Über den Populismus der AfD

"Man darf nicht in Panik verfallen"

Unterstützer der Partei Alternative für Deutschland in Thüringen halten bei einer Demonstration der AfD in Erfurt Slogans auf Schildern in die Höhe.
Unterstützer der "Alternative für Deutschland" gehen für ihre Partei auf die Straße © picture alliance / dpa / Michael Kappeler
Der Historiker Volker Weiß im Gespräch mit Thorsten Jantschek · 01.04.2017
Zu einer Volkspartei reicht es nicht - dennoch gelingt es der Alternative für Deutschland (AfD) den politischen Debattenbetrieb mit provokant gesetzten Themen vor sich herzutreiben. Wie gelingt das dieser Partei?
Deutschlandradio Kultur: 6,2 Prozent hat die AfD bei den Landtagswahlen im Saarland in der vergangenen Woche bekommen. Angesichts der anstehenden Wahlen im Mai, vor allen Dingen der "kleinen" Bundestagswahlen in Nordrhein-Westfalen, also der Landtagswahlen natürlich, und der "großen" Bundestagswahl im September ging ein "Puh!" durch die Republik. Also, in der öffentlichen Wahrnehmung waren alle relativ erleichtert, ich übrigens auch.
Das ist doch eine ganz merkwürdige Reaktion auf eine demokratische Partei. Da fragt man sich: Ist diese Partei eigentlich demokratisch? Denn man muss sich ja schon fragen: Warum kommt diese Erleichterung zustande?
Volker Weiß: Ich denke, dafür gibt es durchaus Anlass auf der einen Seite, weil die Methoden, mit denen die AfD arbeitet, also indem sie vor allem Emotionen anspricht, Diskurse überhitzt, an Ängste appelliert, die können einen ja durchaus besorgt machen. Auf der anderen Seite würde ich warnen, jetzt zu beruhigt zu sein. Wir haben bis September noch viel Zeit. Und ich denke, die Bundestagswahl wird da noch einmal die Wahrheit ans Licht bringen, wie stark jetzt diese Form der Rechten, dieser Rechtspopulismus mit eher stark völkisch-nationalen Elementen wirklich im Land noch ist.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben es eben schon angesprochen. Diese Partei hat jetzt eine andere Ausrichtung. Bleiben wir doch nochmal ganz kurz bei der Saar-Wahl. Also, wenn man sieht, was da kommentiert wird, dann ist es auf der einen Seite irgendwie auch ein Stresstest gewesen, also eine Haltung, die letztendlich diese Partei gestärkt hat unter den Bedingungen, unter denen sie im Moment steht. Sie haben starke Flügelkämpfe. Und sie haben auch eine Zerlegung des Personals. Das ist sozusagen die eine Seite. Da wären 6,2 Prozent eine ganze Menge.
Auf der anderen Seite kann man nur immer wieder sagen: Ja, die AfD im Saarland ist eine ganz merkwürdige Partei. Der Landesvorsitzende Josef Dörr sucht Kontakte mit den ganz rechten und rechtsextremen Splittergruppen wie "Freie Bürgerunion", "Pfälzer Spaziergänger" und sogar der NPD. – Wie würden Sie das einschätzen?
Volker Weiß: Ja, Sie sprechen von Flügelkämpfen. Da bin ich schon mal sehr vorsichtig. Ich denke, das sind eher personelle Fraktionen, die sich innerhalb der AfD bekämpfen. Wenn ich mir die in den Medien doch sehr breit vorhandenen Flügel anschaue, auf der einen Seite um Frauke Petry und Marcus Pretzell und auf der anderen Seite Höcke, Gauland, Poggenburg: inhaltlich geben die sich in meinem Augen sehr, sehr wenig. Aber da geht es, glaube ich, sehr stark um Animositäten.
Der eigentliche Flügelkampf war der mit dem ja doch eher wirtschaftsliberalen Bernd Lucke, dem Parteigründer damals. Und diesen Kampf hat dieser ja doch eher rechte Flügel gewonnen.
Mich wundern die mangelnden Berührungsängste überhaupt nicht, weil das die gesamte AfD in meinen Augen kennzeichnet – bis hin zu dem ja angeblich moderaten Jörg Meuthen in Baden-Württemberg, der aber dann eben auch zur patriotischen Plattform an den Kyffhäuser fährt und es nicht schafft, innerhalb seiner eigenen Partei – Stichwort: Antisemitismus-Affäre in Stuttgart – dann wirklich aufzuräumen.
Deutschlandradio Kultur: Das ist ja schon merkwürdig. Die Partei hat sich 2013 gegründet, angetreten als Euro-skeptische Partei mit neoliberalistischen Einflüssen – hin zu einer national-konservativen Partei. Und mittlerweile spricht man von einer völkisch-nationalen Partei. – Wie kann das denn innerhalb von vier Jahren passieren?

