Über-Lebenskünstler

Bettina von Clausewitz · 20.09.2008
Warum zerbrechen manche Menschen an Schicksalsschlägen - und andere gehen scheinbar sogar gestärkt daraus hervor? Wenn sie plötzlich schwer erkrankt sind, wenn der Partner sie verlassen hat oder sie ein Kind verloren haben. "Resilienz" wird die Fähigkeit genannt, die Selbstheilungskräfte zu mobilisieren, an denen auch die Religion ihren Anteil hat.
Schlattner: "Eine kolossale Anpassungsfähigkeit, ein ungeheuer wagemutiges Reagieren auf Situationen - Jesus, der barfuss über die Wasserfläche geht, das sind die Lebenskünstler für mich. Nein, der bin ich nicht - nein."
Krahe: "Also ich denke, ich habe aus meinem ersten Leben, den ersten 3o Jahren, genug Erfahrungen und Ideen und wahrscheinlich auch Kraft mitbekommen, um dieses neue Leben überhaupt angehen zu können. Und insofern würde ich mich dann als Über-Lebenskünstlerin bezeichnen."

Schnellenkamp: "Resilienz verstehe ich als Widerstandskraft oder die Fähigkeit, trotz widriger Umstände sich selber Ansporn zu geben, zu motivieren und weiter zu leben. Sich neue Ziele zu setzen und die zu erreichen. Also: hervorzugehen aus – Krisen!"

Drei Stimmen und drei Lebensgeschichten. Jede auf ihre Weise von einem schweren Schicksal geprägt - wenn man es nur oberflächlich betrachtet. Aber ein unverwechselbares Leben mit Höhen und Tiefen, wenn man genauer hinsieht und diese Menschen selber fragt.

Jörg Schnellenkamp etwa, der in der berüchtigten deutschen Sekte Colonia Dignidad in Chile aufgewachsen ist und aus freien Stücken noch heute dort lebt. Die Theologin Susanne Krahe, die mit 30 erblindet ist und nur durch zwei Organspenden überlebt hat. Und der 75-jährige siebenbürgische Schriftsteller und Pfarrer Eginald Schlattner, dessen eigenes Leben den Stoff für seine Romane abgibt. Jeder von ihnen hat einen eigenen Weg gefunden, dem Schicksal zu begegnen.

Schlattner: "Ich hab’ diese Grenzsituation, wo es einfach nicht mehr weitergeht, verglichen mit einem runden schwarzen Zimmer, dunkel, wo es kein Fenster gibt, und dann habe ich doch die Erfahrung gemacht, dass sich plötzlich in dieser schwarzen Wand ein Fenster öffnet.
Ich war sehr oft in dieser Situation, dass ich dachte, jetzt ist alles zu Ende und im Grunde genommen musst du aufhören zu leben. Aber – in jeder Grenzsituation, rette für dich eine geistliche Neugier!
Und hier habe ich die Erfahrung gemacht, dass wir es mit einem Gott der Überraschungen zu tun haben, dessen Fantasie unsere Vorstellungskraft sprengt."

Irgendwie geht es immer weiter. Eine Erfahrung, die der Siebenbürger Eginald Schlattner aus Rumänien mehrfach gemacht hat. Denn die historischen Umbrüche haben auch seine persönliche Dramaturgie bestimmt.
Erstmals 1944, als die gutbürgerliche Welt seiner Kindheit samt Familienvilla mit einem Schlag unterging, weil Rumänien die Seiten wechselte und mit Russland paktierte. Die deutsche Minderheit wurde plötzlich zum Staatsfeind. Schwere Zeiten, die als Familienepos auch in einem Kinofilm von 2007 zu sehen sind: "Der geköpfte Hahn", nach einem Roman von Eginald Schlattner.

"So gesehen in diesen 75 Jahren bin ich ununterbrochen im Umfeld von Abschied auch entblößt worden dessen, was einen schützt. Was einen nämlich schützt und stark macht sind ja die Freundschaften, die Gemeinschaft, das sind die, die einem nahe stehen ..."

... "Abschied kann tödlich sein", hat Schlattner einmal formuliert, der nicht gerne von Schicksalsschlägen spricht, obwohl er genügend Grund dazu hätte. 1957 wird er mit 23 Jahren von der rumänischen Geheimpolizei Securitate wegen "Nichtanzeige von Hochverrat" verhaftet, zwei Jahre lang eingesperrt und verhört - bis er schließlich gegen seine Landsleute aussagt.

