschaft begonnen hat.
"Ich bin dazu gekommen durch diesen einen Gottesdienst, den ich eben hier mal, der war am 1. April 2007. Und da war eben der damalige von ganz Deutschland, der die Nagelkreuzgesellschaft, das ist ja wie eine Gesellschaft, nicht… Und der hielt eine Predigt, und die hat mich so angerührt, die Predigt, dass ich danach sagte: Ich geh in diese Nagelkreuzgemeinschaft ´rein, das ist mein Ding: Vergebung."
Vergebung - sie wird der 1928 geborenen Frau früh abverlangt. Die ersten harten Nüsse ihres Lebens hat sie schon in ihrer Jugend zu knacken. Die Familie zieht mit ihrem aus Ostpreußen stammenden Vater Werner Lueben, einem Militärjuristen, an seine Dienstorte mit: Breslau, Königsberg, Torgau. Zum Schluss ist er Generalstabsrichter am Reichskriegsgericht, zuständig auch für Deserteure und Kriegsdienstverweigerer.
"Im Ersten Weltkrieg ist er in Yverdon gewesen, er hat den furchtbaren Feldzug mitgemacht. Und meine Mutter sagt noch, sie haben 1925 geheiratet, er hat noch in diesen, also zehn Jahre, oder fünf, acht Jahre nach dem Krieg, da hat er noch nachts geträumt manchmal davon, also ist aufgeschrien, und seine Freunde sind rechts und links von ihm, also das muss ja eine Materialschlacht gewesen sein – furchtbar. Und da hat mein Vater, glaube ich, dieses: Desertieren war für ihn unmöglich."
Einer, der erst gar nicht hingehen wollte, wo Krieg ist, war der oberösterreichische Landwirt Franz Jägerstätter. 1943 stehen einander vor Gericht zwei hartnäckige Prinzipien gegenüber: Durchhaltegebot und religiöse Überzeugung. Franz Jägerstätter ist ebenso wie sein Richter Werner Lueben mehrfacher Familienvater, Jägerstätter überzeugter Katholik, Lueben überzeugter Protestant. Dennoch fällt Lueben am 6. Juli 1943 das Todesurteil über ihn. Im Jahr 2007 spricht die römisch-katholische Kirche Jägerstätter selig. Sechs Jahre später, 70 Jahre nach seiner Verurteilung, wird am 6. Juli 2013 eine Gedenktafel für Franz Jägerstätter am Reichskriegsgericht in Berlin enthüllt.
Hier wurden zwischen 1939 und 1945 etwa 1400 Todesurteile ausgesprochen. Das imposante Gebäude im wilhelminischen Stil in Berlin-Charlottenburg, zeigt sich inzwischen deutlich verändert: Eine niederländische Investorengruppe hat das Haus zur Hülle für 100 teure Schlosslofts gemacht und vermarktet sie als "schöner mieten am Lietzensee". An jenem heißen Sommertag 2013 steht das Häuflein derer, die zur Enthüllungszeremonie an der Straßenecke gekommen sind, in deutlichem Gegensatz zu den knalligen Sonnenschirmen auf den Balkonen der einstigen NS-Militärjustiz. Auf der Tafel steht zu lesen:
"In diesem Gebäude wurde der österreichische Bauer Franz Jägerstätter, geboren 1907, vom ehemaligen Reichskriegsgericht wegen seiner Gewissensentscheidung gegen eine Kriegsteilnahme am 6. Juli 1943 zum Tode verurteilt. Mit ihm gedenken wir all jener, die wegen einer Gewissensentscheidung Opfer von Kriegsgerichten wurden."
Die Tochter des Richters, der das Todesurteil über den Vater sprach
Als die Feier zu Ende ist, drängt sich eine kleine ältere Dame nach vorne, ein wenig nervös und unbeholfen, und spricht ein paar Sätze. Es ist Irmgard Sinner, die eigens dafür aus Lübeck angereist ist. Sie sagt, dass sie die Tochter jenes Richters ist, der Jägerstätter zum Tod verurteilt hat, und dass sie um Vergebung bitte.