Die AfD war immer ein Sammelbecken

Volker Weiß: Das liegt daran, dass die AfD von Anbeginn ein Sammelbecken war. Man muss verstehen, dass eine politische Rechte in Deutschland nur als Sammelbecken tatsächlich funktionieren kann, weil die Rechte einfach auch ein durchaus heterogenes Spektrum ist. Da findet man dann die Leute, die aus dem alten national-konservativen Flügel der CDU kamen und dort sich enttäuscht dann abgewandt haben – Stichwort Alexander Gauland.
Man findet Leute, die davor vielleicht ihr Seelenheil eher in Strömungen mit den Republikanern oder dem "Bund Freier Bürger" gesucht haben. Da wäre ein sehr prominentes Beispiel die Wochenzeitung "Junge Freiheit", die jetzt – kann man eigentlich schon sagen – das inoffizielle Parteiorgan der AfD geworden ist.
Man findet auch ein Spektrum aus dem christlichen Fundamentalismus. Das darf man nicht vergessen. Denken Sie an die großen Demonstrationen gegen die Gleichstellung von Homosexuellen und das Netzwerk von Beatrix von Storch, die "Zivile Koalition". – Das sind immer Sammelbewegungen.
Und das Anti-Euro-Thema, die Währungskrise, das war gewissermaßen der Startschuss. Aber unter diesem Oberthema, mit dem man angetreten ist und noch bei der Europawahl angetreten ist und fast einen monothematischen Wahlkampf gemacht hat, sammelte sich schon ein wesentlich breiteres Spektrum. Da ist dann natürlich der große Kampf, wer sich am Ende durchsetzt. Und als man erkannt hat, dass man mit der Migrationsthematik wesentlich weiter kommt in der Agitation, während man mit der Währungsthematik doch eher eine zweite FDP werden könnte, dann hat man eben umgeschwenkt. Und dann kamen die anderen Kräfte, die aber bereits vorhanden waren, stärker zum Vorschein.
Deutschlandradio Kultur: Ich wollte noch einmal auf die Frage zurückkommen, ob das denn wirklich eine demokratische Partei ist im ernsten Sinne. Würden Sie sagen, die AfD ist eine demokratische Partei?
Volker Weiß: Ich denke ja, also, der äußeren Struktur nach auf jeden Fall. Sonst könnte sie hier gar nicht antreten. Das musste ja quasi auch belegt werden. – Das Problem ist, dass sie dann in Personen von Björn Höcke beispielsweise auch auch immer wieder Figuren in ihren Reihen hat, und zwar in wesentlichen Positionen, deren Programm in langer Sicht nicht mehr mit einem demokratischen Ansatz vereinbar ist.
Deutschlandradio Kultur: In welcher Hinsicht?
Volker Weiß: Wir haben auf der einen Seite die Revitalisierung eines Radikal-Konservatismus, der eben nicht mehr konservativ ist, der sich fluchtet auf ein völkisch-autoritäres System. Das kann man auch an den Kontakten erkennen, die Björn Höcke hat. Also, da wäre als Stichwort das Institut für Staatspolitik in Schnellroda. Da hat er ja einen Mentor, könnte man fast sagen: Götz Kubitschek. In diesen Kreisen wird der gesamte Theoriekanon des historischen Faschismus aufgearbeitet. – Ich sage bewusst Faschismus, nicht Nationalsozialismus, also das Modell eines autoritären Führerstaats letztendlich, die Überbetonung der Nation.
Diese Einflüsse sind da. Und wenn man anguckt, wie diese Leute agieren und wie ihre vor allem begehrten Verwandten in Ungarn, in Russland, jetzt auch in Polen, bis hin die Türkei – also die Modelle, die bereits das umsetzen, was man dort anstrebt – da sehen wir einen Abbau von Demokratie, einen systematischen Umbau in einen autoritären Führerstaat.
Deutschlandradio Kultur: Das bedeutet auch, dass der Führer stärker wird und das Parlament schwächer.
Volker Weiß: Genau. Und wenn Sie dann anschauen, wie agitiert wird gegen doch recht wesentliche Institutionen der Gesellschaft, auf der einen Seite die breite Kampagne gegen die Presse unter dem Stichwort "Lügenpresse", die schon deswegen interessant ist, weil man selber eine wesentlich restriktivere Umgangsform mit der Presse wählt, und auf der anderen Seite auch das ewige Reden gegen das "Establishment", gegen die "rot-grün-versiffte Gesellschaft", ihre Institutionen: Da sieht man, dass da doch ein wesentlich radikalerer Ansatz darunter steckt.