"Das möchte ich sagen, was für mich geistliche Neugier ist: dass Dinge geschehen, die sich jenseits unserer Vorstellungskraft abspielen, in dem Augenblick, wo wir von dieser Verzweiflung und Angst hinein gestürzt werden in Abgründe des Dunkels und der Hoffnungslosigkeit. - Und so war es, als man mich in die Zelle damals hineingestoßen hat. Ich hätte nicht mir vorstellen können, dass ich dort zwei Jahre und zwei Tage aushalt’ ..."

... und doch erträgt er die sieben Quadratmeter enge Zelle - mit seiner geistigen Welt als Zuflucht. Aber als der 25-Jährige freikommt, ist er mit dem Stigma des Verräters behaftet. Es dauert bis in die 60er Jahre, bis er sein Ingenieursstudium beendet und in ein bürgerliches Leben zurückfindet, mit Frau und Kind und sogar mit einem Auto. Aber auch das ist nur eine Etappe.
Denn mit 45 wechselt Schlattner den Beruf und wird Pfarrer, einem Gelübde folgend, das er Jahre zuvor im Gefängnis abgelegt hatte. Die Familie zieht in ein Dorf bei Hermannstadt, wo Schlattner noch heute lebt. Auch nach der politischen Wende 1989, die für ihn zum schwersten Abschied wird. Denn sie läutet den Exodus der Siebenbürger nach Deutschland ein, und damit das Ende einer 850-jährigen Geschichte.

"Eine Möglichkeit, den Abschied zu überwinden, oder die Gefahr eines so gravierenden existenziellen Abschieds, der dich dann wirklich aus der Welt hinauskomplimentiert zu überwinden, ist eben die schöpferische Literatur. Also: ich häng mich auf oder ich schreibe einen Roman, ja. Ich hab’ ja dann im 90er das Zweite gewählt. Ich hab’ mich nicht aufgehängt, sondern ich hab’ den ersten Roman geschrieben."

Wieder ein Fall für seine "geistliche Neugier" auf Rettung durch Unerwartetes. Mit einer autobiografischen Romantrilogie schreibt sich der damals schon über 60-Jährige die Traumata seines Lebens von der Seele. Er wird in diesen Jahren außerdem Gefängnispfarrer und beginnt sich für die Zigeuner im Dorf zu engagieren, "die Dritte Welt vor meiner Tür", wie er sie nennt:

"Das wäre auch eine Strategie, nicht nur im Gebet sich einsetzen, sondern sich überhaupt für andere Menschen einsetzen.
Wenn ich eine Predigt halte, fall ich aus der Zeit, wenn ich im Gefängnis bin und wenn ein Mensch sein Herz ausschüttet, dann falle ich aus der Zeit. Ich bin dann so weg von allem, was momentan da ist und vergesse auch auf mich selbst, der ich ja sonst sehr oft über mich stolpere."

In der Literatur ist von "sieben Säulen der Resilienz" die Rede, die Menschen stärken und ihre seelische Widerstandfähigkeit mobilisieren. Akzeptieren, was sich nicht ändern lässt, die Opferrolle verlassen, realistische Lösungen suchen und ein Netzwerk bauen, das sind einige der bewährten Strategien. Nur wer sich selbst nicht aufgibt, hat eine Chance.

"Resilienz ist ja die Fähigkeit, schwierige Situationen, Lebenssituationen zu meistern. Die Kräfte, die es gibt, in den Menschen, aber auch in der Umwelt, wahrzunehmen, um sie zur Lösung von Lebensschwierigkeiten einzusetzen. Und genau das versuchen wir in Gesprächen herauszubekommen. Wo gibt es noch Lebenswille, Lebenshoffnung. Was will noch lebendig sein?"

Telefonseelsorger Werner Korsten ist Experte in Sachen Erste Hilfe für die Seele: wenn ein geliebter Mensch gestorben ist oder eine unheilbare Krankheit diagnostiziert wird. Aber es können auch weniger spektakuläre Dinge sein: Einsamkeit oder Probleme mit den Kindern etwa.
Seit mehr als 20 Jahren leitet Werner Korsten die evangelische Telefonseelsorge in Essen, er betreut mehr als 60 Ehrenamtliche und ist stellvertretender Vorsitzender des bundesweiten Dachverbandes. Ein Krisenmanager, der die Überlebensstrategien der Menschen kennt.

