Über Schuld und Moral

Von Hartmut Krug · 10.07.2009
Im Rahmen des großen Hellenic-Festivals in Griechenland gastierte im antiken Theater von Epidaurus das Londoner National Theatre mit Racines Drama "Phädra". Die Titelrolle der Tragödie, in der sich die Königin Phädra in ihren Stiefsohn verliebt, spielte Oscar-Preisträgerin Helen Mirren.
Festivalleiter Yorgos Loukos hat das in Athen und Epidaurus stattfindende Hellenic-Festival in den letzten Jahren international bekannt gemacht. Einerseits zieht er mit modernem Theater abseits der repräsentativen Spielstätten ein junges Publikum an, andererseits bedient er das an repräsentativem Theater interessierte Publikum mit Gastspielen berühmter, zwischen Avigon, Salzburg und Athen pendelnder Bühnen. Jetzt gastierte im antiken Theater von Epidaurus das Londoner National Theatre of Great Britain mit Racines Tragödie "Phädra", wobei mit Oscar-Preisträgerin Helen Mirren und dem aus dem "Abba"-Film bekannten Dominic Cooper gleich zwei Filmstars mitspielten.

Einen fließenden Schleier über langem goldblonden Haar und purpur prunkendem Gewand gibt sich die Schauspielerin Helen Mirren bei Phädras mitleidheischender innerer Konfliktsituation ganz dem äußerlichen theatralen Effekt hin, - und beherrscht so die runde Orchestra des antiken Theaters mit ihren 20 Metern Durchmesser. Nicht vor mächtigen Steinquadern wie im Londoner National Theatre, sondern vor hohen, leicht nach hinten geneigten rostigen Wänden, aus denen ein Steg in die Orchestra führt, werden die Schauspieler immer wieder als Dekoration im weiten Rund verteilt. Nicholas Hytners Inszenierung mit den Filmstars Helen Mirren und Dominic Cooper gibt die große Tragödie als Sprech- und Stehtheater.

Mit der Geschichte der in ihren Stiefsohn Hippolytos verliebten Königin Phädra, die mit ihrer Liebe zurück gewiesen wird und bei der Rückkehr ihres als tot gemeldeten Gatten Theseus dem Stiefsohn aus Selbstschutz eben des Vergehens bezichtigt, das sie beging, untersucht Racines 1677 in Paris uraufgeführte "Phädra" die Ehrbegriffe seiner höfischen Gesellschaft. Es geht um Schuld und moralische Kraft.

Was den Regisseur Nicholas Hytner an diesem Stück interessiert, wird allerdings nie deutlich. Die Geschichte einer älteren Frau, die verzweifelt gegen eine inzestuöse Liebe kämpft, bei der sie in der unschuldigen, jungfräulichen Jugenderscheinung ihres Stiefsohns das Wunschbild des eigenen, ihr unentwegt untreuen Ehemanns zu entdecken glaubt, hat es auf deutschen Bühnen immer schwer gehabt.

Nicholas Hytner benutzt Fernsehspiel-Klischees und hohe, vor allem aber hohle Pathosformen. Schiller hat, als er die Phädra des Euripides in Blankverse übersetzte, das Fehlen menschlicher Wahrheit und Natürlichkeit beklagt und vor "des falschen Anstands prunkende(n) Gebärden" gewarnt. Genau diese hohlen Pathostöne und großen Gesten aber bestimmen das Spiel von Helen Mirren. Die Schauspielerin hebt die Hände gen Himmel, legt den Kopf in die Hand und stützt beides auf den anderen Ellenbogen, ihre Phädra wird in jeder Szene von gestisch überdeutlicher Bedeutung bestimmt. Die Darstellerin ihrer jungen Rivalin Arikia flattert mit ausgebreiteten Armen im weißen Unschuldskleid umher, während Dominic Cooper als Hippolytos nicht diesen darstellt, sondern sich selbst im Unterhemd ausstellt, und der massige Darsteller des Theseus schließlich dröhnt mit der gesamten Palette abgenutzten Repräsentationstheaters durch das Stück.

Ted Hughes hat die tödliche Tragödie in ein Alltagsenglisch übersetzt, das gelegentlich mit flachen Metaphern auftrumpft. Die Inszenierung schwankt zwischen hohem Pathos und Alltagston und orientiert sich stets an der direktesten Wirkung. So fassen sich die Personen, ganz gegen ihre Angst-Liebe-Haltungen, oft an. Und während die resolute Amme mit toughem Boulevard-Ton Lacher sammelt, moduliert Phädra den bedeutungsvollen hohen Ton als Kunstform, und die Zikaden lärmen ihr Dauerkonzert dazu.

Dennoch vermag dies unbewegliche Stehtheater die weite offene, von der nächtlichen Dunkelheit wie von Wänden umschlossene Bühne eine zeitlang spannungsvoll zu beleben. Doch weil sich die Gesten und Töne unentwegt wiederholen, erschöpft sich deren Wirkung spätestens nach der Hälfte der fast zwei pausenlosen Aufführungsstunden. Selbst der Botenbericht vom schrecklichen Tod des Hippolytos tönt dann hohl, und auch Phädras Verzweiflung erscheint nur noch wie eine Pose. Wenn Arikia hier gar die blutigen Reste des toten Hippolytos auf einer Plane hereinzieht und wenn Phädra mit zitternder Hand berichtet, dass sie Gift geschluckt habe, dann wird die Aufführung mit ihrer Handfestigkeit, in der sie realistische Überdeutlichkeit mit hohem Theater-Kunst-Getue zu vereinen sucht, für den griechischen Zuschauer bald langweilig und für den deutschen Zuschauer eher unfreiwillig komisch.