Deutschlandradio Kultur: Wenn man Ihr Buch liest, Herr Weiß, dann gibt es eine starke These, nämlich dass die Neue Rechte im Grunde genommen die Denkmotive der "alten" Rechten wieder aufnimmt. Mit der "Alten Rechten" meinen Sie vor allen Dingen die der 1920er-Jahre. Sie haben drei Stichpunkte ins Feld geführt: Identität statt Liberalismus, Wärme statt Ökonomie und Abendland statt Europa.
Lassen Sie uns diese drei Punkte mal abschreiten. Also, Identität statt Liberalismus: Da ist es doch merkwürdig. Die AfD setzt extrem auf die Migrationsthematik, sagt, unser Umgang mit den Flüchtlingen sei illegitim. Man darf sie gar nicht einreisen lassen. Aber das eigentliche Motiv, das Sie herausarbeiten, ist sozusagen ein Antiliberalismus, also ein Vorgehen gegen den freiheitlichen-pluralistischen Staat und das Verständnis von einer freiheitlich-pluralistischen Gesellschaft. Und Sie führen es zurück auf Denkmotive in den 20er Jahren. – Wie kam denn das?
Volker Weiß: Nun also zum einen: Identität ist natürlich ein Thema, das alle umtreibt. Die Frage ist, wie man diese Identität begreift. In diesen Kreisen wird Identität schicksalhaft konstruiert und ethnokulturell. Das ist eigentlich das Stichwort. Das heißt, die Identität des Einzelnen ist gekoppelt an das, was als Volksschicksal gesehen wird. Und das ist ein Prozess, der sich über tausend Jahre letztendlich erstreckt.
Das kann man übrigens sehr gut sehen in Reden, die Björn Höcke und auch Götz Kubitschek gehalten haben. Da wird dieses ewige Deutschtum tatsächlich auch immer wieder beschworen.
Und das ist deren Vorstellung von Identität. Sie ist nicht eine prozesshafte Angelegenheit, die sich wandeln kann im Laufe eines Lebens, die stark auf das Subjekt, auf seine Entscheidungen gefluchtet ist. Und der Kampf gegen diesen Liberalismus, ich würde weitergehen, es ist eigentlich ein Kampf gegen die Aufklärung. Es ist der alte Konflikt zwischen den Werten der Aufklärung auf der einen Seite und den Werten eines Ancien Régime, also eines von höheren Mächten – ob jetzt Gott, Königtum oder in der Moderne Führertum – bestimmten Schicksals. Und das ist die große Frontlinie, die da immer wieder sichtbar ist.
Ich finde es interessant, dass man für diese Debatten tatsächlich einen Textkanon wiederbelebt, der in den 20er-Jahren relevant war. Das ist ja jetzt nicht eine Projektion von mir, sondern das kann man ganz konkret an deren eigenen Schriften und Debatten nachzeichnen, dass dort Männer wie Carl Schmitt, der in den 20er, vor allem dann den 30er-Jahren, aber auch in der Nachkriegszeit ganz wichtig war für das radikale Denken der Rechten, eine große Rolle spielen. Oswald Spengler wird immer wieder beschworen. Man hat eine große Verehrung für Autoren wie Ernst Jünger, auch für heute weniger bekannte Autoren, Arthur Moeller van den Bruck, Edgar Julius Jung, bis hin zum ganz radikalen antidemokratischen Denken des 19. Jahrhunderts. Dononso Cortez wäre ein Beispiel, der viel diskutiert wurde auch in diesen Kreisen.
Also, die Formen der Identität, die dort geschätzt werden, das sind andere als wir sie heute unter uns eigentlich gemeinhin verstehen. Das ist auch der Trick. Jeder kämpft um seine Identität. Aber dort wird unter Identität eben ein kollektives Schicksal, ein metaphysisches Schicksal verstanden.
Deutschlandradio Kultur: Und der alte Rassismus ist abgeschmolzen zu einem Ethnopluralismus, wobei Ethnopluralismus meint, dass jede Ethnie in ihrem historisch angestammten Raum gleiches Recht hat. Also, da werden natürlich ein biologistisches Motiv mit einem historischen Motiv verschmolzen – die Ethnie in ihrem Raum.

