Über die Houellebecq-Hysterie

Von Dirk Fuhrig · 26.08.2005
Vor einigen Tagen brach der Sturm los: Das lange gehütete Geheimnis um den neuen Roman "Die Möglichkeit einer Insel" von Michel Houellebecq wurde gelüftet. Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland ist die übliche Houellebecq-Hysterie bereits in vollem Gange.
Genialer Streich, DAS literarische Werk der Saison - oder läppisches Machwerk, das in altbewährter Houellebecq-Manier auf Effekte und Provokation setzt? Kaum jemand hat Michel Houellebecqs neues Buch bisher gelesen - und doch ist der Kampf um "Die Möglichkeit einer Insel" bereits voll entbrannt. Frankreichs Großkritiker streiten sich seit zwei Wochen öffentlich darüber, ob der neue Roman unbedingt den Literaturpreis "Prix Goncourt" bekommen sollte – oder auf gar keinen Fall. Michel Houellebecq - großmäuliger Blender oder feinsinniger Analytiker des Zeitgeists.
Monsieur Tristesse, der selbst wenn er über das Glück spricht, in einen depressiven Ton fällt, ist also wieder da. Jetzt hat der Erfinder des "Deprimismus", wie seine Schreibweise getauft wurde, wieder eine literarische Offensive vorbereitet. Im neuen Roman geht es um das Klonen von Menschen. "Die Möglichkeit einer Insel" knüpft an die Ideen vom künstlichen Menschen an, die er bereits 1999 in den "Elementarteilchen" skizziert hatte.
"Die Hauptperson sucht das ganze Buch hindurch nach der Möglichkeit, sich selbst immer wieder zu reproduzieren. Das sind schwierige Fragen."
Im neuen Werk treibt Houellebecq die Utopie noch weiter als in den "Elementarteilchen", seinem literarischen Welterfolg. Menschen im herkömmlichen Sinne gibt es längst nicht mehr. Es existieren lediglich vielfach reduplizierte Kunst-Wesen in ihrer x-fachen identischen Ausfertigung. Es ist ein Zufall, dass Michel Houellebecqs neues Werk so kurz nach den soeben bekannt gewordenen neuen Erfolgen der Klon-Forschung erscheint - vor wenigen Wochen wurde etwa der Hund "Snuppy" in Korea kopiert. Andererseits: Allzu weit entfernt von der Wirklichkeit ist Houellebecqs "Science Fiction" nicht.
"Ich bin ein Freund der Science-Fiction-Literatur, weil es doch der wissenschaftliche Fortschritt ist, der alles andere bestimmt. Das war vielleicht nicht immer so. Aber heute denke ich, dass alles möglich ist: künstliche Gebärmutter, Klonen, Genmanipulation. Das wird die Menschheit grundlegend verändern. Damit muss man sich auseinander setzen."

Wie kaum ein anderer Schriftsteller scheint Michel Houellebecq ein seismografisches Empfinden zu besitzen für die Dinge, die heute unsere Welt bewegen. Er befasst sich ausgiebig mit den technischen und medizinischen Entwicklungen, die für die Zukunft der Menschheit entscheidend sein werden.
In "Plattform" hatte er 2001 die Möglichkeit von Anschlägen fanatischer Muslime vorweg genommen. Mit seinen öffentlichen Äußerungen gegen den Islam hatte er sich ein spektakuläres Gerichtsverfahren eingehandelt.
Seine Kritiker werfen Michel Houellebecq schon immer mangelnde politische Korrektheit, miserablen Stil, Unmoral und einen Hang zur Pornografie vor. Vor allem "Plattform", dieser bissige Roman aus den Untiefen des thailändischen Sextourismus, hatte die Gemüter erhitzt – die Fans bei seinen Lesungen jedoch stets begeistert.
Am Anfang seiner Karriere hatte Michel Houellebecq noch gesungen. Die sphärischen Auftritte mit einer Band haben sein Bild als Poet der Schwermut entscheidend mitgeprägt – und den kleinen hageren Mann mit der Zigarette zwischen Mittel- und Ringfinger, der die "Welt als Supermarkt" beschrieb und die Menschen-Seelen in Tiefkühltruhen packte, zu einem Mythos werden lassen. Zum Zeitgeist-"Phänomen Houellebecq".
Drei Jahre lang hatte sich der Menschenuntergangsprophet und perfekte Selbstdarsteller nun von der Welt zurückgezogen, um an seinem neuen Werk zu schreiben. Aus seiner Wahlheimat Irland zog er um in den Süden Spaniens. Frankreich ist ihm schon lange ein Graus.
"Hier in Spanien habe ich einen größeren Antrieb zum Schreiben. Außerdem sind die Spanier in mancher Hinsicht nicht so verlogen wie die Franzosen oder die Angelsachsen. Was die biologischen Fragen angeht, die Sexualität, das Altern oder die Fortpflanzung. Hier wird alles offen ausgesprochen. Diese spanischen Telenovelas können ziemlich lehrreich sein."