"Ganz wichtig scheint mir in den krisenhaften Situationen des Lebens zu sein, dass sie gemeistert werden, wenn es mindestens noch eine stabile Beziehung gibt. Wenn es noch einen (!) gibt, der mit dem Betreffenden daran glaubt: Es wird weitergehen, es wird ein gutes Ende nehmen, sie werden diese Krise durchleben. Und der sie stützt und trägt."

Genau das jedoch fehlte etwa Jörg Schnellenkamp als Kind. Der 37-Jährige stammt aus der totalitären deutschen Sekte Colonia Dignidad in Chile.
Heute setzt er sich behutsam mit der Vergangenheit auseinander, Stichwort Resilienz:

"Ich hab den Ausdruck nach der Krise, nachdem das Ganze vorbei war, kennengelernt, Und da hab ich gemerkt: Mensch, das trifft ja zu. Wir hatten eben widrige Umstände, zum Beispiel, dass man nicht in der Familie aufgewachsen ist, dass man in einem Umfeld mit viel Misstrauen aufgewachsen ist, dass man nie wusste: Wem kann man vertrauen und wem nicht?
Und dass man viele Emotionen runterschlucken musste. Zum Beispiel erinnere ich mich, dass ich eine zeitlang weder weinen noch lachen konnte, das habe ich nachher erst wieder gelernt."

Der Alltag der Colonia Dignidad war von Arbeit und strengster Disziplin geprägt, auch wenn hier auf einem alten Werbevideo dörfliche Idylle dargestellt wird, etwa beim Blick in die Schmiede oder über weite Felder. International jedoch war sie jahrzehntelang in den Schlagzeilen: wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern, wegen Waffenhandels und als Folterzentrum von Pinochet.
Der Wandel kam erst 1996, als Sektengründer Paul Schäfer untertauchte. Jörg Schnellenkamp, der wie alle Kinder der Sekte im Heim aufwuchs, hat deshalb schon früh Überlebensstrategien entwickelt.

"... und zwar, dass man in allen Situationen immer noch Kleinigkeiten oder das Positive sucht, und sich an dem erfreut.
In der Religion, im alltäglichen Bereich: die Liebe zur Natur, die hat mich sehr viel gestärkt, dann bin ich oft durch Felder und durch den Wald gegangen alleine, zur Besinnung, zum Reflektieren, um so irgendwo meine Emotionen zu lassen."

Jörg Schnellenkamp lebt bis heute auf dem 30.000 Hektar großen Gelände der Kolonie, die mittlerweile Villa Baviera heißt - Bayerisches Dorf, mit Forst- und Landwirtschaft, verschiedenen Betrieben, einer Schule und einem zaghaft einsetzenden Tourismus. Er hat Pädagogik und Grafikdesign studiert und versucht mit anderen Ehemaligen zusammen, auf den Trümmern der Vergangenheit ein neues Leben aufzubauen, trotz des unauslöschlichen Stigmas und bis heute ungeklärter Verbrechen.

"Dass wir da weiterarbeiten, das hat nichts damit zu tun, dass wir uns mit dem alten System identifizieren oder mit Sachen, die damals passiert sind. Für mich wäre es auch der einfachere Weg, irgendwo anders hin abzuhauen und dort mein Leben zu gestalten. Das ist mehr eine Herauforderung, aus dem was gewesen ist, etwas Positives zu machen."

Sein jüngerer Bruder Klaus dagegen hat einen anderen Weg gewählt. Er lebt heute in Deutschland und hat in einem Buch eine erschütternde Abrechung mit der Kolonie geliefert: "Geboren im Schatten der Angst". Der Vater der beiden war ein enger Vertrauter des Sektenführers, auch ihm wird jetzt der Prozess gemacht. Jörg Schnellenkamp dagegen sucht die innere Distanz, auch ohne den äußeren Bruch. Und er wehrt sich gegen die Opferrolle.

"Ich habe mit mehreren darüber diskutiert und habe ihnen auch gesagt: Solange du immer noch an dem hängst, was du erlebt hast, von Schäfer oder anderen, da bist du immer noch ihr Sklave. Und wenn du das einmal verstehst, dann würdest du zurecht kommen im Leben, auch ohne an der Vergangenheit zu hängen."

