Über die Todesangst

18.06.2013
Tod und Schrecken sind die Themen, die sich bei Josef Winkler von Werk zu Werk ziehen. 1979 schrieb er den Text "Wortschatz der Nacht" für eine Literaturzeitschrift. Jetzt, zum 60. Geburtstag des Büchner-Preisträgers, wird er zum ersten Mal als Buch veröffentlicht. Attribut: furios.
Zeit seines Lebens, seines Schreib-Lebens, beschäftigt sich der 1953 geborene österreichische Schriftsteller Josef Winkler mit seiner katholischen, stumpf-gewaltsamen, bäuerlichen Herkunft. Erzählt von Gewalt durch Krieg - drei Brüder seiner Mutter sind gefallen - von Gewalt anstelle von Worten oder Gefühlen. Er wuchs auf in einer fast sprachlosen Familie und wurde deren sprachgewaltiger Chronist.

Der in immer neuen Wortkaskaden sich dem Schmerz, der Ohnmacht, dem Erinnern, dem Hass und dem blutgetränkten Aufbegehren hingibt. Jetzt hat der Suhrkamp Verlag eines seiner frühesten Werke zum ersten Mal in Buchform aufgelegt.

Schrecken der Kindheit
"Wortschatz der Nacht" heißt es. Denn Winkler, damals Anfang zwanzig, hatte sich - wie er selbst es nennt - in einem nächtelangen "Wortanfall" den Schrecken über die Kindheit nicht aus dem Leib geschrieben aber zu Papier gebracht. Hatte sich den Satz seines Vorbilds Jean Genet zueigen gemacht, dass man dem Entsetzen nur entgehen könne, wenn man sich ihm überlasse. Es ist ein tosendes, ein furioses Buch. Ein "Tanz der Wörter", ein Schrei, ein Gebet, ein dringlicher Kampf um sich - von makabrer Todessehnsucht und scheuer Zärtlichkeitssuche durchwogt. Ein Buch über die Todesangst, die er, wie er schreibt, zum Leben brauchte.

So weint der Knabe bitterlich, als die Trapezkünstlerin im Zirkus den gefährlichen Sprung in die scheinbare Leere an den rettenden Händen des Partners überlebt, statt zerschmettert und verblutend am Boden zu liegen; er ist vernarrt in das Foto im Familienalbum, auf dem ein schön aufgebahrtes Kind zu sehen ist; er verklebt das Fenster im Familienklo mit Zeitungsausschnitten von Verkehrsunfällen, um bei deren Anblick zu onanieren.

Am meisten liebt er die Totenzimmer, weil sie die schönsten waren. Der Prunk, die Kruzifixe, der Geruch von Blumen. Die Sinnlichkeit des Todes gab es im Leben der Dörfler nicht. Er fragt sich, ob ihn wohl - außer dem ständigen Gedanken an den Tod - noch etwas anderes im Leben gehalten habe. 30 Jahre und zahlreiche Romane später hat der inzwischen vielfach preisgekrönte Josef Winkler nun eine Antwort auf diese Frage geschrieben.

Psychopharmaka gegen Kummer
Im Leben hielt ihn wohl auch die Mutter, die vor kurzem erst starb und der Winkler jetzt ein Requiem verfasste. "Mutter und der Bleistift" heißt der schmale Band. Denn sie waren seine Rettung. Die Mutter - in ihrer beinahe stummen, unglücklichen aber verlässlichen Anwesenheit. Die Weihwasser trank und Psychopharmaka schluckte gegen den Kummer in ihr, dem sie nicht entkam. Die aber den Jungen schützte vor dem verhassten Vater. Der Bleistift - an dem der Knabe früh sich festzuhalten begann und mit dem er bald schon erste Geschichten schrieb.

Das Schreiben ist sein Leben geworden. "Mir ist wichtig", hat er einmal gesagt, "dass die Sätze singen." Sie weinen auch. Und es sind blutige Tränen. Man braucht nicht nur Zeit, sondern auch Kraft für diese beiden schmalen Bände in ihrer existenziellen Dringlichkeit. Und den Mut, sich lesend Winklers Sätzen zu überlassen, wie er sich schreibend dem Entsetzen überließ.

Von Gabriele von Arnim

Josef Winkler: Wortschatz der Nacht
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013
109 Seiten, 18.00 Euro

Josef Winkler: Mutter und der Bleistift
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013
90 Seiten, 14.95 Euro
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