"Da wurde ich eben auch mal angeschrieben, dass nun, also Jägerstätter, das Gedenken von Jägerstätter ist. Und da habe ich dann den neuen Leiter von den Deserteuren in Freiburg angemailt und hab´ gefragt: Ich habe mal was von Jägerstätter gehört, und ich möchte gerne wissen, ob wirklich mein Vater das Todesurteil unterschrieben hat. Und da schrieb er postwendend zurück: Ja, Ihr Vater hat das Todesurteil… Und da war für mich klar: Ich fahre nach Berlin. Und das ist, als ob ich einen Auftrag von meinem Vater bekommen habe. So sehe ich das, so empfinde ich das."
Denn als Richter Werner Lueben ein paar Monate nach dem Todesurteil über Franz Jägerstätter ein weiteres über drei katholische Priester ausfertigen soll, verweigert er die Unterschrift. Für ihn ist, in der Meinung seiner Tochter, der Punkt des "bis hierher und nicht weiter" erreicht. Werner Lueben, kommt in der Nacht darauf in seiner Dienstwohnung ums Leben. Er war nie Mitglied der NSDAP gewesen und hatte ihr auch innerlich distanziert gegenüber gestanden. Erst wird offiziell von einem Bombenangriff gesprochen, obwohl es in dieser Nacht gar keinen Alarm gegeben hatte, später von Selbstmord durch Erschießen. Irmgard Sinner ist überzeugt, dass ihr Vater nach seiner Weigerung ermordet wurde.
"Das ist ja die Geschichte, mit der ich groß geworden bin, von Jägerstätter habe ich ja früher nichts gewusst. Auch von Deserteur nichts gewusst, gar nichts. Ich bin nur groß geworden, dass mein Vater ein Staatsbegräbnis bekam, stellen Sie sich mal vor! Also, die wollten etwas vertuschen."
Stets hatte der Vater vor seinen drei Kindern verborgen gehalten, dass es zu seinem Beruf gehörte, das Ende des Lebens anderer Menschen anzuordnen. Pflichtgefühl, Gesetzestreue, Recht und Ordnung hieß die Panzerung des eigenen Gewissens, die nichts mit NS-Ideologie zu tun hatte.
"Ich kann Ihnen nicht sagen, was im Kopf meines Vaters vorging, das kann ich Ihnen gar nicht sagen. Ich weiß nur, er ist ein Kind seiner Zeit – und es ist furchtbar, und ich hatte ein sehr, sehr herzliches Verhältnis, und ich liebte meinen Vater eben auch. Und also, er war ein guter Vater, so eben."
In der DDR lernt sie den Goldschmied Gerhard Sinner kennen
Der emotionale Konflikt begleitet Irmgard Sinner ihr Leben lang. Über dieses erzählt sie, fast drei Stunden lang in ihrer Lübecker Wohnung: assoziativ, sich selbst unterbrechend, und doch das schlüssige Bild einer Frau darstellend, die zwei Diktaturen auf besondere Weise geprägt haben. In der DDR lernt sie den drei Jahre älteren Goldschmied Gerhard Sinner kennen. Die beiden heiraten, bekommen zwei Töchter und eröffnen eine Goldschmiedewerkstatt in Rostock. Sabine, die ältere Tochter, lernt Goldschmied wie ihr Vater, Christine, die Jüngere, wird Krankenschwester. Die ganze Familie ist in der evangelischen Kirche in Rostock aktiv.
"Und dann haben wir dort 'ne Werkstatt ausgebaut. Ein Zimmer war so mehr so Besprechung, eins war so ´n wirklich so ein offener Tisch, wo meine Tochter dann nur und mein Mann arbeiteten, und dann so 'n kleiner Tresen, wo ich dann bediente – und dann noch hinten eine, so, wo geschmolzen wurde und so. Ja, das war sehr nett, drei Mal in der Woche machten sie auf, und die anderen Tag´ arbeiteten sie, meine Tochter machte tollen Schmuck. Und das Ergebnis war, dass die Leute, wenn offen war, die ganze Treppe runter Schlange standen. Das war toll. Und dann habe ich zu meinem Mann gesagt: Hör endlich auf also irgendwie von irgendjemandem was anzukaufen. Das durfte er gar nicht, und das war Privatleuten verboten, oder er hätte einen Vertrag mit dem Staat machen müssen. Das wollte er nicht. Und hör endlich damit auf! Im Grunde genommen werden sie in etwas hineingetrieben, was sie gar nicht wollen."