Wichtiger als die Migrationsfrage ist die Frage der Geschlechteridentität

Volker Weiß: Ja. Am Ende fluchtet das sich eben dann immer wieder auf einen biologisch definierten Volksbegriff. Deswegen sind das häufig auch einfach Nebelkerzen. Man könnte genauso gut von Rassismus sprechen, aber dieser Begriff ist eben verbrannt. Daher gibt es den Begriff des Ethnokulturellen oder des Ethnopluralismus. Da findet auch immer eine Vermischung statt von Natur und Kultur. Das ist auch sehr, sehr wichtig. In der Regel ist hier der Bereich der Kultur die Überwindung der Natur.
Im rechten Denken wird die Kultur immer wieder auf die biologischen Anlagen der Rasse zurückgeführt. Deswegen kann man auch aus diesem Schicksal nicht raus. Und deswegen wird auch natürlich gegen jede sogenannte Vermischung gestritten.
Und es gibt einen zweiten Teil, der in diesen Identitätsdebatten noch sehr wichtig ist und – manchmal denke ich – fast noch wichtiger als die Migrationsfrage. Das ist die Frage der Geschlechteridentität. Die Agitation in allen Bereichen der Rechten gegen eine Kritik von Geschlechterrollen, die Versuche, traditionelle Geschlechterrollen wiederzubeleben, die beißenden Polemiken gegen jede Form der Gender-Theorie, die eben geschlechtlich nicht auf Biologie, sondern auf Gesellschaft zurückführt, das hat eine immense Zugkraft.
Und wenn Sie sich Männlichkeitsbilder anschauen, wie sie dort verhandelt werden, dann finden Sie wirklich ganz altbackene Konzepte, die teilweise wirklich zurück in die Höhle wollen. Es gibt einen Autor, der im Verlag von Götz Kubitschek verlegt wird, Jack Donovan. Der argumentiert, dass die Gesellschaft eigentlich aus einer Band von Kriegern bestehen muss, die von Männern dominiert wird. Und die Frauen werden hier mitgeschleppt zur Reproduktion. Plündern und Vergewaltigen sind dann eben…
Deutschlandradio Kultur: Kollateralschäden.
Volker Weiß: Genau, Kollateralschäden. Das ist das eigentliche Gesellschaftsbild. Das fügt sich sehr gut entweder in den Gedanken einer überlegenen Ethnie, also wie es der klassische Rassismus formuliert, oder in den Gedanken eines Sozialdarwinismus, der sich auch wirtschaftlich dann Bahn brechen kann. Das sind ganz alte Themen, die wir da haben.
Deutschlandradio Kultur: Björn Höcke sagt: "Der Islam ist nicht mein Feind. Unser größter Feind ist die Dekadenz." Und das meint eben den Liberalismus, das meint eben eine Gesellschaft, die mit den Geschlechterrollen liberal umgeht usw. usw., die offen ist. – Dann heißt das doch eigentlich, dass der Islam zwar ein Gegner ist, eine Ethnie in ihrem Raum, aber da soll sie auch bitteschön bleiben.
Volker Weiß: Ja. Zum einen wird der Islam tatsächlich ethnisch begriffen, was natürlich Unfug ist bei Religionen, weil die Konversion tatsächlich ja immer gegeben ist. Aber man sagt, es gibt von einem anderen Denker aus diesen Reihen das Zitat, dass der Islam im Wesentlichen von jüdischen und arabischen Beduinenvölkern zur Expansion genutzt wurde. – Also, da fließt dann auch wieder das biologische Motiv hinein.
Aber, und das prägt tatsächlich sehr viele rechte Theoretiker, wenn man genau hinschaut: Man hat auch Respekt vor dem Islam, also, zumindest vor dem, was Fundamentalisten unter Islam verstehen, weil, der Islam kennt auch schlicht und ergreifend liberale Praxis und eine liberale Geschichte. Im Moment zeigt die sich nur leider nicht.
Man hat aber vor diesem fanatisch sich gerierenden Fundamentalismus einen unglaublichen Respekt, weil er all das hat, was man selber gerne hätte. Man möchte ihn nur nicht hier haben. Man sieht ihn aber geostrategisch fast schon als Verbündeten, wenn er auf der anderen Seite des Mittelmeers eben bleibt, weil die Migration, die Einwanderung und damit das Vordringen des Islam in Europa nur als eine Folge der Kriegsniederlage von 1945 gesehen wird und der darauf folgenden Amerikanisierung, wie es dann heißt, der europäischen Gesellschaften.
Also, wir reden über Leute, die ein doch sehr umfassendes Geschichtsdenken vorweisen.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt dann auch, dass da ein Anti-Amerikanismus vorherrscht. Denn normalerweise würde man Abendland und Westen ja fast in eins fallen lassen sozusagen in unserem landläufigen Denken.
Volker Weiß: Ja, wobei das ein Nachkriegsdenken ist. Dass die USA ins Abendland eingemeindet wurde, ist eine Folge des Kalten Krieges vor allem in den 50er-Jahren gewesen. Der Abendlandbegriff ist so wandelhaft. Die Amerikaner gehören da historisch eigentlich gar nicht rein, weil der Abendlandbegriff ursprünglich mal gefluchtet war auf das römisch-lateinische Christentum. Aber klar: Der Anti-Amerikanismus ist in diesen Kreisen sehr stark verbreitet, weil man zwei Sündenfälle sieht. Das eine, da muss man dann immer schmunzeln, aber so wird gedacht, ist die Intervention 1917 im Ersten Weltkrieg, die führt die Kriegsniederlage des Deutschen Reichs herbei, und dann eben die Beteiligung am Zweiten Weltkrieg und die Aufteilung der Sphäre in westliche und östliche Interessensgebiete.
Und damit findet etwas statt, was man den Amerikanern nicht verzeihen kann, obwohl es eigentlich wenig mit Amerika, sondern sehr viel mit westlicher Moderne zu tun hat, nämlich diese – wie Sie ja gesagt haben – Liberalisierung der Gesellschaften, Demokratisierung, die Auflösung der autoritären Traditionen. Alles, was gemeinhin unter 68, unter dieser Formel verhandelt wird, das wird identifiziert, obwohl es nicht unbedingt stimmt, mit Amerikanismus. Daher sieht man da eigentlich den Haupttäter. Björn Höcke sagt das ja auch selber. Er spricht ja von "induziertem Irrsinn" in seiner Dresdner Rede. Also, die Europäer, die Deutschen zumal, wurden quasi sich selbst entfremdet nach dem Zweiten Weltkrieg. Und erst aufgrund dieser Selbstentfremdung kann dann die Migration stattfinden. So ist deren Argumentation.