Aus Spanien hatte sich Michel Houellebecq vor wenigen Wochen zurück gemeldet. Einem befreundeten Journalisten, Chefredakteur der Houellebecq seit jeher gewogenen Kulturzeitschrift "Les Inrockuptibles", gewährte er eine mehrstündige Audienz. Das Interview wurde auf DVD gepresst und einem Houellebecq-Sonderheft der Zeitschrift beigelegt. Spanien besitzt für den Autor einen ganz besonderen Reiz.
"Ich bin auch fasziniert vom Niedergang des Katholizismus. Das konnte ich auch schon in Irland beobachten. Es ist doch verblüffend, wie schnell sich die Moral und die Sitten verändern können. Manche Leute waren vor fünf Jahren noch erbittert gegen das eine oder andere - und heute sagen sie: Ach ja, okay, ist schon in Ordnung. "
Die Vögel zwitschern, der Aschenbecher quillt über - und Houellebecq nuschelt in Zeitlupe vor sich hin, oft kaum verständlich und scheinbar zusammenhanglos. So kennt man den Groß-Meister des literarischen Deprimismus. Zwischendurch streichelt er seinen großen Hund und strahlt dabei wie ein kleiner Bub. Kaum zu glauben, dass hier einer der erfolgreichsten europäischen Gegenwartsautoren sitzt. Von der Terrasse seines Hauses in Andalusien kam die Botschaft, dass sich Monsieur Tristesse im materiellen Wohlstand eingerichtet hat. Man sieht es ihm nicht an, in seinem spießigen Kurzarm-Hemd am einfachen Holztisch. Aber die Unabhängigkeit, die ihm der Erfolg seiner Bücher verschafft hat, kommt ihm sehr gelegen:
"Ich konnte noch nie unter derart idealen Bedingungen arbeiten. Ich habe auf sämtliche Medien verzichtet und nur dieses Buch geschrieben. Verausgabt habe ich mich, bis zum letzten, nur auf ein Ziel konzentriert - ein bisschen wie Lance Armstrong. Bei "Plattform" habe ich zu viele Sachen nebenher gemacht. Diesmal habe ich alles andere vernachlässigt. Sogar meine Zahnpflege, ich habe mehrere Zähne verloren. Es ist natürlich verdammt gut, den Statut eines Schriftstellers zu besitzen. Man fühlt sich perfekt legitimiert, nichts sonst zu tun. Ich besitze nicht einmal mehr einen Personalausweis. Ich kann alle Probleme liegen lassen. Das ist gut."
Schreiben bis zur Selbstaufgabe. Was daran wahr ist und was geschickte Stilisierung – bei Michel Houellebecq ist das nicht immer leicht zu entscheiden.
Der Autor wurde im französischen Übersee-Département La Réunion als Michel Thomas geboren. Houellebecq war der Name seiner Großmutter. Als Geburtsjahr gibt er 1958 an. In Wirklichkeit sei er zwei Jahre älter, behauptet nun Denis Domenpion in seiner soeben erschienene Biografie über Houellebecq. Nur eine Veröffentlichung in einer Schwemme von Sekundärliteratur, die in den letzten Wochen zu Houellebecq in Frankreich auf den Markt kam.
Dass sich Michel Houellebecq so lange von der Öffentlichkeit abgeschottet hat, ist nicht zuletzt auch ein perfekter Marketing-Trick – die Spannung vor dem Erscheinen des neuen Romans sollte ordentlich angeheizt werden. Zu der effektvoll inszenierten Geheimniskrämerei gehörte auch, dass nur einige handverlesene Kritiker eines der sonst üblichen Vorabexemplare bekamen. Jedenfalls in Frankreich, der deutsche Verlag war weit weniger streng.
Der einflussreiche Leiter der Buchbeilage der französischen Zeitung "Le Figaro" - nicht dem exklusiven Zirkel der vorab bedachten Journalisten zugehörig - nahm die Sache ironisch und behauptete, er habe eines der künstlich verknappten Vorab-Hefte zufällig auf einer Pariser Parkbank gefunden. Seine kurze, scharfe Polemik gegen "Die Möglichkeit einer Insel" hat den finalen Countdown zur Literatursensation des Jahres eingeläutet.
Der Großautor Michel Houellebecq ist auch ein Großverdiener. Für das neue Buch hat er seinen alten Mittelstands-Verlag Flammarion verlassen und ist zu Fayard gewechselt. Rund anderthalb Millionen Euro sollen bei dem Deal geflossen sein. Aber Michel Houellebecq geht es nicht nur um Geld. Fayard gehört zu einem Medienunternehmen, das auch Spielfilme produziert. Film ist die neue Leidenschaft des Schriftstellers. Ein erstes Oeuvre ist auf der Inrockuptibles-DVD zu besichtigen: Ein 20-minütiger "film érotique": nackte Frauen auf grüner Wiese. Ein ziemlich fader Vorgeschmack auf die geplante Verfilmung von "Die Möglichkeit einer Insel", bei der Michel Houellebecq selbst die Regie führen will.
Der Protagonist in "Die Möglichkeit einer Insel" ist ein berühmter – ebenfalls reich gewordener Comedy-Star und Kabarettist, den ein Hang zu prächtigen Autos auszeichnet. Eine weitere Leidenschaft, die auch der Autor Houellebecq für sich entdeckt hat.
Ich hatte Lust, mich mit Autos zu befassen. Die spielen eine so große Rolle für viele Menschen. Das ist doch ihr einziges Vergnügen, jedenfalls ab einem bestimmten Alter. In Frankreich haben sie noch das Essen und den Wein, aber in anderen Ländern: höchstens noch Fußball - und eben die Autos. Das war eine Erfahrung, die mir vorher fehlte. Das ist interessant, ich war nicht enttäuscht. Gut, ich habe auch noch meine Liebe zu Hunden entdeckt, das auch noch, ja.
Hunde und Autos – die neuen Laster des einstigen Liebhabers von Swinger-Clubs und Sex-Tourismus. Nach Deutschland kommt Michel Houellebecq Mitte September. Auch hierzulande besitzt er eine große Fan-Gemeinde. Die Anziehung beruht auf Gegenseitigkeit.
In vier Städten sind Lesungen geplant. Die Fahrten zwischen Köln und Stuttgart, Berlin und Bochum will der Deutschland-Freund in seinem neuen Sport-Coupé zurücklegen.

Michel Houellebecq: Die Möglichkeit einer Insel
Dumont-Verlag, 380 Seiten, 24,90 Euro.