Im April 1979 wird Gerhard Sinner wegen Steuerhinterziehung aufgrund der Schwarzgeschäfte verhaftet, wenige Monate später auch seine Frau. Irmgard Sinner fürchtet, dass auch Tochter Sabine, die gerade erst Mutter geworden ist, inhaftiert worden sein könnte. Doch eine Zellengenossin weiß Rat.
"Und dann hat die aus 'm Klo mit 'm Zahnputzbecher das Wasser ausgeschöpft, und dann können die durch das Klo telefonieren. Also ich war von 'n Socken. Und da sagt sie: Keiner weiter verhaftet worden. Oh, ich war so froh!"
Ab einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren für beide Beschuldigte kann die Familie laut Gesetz enteignet werden.
"Aber es ging dann seinen Lauf: Er bekam 6 Jahre, ich 3 Jahre – und schon konnten sie uns enteignen. Also das Geschäft war weg und alles, was sie dort gefunden hatten, war weg. Und mein´ Mann wurde der Beruf abgesprochen. Er durfte nie wieder Goldschmied sein, auch nicht nur, sag´ ich mal, drei Jahre danach, nein, nie wieder."
Sie wird im "Roten Ochsen" in Halle an der Saale inhaftiert
Der Wille Gerhard Sinners wird während der Haft in Brandenburg gebrochen. Er ist labiler als seine Frau, die ihre Strafe im berühmten Roten Ochsen absitzen muss, einem wuchtigen Bau aus rotem Ziegel, mitten in Halle an der Saale, der Geburtsstadt ihrer Mutter. In jenem Gefängnis, wo einst jene drei katholischen Priester hingerichtet wurden, deren Todesurteil zu unterschreiben sich Werner Lueben geweigert hatte. Irmgard Sinner beschließt für sich robust zu bleiben, verlangt hartnäckig und erfolgreich einen Pastor, die Kirchenzeitung und eine Bibel.
"Und dann bekam ich also 'ne Bibel, hatten sie, und das war so eine alte Bibel, die hat ja hauchdünnes Papier, dann fingen sie an, die Mädchen, damit haben sie sich Zigaretten gedreht, also das war noch besser als der Falz vom Neuen Deutschland."
Doch Irmgard Sinner ist ihren Zellengenossinnen nicht böse. 20 sind sie in der Zelle, aufgeteilt auf zehn Stockbetten, dazwischen ein Hocker, Toilette im Zimmer, kein privater Rückzugsraum - monatelang, jahrelang.
"Und dann begann ich mit den Mädchen in der Weihnachtszeit Weihnachtslieder zu singen. Singen war verboten. Und dann haben wir gesungen: Ich steh an deiner Krippen hier, o Jesu, du mein Leben. Das haben sie mit einer Inbrunst gesungen, weil das oft Mädchen waren, denen sie die Kinder schon weggenommen haben, weil sie irgendwie gewalttätig oder sonst was waren. Und dann war ich für sie wie 'ne Großmutter. Oder sie erzählten dann auch: Ja, meine Großmutter hat das auch immer gesungen."
Irmgard Sinner ist inzwischen selbst Großmutter geworden. Doch ihre Ehe funktioniert nicht mehr so wie vorher. Ihr Mann wird in Rente geschickt, das Ehepaar stellt einen Ausreiseantrag. Das erzählen die Sinners einem engen Freund der Familie: Wolfgang Schnur, Rechtsanwalt, insbesondere für die evangelische Kirche. Zur Wendezeit engagiert er sich im Demokratischen Aufbruch. Als seine Tätigkeit als Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi herauskommt, schlägt das hohe Wellen in Deutschland. Schnur verliert seine Anwaltszulassung. Mandanten-Verrat wird ihm vorgeworfen, die von ihm vertretenen Sinners werden als Beweis angeführt. Doch Irmgard Sinner geht es auch da um Vergebung. Das macht sie auch in Diskussionen deutlich.