Der Abendlandbegriff ist ja eine hohle Formel

Deutschlandradio Kultur: Wir sind jetzt schon quasi in der Debatte um das Abendland. Da ist das Merkwürdige, dass nicht Abendland versus Islam – da würde man heute eher dazu neigen – thematisiert wird, sondern Abendland statt Europa. – Was bedeutet das denn? Abendland war ja zunächst, also historisch gesehen erstmal ein Begriff innerhalb der christlichen Kirche. Das war die Westkirche, also Rom gegen Byzanz, versus Ostkirche.
Volker Weiß: Gut. Und er Europabegriff kommt in den 50er-Jahren dann vor allem im Rahmen der deutsch-französischen Verhandlungen eben über einen europäischen Wirtschaftsraum hinzu und ist aber ein säkularisierter Begriff, der aufgrund seiner Modernität dann tatsächlich nach Ende der 50er-Jahre eigentlich die Politik bestimmt. Und der Abendlandbegriff ist ja eine hohle Formel letztendlich. Wir haben den Konflikt zwischen Ost-Rom und West-Rom, das ist die Grundformel, griechisch-byzantinisches Christentum, römisch-lateinisches, und darin immer ja noch die heute vergessene Geschichte, dass das Christentum im Orient stark verbreitet war.
Dieser Konflikt zwischen Ost- und West-Rom, der verschwindet und wird eigentlich dann abgelöst durch eine Wiederbeschwörung in den 20er-Jahren gegen die Sowjetunion. Da traumelt dann vor allem das katholische Europa unter dem Begriff des Abendlandes gegen die "Rote Gefahr" aus dem Osten. Da schwingen die alten Motive gegen die russische Orthodoxie, also die byzantinisch geprägte Kirche gewissermaßen, die schwingen dann wieder mit hinein, obwohl die Sowjetunion damit eigentlich recht wenig zu tun hatte. Und nach der Kriegsniederlage von 1945 war man auf der Suche auch in konservativen Kreisen nach einer neuen Identität. Und wieder vor allem im katholischen, im politischen Katholizismus gibt es dann eine kurze Phase der Wiederbelebung des Abendlandbegriffes.
Dem gegenüber stand dann recht schnell ein Europabegriff, der sich als wesentlich zukunftsgewandter bewiesen hat.
Jetzt haben wir natürlich eine europäische Krise. Da ist es kein Wunder, dass dann der alte Begriff des Abendlandes revitalisiert wird.
Deutschlandradio Kultur: Der ja auch verbunden ist mit dem Reich, also sozusagen gegen eine transnationale Konstellation Europa, wo europäisches Recht auch eingreift in die nationalen Rechte.
Volker Weiß: Genau. Und wenn man dann klassisch zurückschaut, dann sieht man natürlich, dass die Zusammenarbeit von Papsttum und Kaisertum im alten Heiligen Römischen Reich, und es gibt eine zweite Folie, die auch in rechten Kreisen durchaus eine Rolle spielt, das ist das Rhein-Europa der Karolinger, das nicht ganz mit dem Abendland sich deckt, aber da letztendlich draus hervorgeht. Da haben wir dann den Europabegriff, aber eben in Form des Rhein-Europas. Das wird dann eben diskutiert als die Notwendigkeit einer deutschen Dominanz in Europa.
Also, selbst wenn sie europäisch diskutieren, wird immer noch der nationale Ausweg genommen.

