Über das Leben im Alter

02.12.2010
Die Memoirenliteratur blüht. Doch es ist seltsam: Während die meisten der in die Jahre gekommenen Autoren sich gern an Herkunft, Jugend und die weite Ebene des Erwachsenseins erinnern, fehlen diejenigen, die literarisch den wechselhaften Prozess des Alterns bezeugen.
Dabei dauert heutzutage diese Etappe des Lebens doch weitaus länger als je zuvor. "Man hört nicht viel über den Abgang", stellt Diana Athill mit lapidarer Knappheit fest und schildert in "Irgendwo ein Ende" diesen Prozess, in dem sie selbst schon weit vorangekommen ist, mit eindrucksvoller Vitalität.

Die englische Autorin ist 93 und eine der 'grand old ladies' der Londoner Verlagsszene. 50 Jahre lang begleitete sie als Lektorin die Stars der Literatur wie Elias Canetti, Jean Rhys, Philip Roth oder VS Naipaul. Bis vor kurzem war sie noch im Geschäft, heute schreibt sie Buchkritiken, Zeitungsartikel und gelegentlich Kolumnen für den "Guardian". Seit 2000 sind fünf Bände ihrer Erinnerungen erschienen, davor zwei autobiografisch inspirierte Romane.

In ihrem Buch über das Leben im Alter schildert sie nun, wie sie mit dem "allmählichen Verschwinden" zurechtkommt (oder auch nicht), mit dem schleichenden Verlust von Unabhängigkeit und der unausweichlichen Gewissheit des nahen Todes. Sie erzählt vom Verlust enger, weitaus jüngerer Freunde, vom Sterben der Mutter und von der Angst vor dem eigenen Sterben. Und auch davon, wie sie ihren hinfälligen Lebensgefährten pflegt und am eigenen Ungenügen, dem Mangel an Selbstlosigkeit, leidet. Sie denkt nach über ihre Unfähigkeit zu glauben, über ihre unstillbare Lust: an der Literatur und am Arbeiten, auch wenn es schwer fällt.

Jede Passage, auch die reflexiv-essayistischen über Treue oder "letzte Worte", veranschaulicht sie mit durchaus schmerzlichen Erinnerungen an vergangene Lieben, an den unerfüllten Kinderwunsch. Doch in keinem Augenblick wird sie rührselig. Dass sich die letzte Wegstrecke am besten mit Disziplin und Gelassenheit bewältigen lässt, glaubt man ihr aufs Wort, dabei spart sie nicht mit Ratschlägen ("ständig in Bewegung bleiben").

Wie andere Memoiren könnte "Irgendwo ein Ende" sentimental die Vergangenheit heraufbeschwören, auf das Hier und Jetzt ein ungebrochenes Hoch anstimmen oder der ungewissen Zukunft spirituellen Trost entgegensetzen. Nicht so bei Diana Athill: sie beschönigt nichts. Stattdessen webt die bodenständige grande dame de lettres Episoden und treffsichere Beobachtungen ineinander, auch komische - wie die über ihren letzten Liebhaber, mit dem sie neben der Freude am Sex die leidvolle Erfahrung schmerzender Füße verband. Wenn man das Alter schon nach und nach spürt, so ihr lakonisches Resümee, sei es tröstlich, mit einem Menschen in der gleichen Lage zusammen zu sein.

Was das Buch auszeichnet, ist sein klarer, unbestechlicher Blick und sein pointierter, herzerwärmender Humor. So liest es sich wie die bewegende Chronik eines unbekannten Landes, auf das wir alle, wenn wir nicht vor der Zeit sterben oder unsere fünf Sinne verlieren, zielsicher zusteuern.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Diana Athill: Irgendwo ein Ende
Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke
Ullstein-Verlag, Berlin 2010
254 Seiten, 18 Euro