U-Bahn in Hamburg

Geduldiger Zuhörer im Glaskasten

Christoph Busch im Hamburger Untergrund: Seit Monaten hört er er anderen Menschen zu
Christoph Busch im Hamburger Untergrund: Seit Wochen hört er er anderen Menschen zu © picture alliance / dpa / Daniel Bockwoldt
Von Axel Schröder · 26.02.2018
In Hamburg hat der Drehbuch-Autor Christoph Busch einen verwaisten Kiosk in einem U-Bahnhof angemietet und bietet den vorbeieilenden Mitmenschen an, sich ihre Gedanken und Geschichten anzuhören. Die Resonanz ist enorm.
Christoph Busch sitzt in seinem Glaskasten. Der alte Kiosk steht in der Mitte des Bahnsteigs, zwischen den Gleisen. "Das Ohr" steht auf dem Plakat an einer der Scheiben. Fotobände liegen aufgeschlagen in der Auslage, ein Stofftier sitzt daneben, ein bisschen Nippes in den Regalen, mitgebracht von Christoph Buschs Besuchern.
"Vor zwei Jahren war ich das erste Mal hier. Und da stand an dem Kiosk so ein kleines Schild, heftgroß: 'Zu vermieten. Hochbahn'. Und dann habe ich dort angerufen. Eigentlich mit der vagen Idee: Da könntest du eigentlich hier sitzen und schreiben. Und dann sagten die: 'Nein, der ist schon wieder vergeben.' Da war ich total erleichtert, denn ich wusste eigentlich gar nicht so richtig, was ich hier soll. Letztes Jahr wieder, kurz vor meinem Geburtstag, steige ich hier mal wieder aus, hängt das Schild wieder dran. Ich rufe an und er ist noch zu haben!"

Von allen Seiten einsehbar

Der 71-jährige Drehbuchautor bekam den Zuschlag. Ohne genau zu wissen, was er denn überhaupt anfangen will mit dem Kiosk. An das Schreiben von Drehbüchern im Glaskasten war nicht zu denken. Hier, auf dem Präsentierteller, von allen Seiten einsehbar. Dann entwickelte Christoph Busch Fragebögen für die Passanten. Und verwarf auch diese Idee. Er entschied sich, den Menschen, die am U-Bahnhof Emilienstraße ein- und aussteigen, einfach zuzuhören. Seine Skepsis, ob das funktionieren könnte, war schnell verflogen:
"Als ich dann das erste Plakat, dass ich mit Hilfe von Freunden zustande gebracht habe, mit dem großen Ohr drauf und 'Ich höre zu', da haben die Leute gesagt: 'Toll! Endlich mal wieder jemand, der zuhört!' Aus so einer völlig abstrakten Einsamkeit oder Vereinzelung heraus. Das waren oft Leute, wo ich gedacht habe: 'Die haben doch sicher Familie und Freunde und so weiter.' Aber das Gefühl ist weit verbreitet."
Christoph Busch in dem ehemals verwaisten Kiosk: Beim Zuhören macht er sich Notizen
Christoph Busch in dem ehemals verwaisten Kiosk: Beim Zuhören macht er sich Notizen© picture alliance / dpa / Daniel Bockwoldt
Auf seine Besucher muss Christoph Busch nicht lange warten. Draußen vor dem Glaskasten grüßt eine ältere Dame, auf den perfekt frisierten Haaren eine feine, rote Baskenmütze. Eine lederne Handtasche unter den Arm geklemmt. Christoph Busch steht auf, schiebt die Glasscheibe auf, sagt Hallo:
"Alles gut?"
"Guten Morgen! Immer schön zu schauen hier! Immer was Neues im Fenster und so wird man aufmerksam!"
"Wann kommen Sie mich denn mal besuchen?"
"Ich habe auch schon gedacht, ich hätte so viele Geschichten zu erzählen!"
"Nur Mut!"
"Nee. Ich hab keine Zeit! Schönen Tag!"

Der Zuspruch ist groß

Die U-Bahn rollt ein, die Dame macht sich auf den Weg. Und schon klopft der nächste an die Tür. Marcel Baumeister heißt er und engagiert sich im Verein "Lass Dir helfen". Ein Angebot an einsame ältere Bewohner im Viertel, das seine Mutter ins Leben gerufen hat, um einsame Menschen zuhause zu besuchen, ihnen Halt zu geben. Die beiden kommen schnell ins Gespräch, Christoph Busch hat seine Kladde auf den Knien, macht sich Notizen.
"Ihr habt ja ganz viel Einblick in Leben. Warum machst Du das?"
"Meine Mama ist halt Altenpflegerin und, damit ich nicht alleine bin, bin ich mitgegangen und habe im Altersheim geschlafen. Mama hatte Nachtschicht. Und ich habe erlebt, wie sie die alten Menschen versorgt hat. Und wie schwierig das aber auch war und wie damals schon das Pensum so hoch war und nicht für jeden viel Zeit ist."
"Wann ist 'damals'?"
"Damals ist: in den Neunzigerjahren."
Marcel Baumeister wollte nur wissen, ob sein Verein mit dem Erzählkiosk zusammenarbeiten könnte. Aber Christoph Busch schafft es, ihm mehr zu entlocken. Nach dem Gespräch macht er noch ein Foto von seinem Besucher, bittet um eine Unterschrift. Damit er einen Teil der Geschichten für das Projekt nutzen kann, dass er im Blick hat, wenn er den Kiosk im Sommer nach einem halben Jahr wieder verlässt:

Längst nicht jede Geschichte ist traurig

"Es wird ein Buch daraus! Da bin ich inzwischen sicher. Am Anfang war das so eine weiße Karte, die ich hochgehalten habe, um mir auch selber Mut zu machen. Inzwischen habe ich so viel spannende und abwechslungsreiche Geschichten gehört, dass ich ganz sicher bin! Und ich versuche, noch die Zeit zu haben, mich selbst zu beobachten und aufzuschreiben, wie es mir eigentlich dabei geht."
Längst nicht jede Geschichte, die er in seinem Kiosk anhört, ist eine traurige Geschichte. Wie die vom Familienstreit, weil die Großmutter ihrem Enkelkind eine Tarnuniform schenkt. Ab und zu sind Beichten dabei. Und auch ganz erfüllte, mutmachende kleine Erzählungen. Aber ist das, was er macht, schon Voyeurismus? Busch grinst:
"Natürlich hat das hier alles hier mit Exhibitionismus – ich stelle mich hier aus –, mit kräftiger Neugier zu tun und Interesse an anderen Menschen. 'Voyeurismus' wäre es, wenn ich die Leute sozusagen gefühlsmäßig auch nackt machen würde. Das mache ich nicht."
Wie groß der Bedarf nach einem ist, der zuhört, hat er nicht geahnt, erzählt Christoph Busch. Dann schiebt er die Glasscheibe zum Bahnsteig wieder auf, begrüßt die nächste Passantin. Überreicht ihr seine Visitenkarte, um einen Termin zu vereinbaren.
"Dann gebe ich Ihnen mal einen Zettel, da steht eine Telefonnummer drauf und eine Mailadresse."
"Eine Geschichte habe ich bestimmt für sie!"
Mehr zum Thema