Überheblicher Lebemann mit kalter Seele

17.11.2006
Michail Lermontovs Novellensammlung "Ein Held unserer Zeit" ist ein Klassiker der russischen Literatur. Im Mittelpunkt des fünfteiligen Novellenkranzes steht ein überheblicher Lebemann mit einer kalten Seele. Pečorin heißt dieser "Held unserer Zeit", und er wird uns aus drei verschiedenen Perspektiven präsentiert.
In der ersten Novelle ist ein Reisender unser Gewährsmann, der über Umwege von Pečorins abenteuerlicher Entführung einer Tartarenprinzessin hört. Dann trifft der Erzähler direkt auf Pečorin und erlebt mit, wie dieser einen alten Freund demütigt. Und bei den drei letzten Novellen handelt es sich um fiktive Tagebucheintragungen Pečorins - wir kriechen also direkt in den Protagonisten hinein und werden von innen heraus zum Zeugen seiner manipulativen Strategien.

Der Leser durchlebt einen Erkenntnisprozess: Am Anfang heißt es, Pečorin sei ein prächtiger Kerl gewesen, ein hervorragender Jäger, nur ein wenig übermütig, und man schenkt dieser Behauptung bereitwillig Glauben. Aber nach und nach bekommt das Bild Risse, bis sich der schmucke Offizier durch seine grausamen Verführungsspielchen selbst entlarvt. In der vierten und längsten Novelle kommt nämlich der Frauenvernichter Pečorin zum Zug. Der "Held unserer Zeit" ist für die Sommerfrische in ein langweiliges Bad gereist, wo er seinem Freund Grušnickij begegnet. Dieser tumbe Grušnickij verliebt sich in die reizende Prinzessin Mary. Grund genug für Pečorin, ihm Sand ins Getriebe zu streuen. Er übt sich in demonstrativer Nichtbeachtung der Prinzessin und ihrer Mutter, bis diese immer begieriger werden, seine Bekanntschaft zu machen. Als er dies dann großmütig zulässt, verliebt sich Mary in ihn. Nach einem herzzerreißenden Geständnis weist Pečorin die junge Frau kalt zurück.

In seinem Prosawerk begründet Lermontov in Anknüpfung an Puškins Eugen Onegin den Topos des "überflüssigen Menschen", der für die russische Literatur zentral ist und von Gontscharow über Tschechow und Tolstoi bis in die Gegenwart hinein immer wieder variiert wird. Lermontov war als 21-Jähriger 1837 mit einem empörten Gedicht über Puškins tragischen Duelltod auf einen Schlag berühmt geworden. Mit harschen Worten klagte der junge Dichter darin die Hofschranzen an und gab der Gesellschaft Schuld am sinnlosen Ende des größten russischen Dichters. Die 72 Verse wurden tausendfach abgeschrieben und landauf, landab verteilt. Natürlich bekam die Geheimpolizei Wind von der Angelegenheit, und der junge Hitzkopf wurde sofort verhaftet. Nur eine Intervention seiner einflussreichen Großmutter konnte eine Verbannung nach Sibirien abwenden.

Lermontov, Angehöriger des Leibhusarenregiments, Sohn eines schottischen Offiziers, zugleich Abkömmling eines russischen Adelsgeschlechts und wegen seiner Frauengeschichten allenthalben verrufen, landete an der Front im Kaukasus. Der aufmüpfige Lyriker, durch derartige Repressalien nicht zu verschrecken, drehte den Spieß um und nutzte den Kaukasus als Reservoir für seine Dichtung. Lermontov legt mit Ein Held unserer Zeit auch eine ungeschonte Selbstanalyse vor. Dass er allerdings seinen eigenen Tod vorweg nahm, wird er nicht geahnt haben. In der Novelle "Prinzessin Mary" kommt es schließlich zum Duell zwischen dem naiven Grušnickij und dem durchtriebenen Pečorin, bei dem der treuherzige Freund unterliegt. Lermontov, dessen literarischer Ruhm mit einem Gedicht über Puškins Duelltod begann, sollte nur ein Jahr nach der Veröffentlichung von Ein Held unserer Zeit eben dieses Ende nehmen: Mit siebenundzwanzig Jahren wurde er 1841 beim Duell tödlich getroffen. Seine Studie zynischer Intellektualität liefert ein schillerndes Psychogramm der russischen Gesellschaft und ist in einer Epoche von inhaltslosem Hedonismus wie unserer aktueller denn je.

Aber warum eine Neuausgabe, wenn sogar im Taschenbuch zwei Übersetzungen des Prosawerks lieferbar sind? Anders als die vorliegenden Ausgaben enthält der neue Lermontov ein äußerst aufschlussreiches Nachwort von Peter Urban. Ein umfangreicher Anmerkungsapparat, eine Zeittafel zu den kaukasischen Kriegen und eine Landkarte komplettieren das Unternehmen und machen den Klassiker überhaupt erst zu dem, was er ist. Aber auch die Neuübersetzung ist unbedingt ein Gewinn. Urban bleibt näher am Original, sein Lermontov ist zupackender und direkter. Er behält den mitunter abrupten Tempuswechsel des Schriftstellers bei, der einen Teil der Lebendigkeit des Textes ausmacht, und er hütet sich davor, unvollständige Sätze zu ergänzen. Mit dieser Neuausgabe kann man sich Lermontov wunderbar erschließen. Ein Held unserer Zeit ist eine große Wiederentdeckung.

Rezensiert von Maike Albath


Michail Lermontov: Ein Held unserer Zeit
Aus dem Russischen übersetzt und herausgegeben von Peter Urban.
Friedenauer Presse, Berlin 2006, 256 Seiten, 22, 50 Euro