Udo Pollmers Mahlzeit

Hungersteine: Zeugen eines naturverbundenen Lebens

Ein Hungerstein am Ufer der Elbe im Dresdner Stadtteil Laubegast.
Bei extremer Dürre kommen die Hungersteine zum Vorschein. © picture alliance / Sebastian Kahnert
Von Udo Pollmer · 05.10.2018
Dürren, Überschwemmungen oder Vulkanausbrüche: Die Launen der Natur haben seit Menschengedenken zu Missernten geführt. Dass diese heutzutage keine Hungersnöte mehr auslösen, haben wir auch der modernen Landwirtschaft zu verdanken, meint Udo Pollmer.
Im Hochsommer hatte die Elbe Niedrigwasser. Junge Aktivisten entrollten im Flussbett Plakate, um der Welt ihre Entrüstung über das herrliche Wetter kundzutun. Fett prangte auf dem Banner das Wort "Klimawandel!". Hätten sie, statt gelangweilt herumzustehen, neugierig das Flussbett inspiziert, wären ihnen erhellende Entdeckungen gelungen: beispielsweise Hungersteine.
"Die Elbe", so schrieb die Teplitzer Zeitung 1876, "bietet in Folge der anhaltenden Dürre einen traurigen Anblick, wie er seit 1842 nicht mehr vorgekommen ist: Überall ragen die Hungersteine hervor und der Meterpegel an der Dresdner Elbbrücke wird vom Wasser gar nicht mehr berührt." Ein großer Stein trägt die Inschrift: "Wer einst mich sah, der hat geweint. Wer jetzt mich sieht wird weinen."
Wenn die Dürre kam, verhungerten zuerst die Alten, denen man kein Essen mehr gab, dann die Kinder. Die Überlebenden waren vom Leid gezeichnet. Um dies zu dokumentieren, liegen am Grund vieler Flüsse Hungersteine.
Der älteste befindet sich im Spreewald. Darauf steht geschrieben "Wenn Ihr diesen Stein wiedersehen werdet, so werdet Ihr weinen, so flach war das Wasser im Jahre 1417." Die Liste der bekannten Hungersteine ist schier endlos. Teilweise ereigneten sich über einen Zeitraum von zwei Jahrzehnten bis zu sieben Dürrejahre. Ein versiegender Fluss war vor den Zeiten des sogenannten Klimawandels ein häufiger Anblick. Heute ist das so fern der Erfahrungswelt der Bürger, dass sie sich Luxusfragen zuwenden können wie: Wie viele Geschlechter gibt es, darf man Nutztiere auch nutzen oder machen Diäten schlank?

Missernten und Hungersnöte sind nicht neu

Die verheerendste Dürre suchte Europa im Jahre 1540 heim. Bereits im Winter herrschten in Italien Temperaturen wie sonst nur im Juli. Danach regnete es in Zentraleuropa bei subtropischen Temperaturen elf Monate kaum noch. Die Wälder entzündeten sich, Ansiedlungen mit ihren Fachwerkhäusern wurden ein Raub der Flammen. Wenn die Brunnen versiegten, wurde Dreckwasser getrunken – mit Seuchen im Gefolge.
Das Wetter ist von unserem Zentralgestirn, der Sonne abhängig. Ihre Aktivität unterliegt erheblichen Schwankungen. Manche gelten als Anomalien, andere werden zahlreichen Zyklen zugeordnet, die sich von elf Jahren bis zu einigen Jahrtausenden erstrecken. Fallen die Maxima oder Minima mehrerer Zyklen zusammen, ist der Effekt vergleichbar einer Springflut. Die Kapriolen der Sonne sind der wichtigste Grund für Dürrekatastrophen.
Bei Missernten und Hungersnöten durch Kälte und Dauerregen ist die Ursachenfindung einfacher. Als 1783 in Island der Vulkan Laki ausbrach, wurde die nördliche Hemisphäre von einer Rauchwolke umhüllt. Es wurde kalt, die Winter dauerten endlos, es folgten schwere Überschwemmungen. Kalt und nass wurde es auch 1816 – ein Jahr zuvor war der Tambora ausgebrochen. Nachdem 1883 der Krakatau explodierte, wiederholten sich die Wetterereignisse.
Das, was Vulkane an Asche speien, verteilt sich in der Atmosphäre und reflektiert die Sonnenstrahlen zurück ins Weltall. Dann wird es kälter. So geschehen auch 2011 nach dem Ausbruch des Eyjafjallajökull auf Island im Jahr zuvor. Nachdem sich die gewaltige Aschewolke in der oberen Atmosphäre gleichmäßig verteilt hatte, wurde der Sommer spürbar kühler.

Wenn die Sonne Kapriolen schlägt

Da Menschen dazu neigen, in ihrer Verzweiflung einen Schuldigen für ihr Schicksal zu suchen, folgten auf Katastrophen stets Pogrome. Dass ein trockenes Flussbett heute so wenig Auswirkungen auf die Versorgungslage hat wie Überschwemmungen, verdanken wir ach so klimaschädlichen Erfindungen wie Kunstdünger, Pflanzenschutz, Welthandel und dem bisher unverzichtbaren Dieselmotor. Seither sind auch die Zeiten der Verbrennung von Wetterhexen und Ungläubigen vorbei.
Sind wir vorbereitet, wenn die Sonne Kapriolen schlägt oder es irgendwo in der Erdkruste kracht? Dann herrscht wirklich Endzeitstimmung. Haben wir genug Überschüsse? Sind die Vorratsläger der Staaten gut gefüllt und ebenso gut vor Schädlingen und Plünderern geschützt? Gibt es eine geordnete Verteilung? Das sind die Fragen, die stehen dann vor jedem Essen. Mahlzeit.

Literatur:
Anon: Kleine Chronik. Teplitzer Zeitung vom 30. August 1876, S.1
Bressan D: This 1783 Volcanic eruption changed the course of history. Forbes.com vom 8. Juni 2015
Witze A, Kanipe J: Island on Fire: The extraordinary story of Laki, the volcano that turned eighteenth-century Europe dark. Profile-Books: 2014; 224
Sigurdsson H et al: Encyclopedia of Volcanoes. Academic Press, London 2000
Dagget D: The great climate change witch hunt. Blog vom 20. Feb. 2015
U.S. Forest Service : Natural Climate Cycles. USDA, Climate Change Ressource Center
Robock A: Stratospheric control of climate. Science 1996; 272: 972-973
Zeilinga de Boer J, Sanders DT: Volcanoes in Human History. Princeton University Press, Oxford 2002
Corliss WR: Mysterious Universe: A Handbook of Astronomical Anomalies. The Sourcebook Project, Glen Arm 1979
Düwel-Hösselbarth W: Ernteglück und Hungersnot. Theiss, Stuttgart 2002
Rahmsdorf S: Timing of abrupt climate change: A precise clock. Geophysical Research Letters 2003; 30: e1510
Margolina S: Die letzte große Erzählung des Westens. Cicero.de 18. Aug. 2018
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