Über den Schmerz der Vorfahren

Von Bettina Ritter · 07.04.2008
Der Niederländer Melvin Moti schreibt Geschichten und setzt sie in Bilder um. Meist verbindet er in seinen Filmen nicht zusammengehörende Szenen und Töne und schafft neue Geschichten. Er ist zu Gast bei der 5. Berlin Biennale.
Gesang aus dem Video "Stories from Surinam": "Hört die Geschichten der Menschen von Surinam, über den Schmerz unserer Vorfahren. Seid vorsichtig, meine Brüder. Dunkle Tage brechen an, seid vorsichtig."

"Die Geschichte überspringt einfach manche Punkte, so als wäre es nie passiert. Das sind richtige Lücken. Und ich habe festgestellt, dass manche dieser Geschichten in unsere Zukunft weisen, und gar nicht so historisch sind."

Gesang aus dem Video "Stories from Surinam": "Hört die Geschichten der Menschen von Surinam, über den Schmerz unserer Vorfahren. Seid vorsichtig, meine Brüder. Dunkle Tage brechen an, seid vorsichtig."

Ein alter Mann singt von den Anfängen der Sklaverei in Surinam, einem der kleinsten Länder Südamerikas. Die Kamera fährt vorbei an heruntergekommenen Holzhäusern, staubigen Straßen und verdorrtem Gras. Eine Siedlung in der ehemaligen niederländischen Kolonie. "Stories from Surinam" – Geschichten aus Surinam, so heißt der erste Videofilm von Melvin Moti aus dem Jahr 2002. Für die Dokumentation interviewte er noch lebende, ehemalige Sklaven. Der Älteste: 102 Jahre.

"Ich habe in dem Film meinen eigenen Stammbaum verfolgt - Menschen, die aus Indien nach Surinam gebracht wurden, um dort auf den niederländischen Plantagen zu arbeiten. Das Video, das ich dort gemacht habe, war mein künstlerischer Start. Danach wusste ich, was mich wirklich interessierte."

Sein indisches Erbe sieht man Melvin Moti an. Sein dunkler Teint, die schwarzen Augen und ein ganz leichter Akzent verraten ihn. Seine Eltern wanderten vor 33 Jahren aus Surinam in die Niederlande aus. Hier kam 1977 Melvin Moti zur Welt. Damit ist er der erste gebürtige Niederländer in seiner Familie.

"Meine Mutter ist Putzfrau, mein Vater Tischler. Ja, das sind richtige Jobs! Und ich habe zwei Brüder, einer arbeitet als Anwalt, der andere in der Wirtschaft. Eigentlich wollte ich ja Geschäftsmann werden, aber irgendwas ist da wohl schief gelaufen."

Mit 17 entdeckt Melvin Moti seine Leidenschaft für die Kunst, fängt an zu malen und wird an der Kunsthochschule in Tilburg angenommen. Über die Schwarz-Weiß-Fotografie kommt er schließlich zum Film. Er schreibt Geschichten und setzt sie in Bilder um. Oft geht es dabei um reale, historische Figuren, die in der Geschichtsschreibung nicht oder nur selten auftauchen. Wie der britische Militär-Offizier John William Dunne, der von Alpträumen geplagt wird, die in seiner unmittelbaren Zukunft Realität werden.

"Schon bald konnte ich mich nach dem Aufwachen an die kleinsten Details aus meinen Träumen erinnern. Die meisten waren äußerst unangenehm. Aber eines wurde mir klar: Meine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft waren ineinander verwoben. Und hier begann meine Faszination."

"Ich recherchiere viel, deshalb mache ich nur etwa einen Film pro Jahr. Ich jage ständig nach unbekannten Dokumenten und obskuren Beweisen für irgendwas. Außerdem sammele ich alles, was ich in Büchern finde, in Artikeln, Bildern und Briefen. Aus diesen Informationen entsteht dann die Arbeit."

Die Bilder in Motis Filmen stimmen selten mit dem Inhalt des Erzählten überein. Während beispielsweise der Offizier John William Dunne über seine übernatürlichen Erlebnisse spricht, sieht man, wie eine runde, bunt schillernde Seifenblase in extremer Zeitlupe zerplatzt.

"Ich lasse den Ton und das Bild aufeinanderprallen. Man sieht nie, was man hört, Ton und Bild sind vollständig voneinander getrennt. Der Ton erzählt eine Geschichte und das Bild eine völlig andere. Zusammen erschaffen sie eine ganz neue. Und das ist es, was mich interessiert."

Von seiner Kunst kann Melvin Moti inzwischen leben. Seine Werke sind in Ausstellungen in Europa und den USA zu sehen. Außerdem arbeitet er als Lehrer, besucht Studios von Nachwuchskünstlern und diskutiert deren Arbeiten. In Rotterdam lebt er mit seiner Freundin, einer Studentin. Keine Haustiere, keine Kinder, erzählt der 30-Jährige lachend.

"Ich reise sehr viel, entweder, um zu recherchieren oder um auszustellen. Deshalb mag ich es sehr, zu Hause zu sein. Dort arbeite ich am liebsten in der Küche mit meinem Laptop, Musik, meinem Telefon und natürlich Essen. Die Kuratoren kommen einfach vorbei, setzen sich an den Küchentisch und wir diskutieren über meine Arbeiten."

Und neben der Arbeit? Da sitzt er gern am Strand mit einem Cocktail in der Hand und schaut auf’s Meer, sagt Moti, lacht ironisch und macht auf diese Weise deutlich, dass ihm sein Leben dazu derzeit keine Gelegenheit lässt. Das wird auch eine Weile so bleiben. Denn Melvin Motis Karriere hat gerade erst richtig begonnen.