"Über die Entstehung der Arten"

Von Irene Meichsner · 24.11.2009
Als "Erdrutsch der Geschichte" wird Charles Darwins Evolutionstheorie heute von Biografen bezeichnet. Sein legendäres Werk "Über die Entstehung der Arten" erschien vor 150 Jahren erstmals.
"Die Theorie der natürlichen Auslese beruht auf der Annahme, dass jede neue Art dadurch gebildet und erhalten worden ist, dass sie irgendeinen Vorteil vor den konkurrierenden Arten voraushabe, infolge dessen die weniger begünstigten Arten fast unvermeidlich erlöschen."

Der Legende nach fiel Charles Darwin, dem Begründer der Evolutionstheorie, diese Erkenntnis wie Schuppen von den Augen, als er 1835 im Alter von 26 Jahren auf den Galapagosinseln 13 verschiedene Finkenarten sah, die sich mit ihren unterschiedlichen Schnäbeln an das jeweilige Nahrungsangebot angepasst hatten. Doch diesen Heureka-Moment hat es auf Galapagos nie gegeben.

Erst nachdem Darwin 1836 von seiner fünfjährigen Weltumsegelung zurückgekehrt war, kam er auf die kühne, anfangs noch vage Idee, dass der Artenvielfalt womöglich ein evolutionärer Entwicklungsprozess zugrunde lag. Ganz behutsam tastete sich der Privatgelehrte, der vom Vermögen seines Vaters lebte, an seine Theorie von der Evolution des Lebens heran.

"Wenn man diese Abstufung und strukturelle Vielfalt in einer kleinen, eng verwandten Vogelgruppe sieht, dann möchte man wirklich glauben, dass von einer ursprünglich geringen Zahl an Vögeln auf diesem Archipel eine Art ausgewählt und für verschiedene Zwecke modifiziert wurde","

… schrieb Darwin 1845 über seinen Aufenthalt auf Galapagos. Er war noch in dem Glauben aufgewachsen, dass jede Spezies einzeln von Gott geschaffen wurde. Und er war ein gewissenhafter, vielseitig interessierter Forscher. So gingen von der ersten Skizze bis zur Veröffentlichung seines Hauptwerks "Die Entstehung der Arten" am
24. November 1859 mehr als 20 Jahre ins Land.

Vermutlich hätte Darwin noch länger gezögert, wäre ihm nicht um Haaresbreite jemand anders zuvorgekommen. Im Juni 1858 erhielt Darwin einen Brief mit einem beigefügten Text von Alfred Russel Wallace, einem britischen Naturforscher, der jahrelang den indonesischen Archipel bereist hatte. Darwin las ganze Passagen, die auch aus seiner Feder hätten stammen können.

""Das häufige oder seltene Vorkommen einer Art ist von der mehr oder weniger vollkommenen Anpassung an die Existenzbedingungen abhängig. Überlegene Varietäten werden schließlich das Aussterben der ursprünglichen Art bewirken."

Darwin war entsetzt.

"Meine ganze Originalität, was auch immer sie wert sein mag, wird dadurch zunichte!"

Aus lauter Verzweiflung wollte Darwin Wallace schon die Priorität bei der Begründung der Evolutionstheorie zugestehen. Freunde fanden eine diplomatische Lösung: Bei einer turnusmäßigen Sitzung der Linné-Gesellschaft in London wurden am 1. Juli 1858 unmittelbar nacheinander Auszüge aus einem Manuskript von Darwin und demjenigen von Wallace verlesen. Nun endlich begann Darwin ernsthaft mit der Niederschrift seines Buchs.

Die erste Auflage wurde von seinem Verleger auf 1250 Exemplare festgelegt. Sie war innerhalb eines Tages ausverkauft. Durch seine Abkehr von der Vorstellung, dass die Vielfalt des Lebens dem planmäßigen Vorgehen eines christlichen Schöpfergottes zuzuschreiben sei, stieß Darwin vor allem beim Klerus auf erbitterten Widerstand. Im Übrigen sei die Evolutionstheorie aber keineswegs "nur als schockierend, beleidigend oder bedrohlich empfunden" worden, schreibt seine Biografin Julia Voss.

"Man lachte und scherzte darüber. Weite Teile der Öffentlichkeit machten sich einen Spaß daraus, immer absurdere Konsequenzen auszumalen."

Letztlich war der Siegeszug des neuen Weltbilds nicht aufzuhalten - einer der wohl folgenreichsten Paradigmenwechsel der Geschichte, da der Gedanke der evolutionären Entwicklung nicht nur die Biologie total veränderte, sondern auch in alle anderen Bereiche ausstrahlte - von der Theologie über die Philosophie bis zu den Sozialwissenschaften.

Auch Wallace erkannte Darwins Vorreiterrolle an. Er war der Erste, der die Bezeichnung "Darwinismus" verwendete. Darwin schrieb weitere Bücher, die einzelne Aspekte präzisierten. Erst 1871 ging er in seiner Abhandlung "Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl" explizit auf unsere Verwandtschaft mit dem Affen ein, mit dem der Mensch einen gemeinsamen Vorfahren teilt - ein anfangs schockierender, von den meisten aber bald akzeptierter Gedanke. Nach Darwins Tod 1882 wurde die Evolutionstheorie immer weiter entwickelt - ein Prozess, der bis heute nicht abgeschlossen ist.