Wenn Wirtschaftsliberalismus mit dem autoritären Staat fusioniert

Deutschlandradio Kultur: Der dritte Aspekt, den ich vorhin angesprochen habe, ist ein besonders interessanter. Da hatten Sie gesagt in Ihrem Buch: dass ein Denkmotiv ist Wärme statt Ökonomie. Wenn man anschaut, wie die AfD gestartet ist 2013, dann war das ja eine Partei, die auf Ökonomie, auf die kalte Ökonomie des Neoliberalismus gesetzt hat. Auch da gab es mittlerweile eine Kehrtwende, wo im Grunde genommen eine linke Ökonomie in ein rechtes Parteinspektrum eingedrungen ist, nämlich zu sagen: Wir brauchen Gerechtigkeit, wobei Gerechtigkeit komplett anders verstanden wird.
Es ist nicht die Umverteilung von oben nach unten, sondern von außen nach innen. Also, es werden immer Vergleiche gezogen: Ein Flüchtling kostet am Tag soundso viel, wesentlich mehr als "unser" Hartz-IV-Empfänger kostet. Das sind so Denkmotive, die da plötzlich aufscheinen in dieser Partei.
Volker Weiß: Ja, wobei ich da gleich korrigieren muss. Ich halte das nicht für eine linke Ökonomie. Also, wir reden da über Protektionismus. Und Wirtschaftsprotektionismus war im 19. Jahrhundert vor allem die Handschrift der Konservativen, also der wirklich Ultrakonservativen. Insofern können wir da gar nicht über linke oder rechte Ökonomien reden.
Es geht – Stichwort "Wärme" – wieder hier um Identität auf der einen Seite. Und man beschwört dann ein ökonomisches Modell, dass eben wieder stärker national und mittelständisch funktioniert, und additiert zumindest antiglobalistisch. Ich denke aber nicht, und dann schauen wir eben in die USA, und Donald Trump gilt ja durchaus als Vorbild in diesen Kreisen, dass das tatsächlich umgesetzt wird.
Der Wirtschaftsliberalismus, wenn er sich mit dem autoritären Staat fusioniert, und da gibt es Modelle, man nennt das dann Ordoliberalismus beispielsweise, ist durchaus auch für Rechte praktikabel. Da würde ich mir keine Hoffnungen machen. Diese Leute sind alles andere als Freunde von Gewerkschaften, von gewerkschaftlicher Mitbestimmung. Man möchte aber die Globalisierung deswegen einhegen, weil man die Folge fürchtet oder bekämpft. Wir haben in der Globalisierung Zirkulation von Waren und Kapital und logischerweise auch Zirkulation von Arbeitskräften, sprich, von Menschen. – Das heißt Migration. Und das ist der große Feind.
Also, man hätte gerne eine kapitalistische Ökonomie, die aber ohne ihre Folgen auskommt.
Deutschlandradio Kultur: Wie konnte denn dieses alte Denken, also, wir reden ja jetzt immer davon, dass die drei Denkmotive, die wir eben schon angesprochen haben, überführt worden sind aus den 20er Jahren in die Gegenwart, wie konnte das denn eigentlich geschehen? Denn dazwischen liegt ja der Nationalsozialismus. Da würde man ja sagen: In dem Moment, wo der Nationalsozialismus politische Praxis mit diesen Gedanken betreibt, hat man ein Legitimationsproblem. Denn im Hintergrund steht der Holocaust.
Volker Weiß: Ja gut, aber bis das die deutsche Gesellschaft begriffen hatte, vergingen ja einige Jahrzehnte. Also, die Debatten um den Holocaust hatten ihre Hochphase während der Auschwitzprozesse, aber tatsächlich also eher in den 60er-Jahren. Aber tatsächlich ins gesellschaftliche Bewusstsein eingewandert ist das Ende der 70er-Jahre, als es dann nochmal eine sehr breite Debatte gab und sich auch die Forschung da stärker drauf konzentriert hat.
Also, auf der einen Seite, wir haben ja eben nicht die berühmte Stunde Null nach 45. Die Menschen waren ja noch da und die Köpfe, in denen davor das NS-Gedankengut und andere Formen waren. Insofern, war es in der Latenz ist es ja nie verschwunden gewesen. Es hat eben abgenommen tatsächlich mit dem Kulturbruch oder dem Generationswechsel von 68. Also, da findet eine Wende statt. Das ist einer der Gründe, warum dieses Datum immer derartig bekämpft werden muss.
Ja, und dann haben wir natürlich den zweiten Faktor, dass man in der Nachkriegszeit eine Möglichkeit gefunden hat, rechtes, ultranationales Denken wiederzubeleben und dabei den Komplex Nationalsozialismus mit allen Folgen zu umschiffen, indem man nämlich genau diesen Kanon der 20er-Jahre wieder aus der Versenkung hervorgeholt hat und dabei eben einen Akteur, der wirklich persönlich ganz zentral eine Rolle spielt, Armin Mohler, weniger Agitator als eigentlich Organisator und Intellektueller, der einen Denkraum schuf, den man als konservative Revolution bezeichnete. Und genau das war die Mogelpackung, dass man einen Textkanon genommen hat und behauptet hat, der hätte gar nichts mit dem NS zu tun.
Und wenn man sich die Autoren dann anschaut, ich habe sie vorhin ja genannt, da gab es immer wieder biographische Übergänge in den Nationalsozialismus hinein. Also, Carl Schmitt ist nun wirklich bekannt. Es gab eine ganze Reihe von Autoren, die vielleicht nicht Hitler, aber Mussolini bewundert haben. Und diese Texte, dieses Denken wurde dann über das Netzwerk von Mohler, der ganz hervorragend vernetzt war,…

