Über Droschkenkutscher und Schusterjungen

05.01.2007
Unter dem Titel "Aus guter alter Zeit" erschien vor fast 100 Jahren ein Bändchen mit literarischen Genrebildern. Es sind humorvolle Schilderungen des Berliner Volkslebens. Autor war der Journalist und Reichstagsabgeordnete Alexander Meyer. Nun sind seine Betrachtungen, die in Israel wieder entdeckt wurden, neu aufgelegt.
Neben Fontane und Julius Rodenberg gilt Alexander Meyer als Begründer des Berliner Genrebildes. In seinem Buch "Aus guter alter Zeit" skizziert er den Alltag einer Stadt, die sich anschickt, Weltstadt zu werden. Darin eingewoben: Schilderungen lokaler Eigenarten, philosophische Reflexionen und historisches Wissen. Meyers Betrachtungen - geschrieben mit Humor, der aus Menschenfreundlichkeit erwächst - gehen meistens über ihren bloßen Anlass hinaus.

Eigentlich "Schulaufsatzthemen", führen sie elegant, im anspruchsvollen Plauderton auf höhere Ebenen geistiger Auseinandersetzung. Schreibt Meyer über die Volkszählung, wird sogleich die Frage aufgeworfen, was Wahrheit sei. Sinniert er über die Geburtstagsfeiern des preußischen Königs, ist darin auch eine Kritik der "neuen" Zeit, der des wilhelminischen Kaiserreichs enthalten.

Meyers Aufmerksamkeit gilt Menschen, Orten und Gegenständen unterschiedlichster Art. Der rechte Blick für das Detail und scharfe Analyse zeichnen den "Heimatkundler" aus. Er räsoniert über Berliner Schusterjungen, Holzhauer, Droschkenkutscher und den Milchmann. Über "Das liebe Brot", "Die saure Gurke" und "Die Teltower Rübe". Im Aufsatz "Der Kremser" beschreibt Meyer anhand des gleichnamigen Fuhrwerks die Veränderung des Berliner Verkehrs und damit auch die der Stadt selbst:

"Am Sonntagnachmittag will der Großstädter in das Freie; er will frische Luft "schnappen". Und als logisch geschulter Kopf ging der Berliner bis zum Tore, von dem dunklen, aber richtigen Gefühl geleitet, dass dies der Weg sei, der in das "Freie" führe. War er aber bis zum Tore gelangt, so fing Berlin an, erst recht hässlich zu werden. Lange staubige Straßen waren zu durchwandern, bis man zum nächsten Ort kam, nach Charlottenburg, Schöneberg, Tempelhof, Pankow.

Durch diese Sandwüste führte der Kremser, der damals ein Torwagen war, den Berliner hinweg ... Aus diesem, seinem früheren Bereiche hat den Kremser die fortschreitende Verkehrsentwicklung hinausgetrieben. Nach den oben von mir genannten Orten gehen Pferdebahnen. Die Stadtbahn hat einen weiten Gürtel um Berlin zugänglich gemacht. Heute sieht man keine Tore Berlins mehr, und an den Stellen, wo sie gestanden haben, sieht man keine Kremser."

Bei aller Unterhaltsamkeit und Lust am intellektuellen Disput durchzieht doch leichte Wehmut Meyers Schilderungen. Er ist nicht sentimental und durchaus kein Feind des Fortschritts. Aber einer, dessen Urteil aus klarem Verstand und sozialer Verantwortung erwächst. Blinder Fortschrittsglaube ist Meyer fremd. Seine Haltung zu den Verhältnissen, auch deren Veränderungen, ist immer individuell, nie ideologisch. Er ist ein an Goethe geschulter praktischer Humanist, der im Schreiben, wie auch im politischen Handeln, immer über den Moment hinausschaut.

Nicht allein seine literarischen Genrebilder werden in der Neuauflage dieses Buches wiederentdeckt. Auch die Lebensgeschichte des Autors selbst ist es wert, aufmerksam betrachtet zu werden. Deutlich macht das in seinem Nachwort der Kulturwissenschaftler Joachim Schlör. Er hat Meyers Texte neu entdeckt - in Israel, bei Alexander Meyers Enkel Andreas, der hochbetagt in einem kleinen Dorf unweit der libanesischen Grenze lebt. Im Nachwort berichtet Schlör ausführlich über diese Begegnung und vermittelt die Familiengeschichte der Meyers als ein Stück Kultur-und deutsch-jüdische Geschichte.

Tradition der Geselligkeit, der Fähigkeit zum Streit, der Liberalität, der Heimatliebe ist in ihr ebenso sichtbar wie die Unentschiedenheit - oder sollte man sagen Gleichzeitigkeit? - von "Deutschtum" und "Judentum". Gut einhundert Jahre nachdem Alexander Meyer 1832 in Berlin geboren worden war, emigrierte seine Tochter, die "Mutter des deutschen Volkstanzes" Gertrud Meyer, aus Deutschland, weil sie mit einem deutschen Juden verheiratet war.

Alexander Meyer, der einen jüdischen Großvater hatte, war, wie schon seine Eltern, evangelisch getauft. Der promovierte Jurist arbeitete als Zeitungsredakteur, war Mitglied der Berliner Stadtverordnetenversammlung und Abgeordneter im preußischen Abgeordnetenhaus. Viele Jahre wirkte er als Generalsekretär des Deutschen Handelstages. 1896 stimmte Meyer als Reichstagsabgeordneter der Freisinnigen gegen seine Fraktion und für Bismarcks Militärvorlage. Danach legte er sein Mandat nieder. Bis zu seinem Tod 1908 lebte er als freier Schriftsteller. Von seinem Leben und seiner Meisterschaft im Gebrauch des Wortes, gibt die Neuausgabe von "Aus guter alter Zeit" einen nachhaltigen Eindruck. Sie ist die Wiederentdeckung eines Autors und eines Charakters, der heute selbst aus guter alter Zeit zu stammen scheint.

Rezensiert von Carsten Hueck

Alexander Meyer: "Aus guter alter Zeit. Berliner Bilder & Erinnerungen".
Mit einem Nachwort von Joachim Schlör.
Berlin, 2006, be.bra Verlag. 245 Seiten, 24,90 €.