Über das Mensch-Sein

09.06.2008
Die Autorin Deborah Eisenberg schaut rücksichtslos genau ins gnadenlose Lebenschaos des Einzelnen. In ihrem Erzählband "Rache der Dinosaurier" beschreibt sie die Reiche zwischen Traum und Realität, zwischen klarem Verstand und Wahnsinn mit sowohl menschenkluger als auch gesellschaftsanalytischer Intelligenz.
Es ist nicht immer leicht, am Morgen aufzuwachen und den Weg vom Schlaf zum Tag zu finden, das Zwischenreich zu verlassen. Nicht mehr zu träumen, sondern die Realität zu sehen, sie zu begreifen womöglich.

Die amerikanische Autorin Deborah Eisenberg interessiert sich für Zwischenreiche im Leben, in denen man sich neu sortieren, neu orientieren muss oder müsste. Nicht alle schaffen den Aufbruch - sei es nach dem Tod des Lebenspartners, dem Anschlag auf die Zwillingstürme am 11. September, nach einer privaten oder gesellschaftlichen Desillusionierung.

Eisenberg beschreibt keine Nischen, in denen man sich verbergen könnte, um der Welt zu entkommen, sondern Traumvernichtungsmomente, Momente der verstörenden Klarsicht, in denen Gewalt aufscheint in der Liebe oder Verrat an der Moral, in denen Wahnsinn und Normalität wie kaum unterscheidbare Zwillinge die Menschen bewohnen.

Da ist beispielsweise John, der offenbar viele Jahre lang für Firmen in Ländern der sogenannten Dritten Welt gearbeitet, in anderen Worten, Ausbeutung betrieben hat. Sein Sohn hat Verfolgungswahn. Redet scheinbar wirres Zeug und ist doch auf seine konfuse Art von bestechend hellem Scharfsinn im Vergleich zu den verheuchelten Vertuschungen seines Vaters und dessen Geschäftskumpanen.

Die Mutter versucht zu vermitteln, verzweifelt, verdrängt, will nicht sehen, was ihr Mann im Namen des patriotischen Profits betreibt, wie ihr Sohn an den Rand seines Verstands driftet - und flieht. In ein Hotelzimmer mit einem Fremden, den sie gerade erst im U-Bahnhof kennengelernt hat. Das ist so überraschend ironisch wie desperat. Zeigt doch dieses neurotische Hineinstürmen in die Sackgasse des fremden Bettes die vollkommene Kapitulation vor der Wirklichkeit.

Deborah Eisenberg hat unter anderem Anthropologie studiert, die Lehre vom Menschen, und über das Mensch-Sein schreibt sie. Und tut es so eindringlich, dass man tief eintaucht mit ihr in die weiten Gewölbe von Hirnen und Seelen, in denen alle möglichen Sehnsüchte, Ängste, Lebenslügen und wackligen Lebenslüste zu Hause sind.

Da sitzt ein elender Nörgler, verzweifelt ob seiner eigenen Grämlichkeit schluchzend, am Küchentisch. Da verliert ein alternder Galerist nicht nur seine Frau, sondern nach dem 11. September auch sein New York. Da werden die routinierten Stadtneurotiker heimgesucht von neuen Verstörungen. Nie beschreibt Eisenberg ihre Figuren als frei schwebende Wesen, die wurzellos in ihren Gefühlen herumirren. Immer sind sie eingebettet in die gesellschaftliche Realität des zeitgenössischen Amerika. In eine Atmosphäre melancholischer Ratlosigkeit und hilfloser Brutalität.

Und so kann es geschehen, dass man mitten in einer Erzählung auf einmal mehr vom Irrsinn der Welt versteht als man vielleicht möchte. Einer Welt, die auf den 11. September nicht mit dem Ende der Ausbeutung unterdrückter Völker reagierte, die kein neues Verständnis entwickelte für andere Kulturen, ganz gewiss keine neue Moral.

"Die Stümpfe der zerstörten Türme schwelten noch bis weit in den Herbst hinein.(....) Inzwischen las man, dass Manager die Ersparnisse ihrer Anleger und die Pensionen ihrer Angestellten in die eigene Tasche gesteckt hatten."

Diese Autorin, so schrieb einmal ein amerikanischer Kritiker, habe einen makellosen Blick. In der Tat: Ihr entgeht nichts. Sie schaut rücksichtslos genau ins gnadenlose Lebenschaos. Mit so menschenkluger wie gesellschaftsanalytischer Intelligenz. In einer so nachdenklich geraden wie bildvergnügten Sprache.

Rezensiert von Gabriele von Arnim

Deborah Eisenberg: Rache der Dinosaurier
Aus dem Amerikanischen von Thomas Überhoff und Nikolaus Hansen
Erzählungen.
Hanser Verlag 2008
223 Seiten, 17.90 Euro