Das Gedankengut wurde immer gepflegt, aber eher im Hintergrund

Deutschlandradio Kultur: Unter anderem Redenschreiber von Franz-Josef Strauß.
Volker Weiß: … von Strauß, genau – wurde am Leben erhalten gewissermaßen. Und es gab diese Kreise immer. Es gab sie über Jahrzehnte. Sie waren eher nur im Hintergrund tätig und hatten in den 80er-Jahren Jahren auch noch gute Verbindungen in die CDU. Denken wir an Süddeutschland, an das Studienzentrum Weikersheim. Das war damals ein, man könnte sagen, Brennpunkt von diesen Kreisen. Und jetzt sind sie eben wieder stärker an die Oberfläche getreten. Also, das Gedankengut wurde immer gepflegt, aber eher im Hintergrund.
Deutschlandradio Kultur: Nun gibt es ja heutzutage die neue Rechte. Und das Bundesamt für Verfassungsschutz geht von einer Intellektualisierung des Rechtsextremismus aus, unter anderem durch diese Denkfabrik in Schnellroda, dem Institut für Staatspolitik, aber eben auch durch eine Breitenwirkung, die mittlerweile stattfindet über die "Junge Freiheit", die rechte Wochenzeitung. – Wie hat diese Intellektualisierung der Rechten denn eine breite Öffentlichkeit gefunden, die jetzt auch in der AfD immer noch wirksam ist?
Volker Weiß: Diese Intellektualisierung ist in erster Linie, glaube ich, eine Verbürgerlichung oder Verbreiterung der bürgerlichen Basis dieser Kreise. Tatsächlich war die parteiförmig extreme Rechte fast schon ein subkulturelles Phänomen bis vor einigen Jahren. Jetzt haben wir den berüchtigten "Wutbürger". Und da tauchen jetzt Stichworte auf in den Debatten, in den Zeitungen auch, Sie haben die "Junge Freiheit" genannt, die davor wirklich nur zirkulierten in den kleinen abgehobenen Zirkeln dieser konservativen Revolutionäre, die ohnehin im Hintergrund auch bleiben wollten.
Da sehe ich einen ganz konkreten Dammbruch. Das ist diese Sarrazin-Debatte. Thilo Sarrazin hat selber eben mit Begriffen und Motiven gearbeitet und da plötzlich eine breite Masse in der Bevölkerung erreicht…
Deutschlandradio Kultur: Mit seinem Buch "Deutschland schafft sich ab".
Volker Weiß: Genau, 2010/2011. Und plötzlich waren Begriffe, die eben bisher in diesen rechtsintellektuellen Kreisen kursierten, im breiten Mainstream angekommen und konnten rezipiert werden, weil sie nicht aus dieser Ecke kamen, weil Sarrazin das SPD-Parteibuch hatte.
Es gab danach diverse Autoren aus diesen neu-rechten Kreisen, die sich quasi beschwert haben, das sagen wir doch schon immer, und verwundert waren, warum das jetzt klappt. Es konnte aber eben nur klappen, weil Sarrazin nicht in diese Gruppe gehörte. Und wir können gleichzeitig sehen, dass damit dann auch die Medien, also die "Junge Freiheit" als ganz konkretes Beispiel hat eine rechte Kampagne gefahren, um auf diesen Sarrazin-Erfolg aufzuspringen. Und dann beginnt auch dieses Steigen der Auflage letztendlich. Also, da findet ein Dammbruch statt, der eben aus gutbürgerlichen Kreisen kam.