"Da war also so ein Gespräch, öffentliches Gespräch, und da kommt hinterher eine junge Frau zu mir, und da sagt sie. Ich bin die Tochter von Wolfgang Schnur. Sie haben ja so versöhnlich über Wolfgang Schnur, meinen Vater – die hatte keine Verbindung. Und ich habe die Verbindung nach der Wende, irgendwann habe ich die Verbindung zu Schnur wieder gesucht. Und da habe ich gesagt: Ja, ich weiß ja mal, ihr Vater, ich hab´ Stasi-Akten gelesen. Und ihr Vater wusste von mir mehr. Der hätte uns alle wieder ins Gefängnis bringen können – und der war unser Hausfreund nachher. Und da sage ich: Wissen Sie, ich habe auch Winke von ihm bekommen, also das ist einfach so. Es gibt Menschen, die ja… Und die hat wieder, und ihre Schwestern, die haben wieder Verbindung zu ihrem Vater gekriegt."
Die Tochter verkraftete die Ausreise aus der DDR nicht
Dem Ehepaar Sinner wird 1986 die Ausreise in den Westen genehmigt. Es zieht in die Nähe von Lübeck, trennt sich aber bald - auch eine Spätfolge des Gefängnisaufenthalts. Gerhard Sinner stirbt 2002.
"Mein Mann ist verbittert rausgekommen. Ich bin ja gleich aktiv geworden, Wohnungstausch, alles. Mein Mann saß nur zu Hause und war verbittert, dass er nicht 'rausgelassen wurde. Ich bin dann in die Kirche gegangen, habe die Ausbildung als Tanzleiterin gemacht."
Und sie hat auf die ältere Tochter gewartet. Denn Sabine, die Goldschmiedin, hatte auch schon lange vor, mit ihrer Familie die DDR zu verlassen. Als es am Nikolaustag 1988 so weit ist, kommen ihr zum Schluss doch Zweifel. Sie verlässt eine vertraute Umgebung, im Wissen von den DDR-Behörden nicht mehr wieder ins Land zurück gelassen zu werden.
"Dann hat sie alles aufgelöst, kam hier 'rüber, und als sie hier aus ´m Zug ausstieg, da merkte ich schon: Das ist nur noch die Hälfte ihrer selbst. Das ist nur noch ihr Schatten, ihre Seele ist in Rostock geblieben, bei ihren Freunden. Also eigentlich kann man sagen, sie war depressiv bis zum Geht-Nicht-Mehr. Sie hat das nicht verkraftet. Und dann haben sie endlich 'ne Wohnung bekommen, in Hamburg. Das war am 1. Mai, und dann haben sie über das Wochenende sie renoviert, im 5. Stock, und am 3. Mai sollte ich die Kinder dann nach Hamburg bringen, und die waren schon ganz high. Und da kommt frühmorgens mein Schwiegersohn an mit Freunden – und meine Tochter ist vom 5. Stock gesprungen."
Das war am 3. Mai 1989, ziemlich genau ein halbes Jahr vor dem Mauerfall. Irmgard Sinner kann seit der Grenzöffnung das tun, was ihre Tochter so gerne gemacht hätte, auf das zu warten sie aber keine Kraft und keine Hoffnung mehr hatte: frei reisen. Sie engagiert sich: in der Kirche, beim Seniorentanz.
"Und heute arbeite ich auch ehrenamtlich, ein Mal, also morgen früh gehe ich ein Mal die Woche in ein Blinden- und Sehbehindertenheim."
Ein bewegtes Leben liegt hinter Irmgard Sinner. Und die Zeit der Aufarbeitung all dessen?
"Hat lange gedauert. Die anderen, da sagen sie: Nun kuck' nach vorn. Ich kuck' ja ununterbrochen nach vorn. Ich hab' ja meine Enkelkinder und alles, und ich kuck' ja nach vorne. Aber das hinter ihnen, ja, das muss aufgearbeitet werden. Und das ist ganz wichtig."
Inzwischen ist es Abend geworden. Die Sonne über Lübeck rutscht langsam hinter dem Hauptbahnhof hinunter und strahlt noch einmal das Wahrzeichen der Stadt, das Holstentor, an, das seinen Schatten auf die Altstadt dahinter zu werfen versucht. Im Sonnenlicht leuchtet die Inschrift über dem Tor: Concordia domi – fori pax – Eintracht drinnen, draußen Friede. Ein Leitsatz, den eine der Bürgerinnen da drinnen, im Zentrum Lübecks, ein Leben lang praktiziert hat, verbunden mit den Worten auf dem Nagelkreuz in der Marienkirche: Vater vergib.
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