Ein Computer mit Sprachausgabe im Arbeitszimmer der blinden Schriftstellerin und Theologin Susanne Krahe im westfälischen Unna. Anders als Jörg Schnellenkamp muss sie nicht mit den Dämonen der Vergangenheit kämpfen, sondern mit den Folgen einer lange ignorierten Krankheit. Mit 30 Jahren lösten sich ihre Träume von einer wissenschaftlichen Laufbahn an der Uni in Luft auf, als sie wegen eines Diabetes erblindete. Innerhalb kurzer Zeit musste Susanne Krahe sich in ihrem Leben Nr. 2 zurechtfinden, wie die heute 48-Jährige es nennt:

"Ich glaube, das erste Geheimnis ist, die Schwäche zuzulassen. Man muss durch diese Phase durch, man muss eine Anfechtungszeit durchstehen, das ist eine ganz wichtige Voraussetzung dafür, neu anfangen zu können und sein Leben neu ordnen zu können. Das ist ganz, ganz wichtig!"

Aber auch ihr positives Leben Nr. 1, sowie eine gehörige Portion Optimismus und Humor gehören zu Susanne Krahes Überlebensstrategien. Der vermeintliche Tiefpunkt wurde zum Wendepunkt und sie begann theologische Bücher und Hörspiele fürs Radio zu schreiben. Eine ebenso widerspenstige wie wortgewandte Autorin, die durch ihre Blindheit zu einer scharfsichtigen Beobachterin wurde. Sogar die klassische "Warumfrage" bekommt bei ihr eine unerwartete Wendung:

"Ja, klar, ich habe sie mir auch gestellt und dann so beantwortet: Warum ich eigentlich nicht? Wie vielen Menschen passiert Unerfreuliches oder auch Schreckliches, warum sollte mir das nicht passieren? Also ich finde, das muss man umdrehen! Man kann höchstens fragen, welches Glück habe ich denn gehabt, wenn mir was nicht passiert? Das tun die Leute komischerweise nicht, das finden sie nie ungerecht, wenn sie Glück haben! Ganz unberechtigterweise."

"Man soll vielleicht die Frage nach dem Warum lassen, die bringt ja nichts. - Die Frage kann man nicht verbieten und wir müssen sie aushalten, und ich sage als Christ: Wir dürfen sie auch Gott stellen. Nur wir dürfen nicht erwarten, dass wir sie beantwortet kriegen."

Auch Telefonseelsorger Werner Korsten ist kein Vertreter der Warumfrage. Weitaus brauchbarer, so hat er in vielen Gesprächen erlebt, sind dagegen Pragmatismus und Flexibilität. Korstens Tipp für Lebenskünstler und solche, die es werden wollen:

"Die Psychologen sagen ja immer, im Hier und Jetzt zu leben. Aber mein Tipp heißt: wirklich zu leben, und das Leben als Abenteuer wahrzunehmen, das mir begegnet.
Und Scheitern nicht als Drama anzusehen, sondern zu wissen, der Spruch vom gelingenden Leben, der ist eine Illusion. Leben ist immer bruchstückhaft und ganzheitlich – und perfekt sowieso nicht."

Die Säulen der Resilienz sind vielfältig. Es gibt kein Rezeptbuch, aber doch etliche gute Erfahrungen im Umgang mit Schicksalsschlägen. So ist es etwa wenig hilfreich, ständig nur zurück auf das Verlorene zu blicken. Das hat Eginald Schlattner bei seinen dramatischen Abschieden erlebt, ebenso wie Jörg Schnellenkamp aus der Colonia Dignidad. Und auch Susanne Krahe hat statt Selbstmitleid neue Energien entwickelt.
Trotzdem hängt das Geheimnis innerer Stärke nicht nur von den eigenen seelischen Widerstandskräften ab. Ein Resümee von Eginald Schlattner, der eher andere als sich selbst für einen Lebenskünstler hält:

"Ich glaube, das Entscheidende ist, dass man sich nicht aufgibt. Und dass andere Menschen um dich sind, die dich nicht aufgeben. Dass man sich sagt: Noch atme ich, noch bin ich da, noch lebe ich. und vielleicht kann man das auch noch sagen nach dem letzten Atemzug."

Literaturhinweise:
Die Romantrilogie von Eginald Schlattner im Zsolnay Verlag:
Der geköpfte Hahn (1998), Rote Handschuhe (2001), Das Klavier im Nebel (2005); alle drei mittlerweile auch als Taschenbücher bei dtv erschienen.

Klaus Schnellenkamp: Geboren im Schatten der Angst. Ich überlebte die Colonia Dignidad. Herbig Verlag, München 2007, 19.90 Euro.
Susanne Krahe: Homepage mit zahlreichen Literaturhinweisen
www.susanne-krahe.de