Die AfD ist kein Phänomen der Unterschichten

Deutschlandradio Kultur: Und damit beginnt auch das, was wir heute Rechtspopulismus nennen. Das ist ja eigentlich ein pejorativer, ein Schimpfbegriff, der mittlerweile aber von der AfD und auch von den europäischen Rechtspopulisten als Ehrenabzeichen sich an die Brust geheftet wird. Also, Konrad Adam zum Beispiel hat auf dem Gründungsparteitag der AfD gesagt: "Wenn unsere Volksvertreter ihre Aufgabe darin sehen, das Volk zu entmündigen, sollten wir selbstbewusst genug sein, den Vorwurf des Populismus als Auszeichnung zu betrachten." – Ist das mittlerweile sozusagen so breit in der Bevölkerung angekommen?
Volker Weiß: Ich denke, ja. Wobei, diese beschriebene Technik ist sehr typisch, dass man die Lackierung der anderen Seite positiv wendet. Das gehört zu dieser großen Opferinszenierung dieser Leute immer dazu, sich eben positiv zu identifizieren.
Ja gut. Der Populismus ist ja vor allem erstmal eine politische Technik, die nicht unbedingt gebunden ist an eine politische Richtung. Wir haben Populismus der Mitte, das ist in meinen Augen eigentlich der stärkste. Und es gibt einen Linkspopulismus. Insofern gibt es auch einen Rechtspopulismus. Aber er ist eben gekennzeichnet durch bestimmte Rhetoriken, eben vor allem dem vermeintlichen Kampf gegen das "Establishment".
Und der wird, und das ist das Amüsante eigentlich schon dabei, im Rechtspopulismus von Leuten geführt, die selber zu diesem "Establishment" gehören. Da haben wir, wenn wir in die USA schauen, in Donald Trump quasi einen Widerspruch in Person.
Wir hatten davor, das Phänomen ist ja eben nicht neu, wir hatten schon in Jörg Haider in Europa eine Figur, die genau das Gleiche geschafft hat, auch immer im Spiel, die historischen Elemente der Rechten sich anzueignen, damit irgendwie auch zu hantieren, wir kennen seine berüchtigten Äußerungen über die Arbeitsmarktpolitik des Dritten Reichs und den guten Charakter von SS-Leuten usw., und gleichzeitig selber diesem Establishment – er war ein sehr reicher Mann – zu entstammen. Und Haiders FPÖ war über Jahre... - wenn wir dann in die die "Junge Freiheit" mal zurückblättern, diese Zeitung, das war deren Vorbild. Genau so etwas wollte man auch haben, auch schaffen. Und jetzt hat man es geschafft.
Mit der AfD hat man diesen Politikstil hier eingeführt. Aber er ist ja in Europa mittlerweile überpräsent.
Deutschlandradio Kultur: Ist die AfD auf dem Weg zu einer Volkspartei?
Volker Weiß: Das glaube ich nicht. Also, wenn ich mir auf der einen Seite die aktuellen Zahlen anschaue…
Deutschlandradio Kultur: Etwa bei sieben Prozent.
Volker Weiß: Ich denke, wir lernen im Moment gerade, dass diese diese Selbstberuhigung, dass die extreme Rechte ein Phänomen der Unterschichten sei, dass die einfach nicht stimmte. Die AfD hat ein ganz anderes Profil – gut verdienende und auch gut ausgebildete Leute, vor allem Männer und eben nicht nur junge Leute. Aber eine Volkspartei würde tatsächlich, sagen wir, auch einen Draht zu den Gewerkschaften, zu den Kirchen usw. entwickeln, also wäre viel, viel breiter aufgestellt.
Man darf da bitte nicht in Panik verfallen. Das ist mir wirklich immer sehr wichtig. Die AfD ist ein großes Problem. Es ist ja nicht die neue Rechte, aber sie hat diese neue Rechte mit ihren wirklich auch neofaschistischen Elementen in sich enthalten.
Aber ich sehe jetzt nicht, dass sie kurz vor der Machtübernahme steht. Im Moment ist der Trend ja eben wieder rückläufig. – Was sie schaffen wird, und das gehört mit in die Strategie dieser Parteien hinein, sie wird es schaffen, die anderen Parteien vor sich herzutreiben mit ihren Themen. Sie setzt Themen und dann müssen die anderen dann übers Stöckchen springen.
Deutschlandradio Kultur: Aber "keine Panik", sagt Volker Weiß. Sein Buch "Die autoritäre Revolte: Die neue Rechte und der Untergang des Abendlandes" ist im Klett-Cotta-Verlag erschienen zum Preis von 20,00 Euro.

Volker Weiß: Die autoritäre Revolte: Die neue Rechte und der Untergang des Abendlandes
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2017
304 Seiten, 20 Euro

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