Twin Oaks in den USA

Die älteste Hippiekommune der Welt

Männer und Frauen sitzen an Holztischen und essen.
Freizeit in der Landkommune Twin Oaks, 100 Meilen südwestlich von Washington D.C. © Deutschlandradio / Gabriele Riedle
Von Gabriele Riedle · 29.08.2017
Gleiches Einkommen, gemeinsamer Besitz, keine Hierarchien – das ist Twin Oaks, die älteste Hippiekommune der Welt, gegründet im legendären "Summer of Love". Es gibt sie immer noch – und ihre Ideen vom Zusammenleben sind aktueller denn je.
Es ist Sommer im Herzen Virginias, auf dem Gelände einer alten Tabaksfarm und in den dazugehörigen Wäldern der Landkommune Twin Oaks, 100 Meilen südwestlich von Washington D.C. Überall Sonnenflecken im Blätterwerk, Überfluss von Licht und Schatten und in den Lüften der Soundtrack der Vögel. Beim Mittag- und zum Abendessen Kommunarden an Tischen aus grobem, verwittertem Holz unter den Bäumen. Danach Großabwasch im Kollektiv. Abends am Lagerfeuer melancholische Lieder. Ein bisschen ist es hier wie bei ewigen Pfadfindern in ewiger Sommerfrische. Christine, 55 Jahre alt, ist erst vor kurzem hierher ins Waldidyll gezogen.
"Ich komme aus Indiana, einem sehr konservativen Staat. Ich war Vertreterin für Satellitenzubehör. Meine Arbeitsumgebung war vergiftet. Wir mussten stets in kompletter Business-Kleidung erscheinen. Hohe Absätze, Strumpfhosen, keine ausgefallenen Frisuren. Das ging so weit, dass sich schon morgens, als ich auf den Parkplatz einbog, mein Magen verknotete. Ich habe dann einige andere Jobs gehabt, in der Fabrik, im Telemarketing. Ich dachte immer: Es muss doch irgendwie anders gehen.
Ich habe immer an den amerikanischen Traum geglaubt, dass jeder es schaffen kann, der nur hart genug arbeitet, und wenn nicht, dann hast du dich nicht genug angestrengt. Das hören wir von unserem ersten Tag an. Aber das ist nicht richtig. So darf man nicht leben. Der Kapitalismus ist das Letzte. Deshalb googelte ich: Gibt es noch Kommunen?"
So stieß Christine auf die Kommune Twin Oaks. Tatsächlich gibt es in Amerika nach wie vor Hunderte so genannter Intentional Communities, Gemeinschaften, die mehr sind als bloße Zweckbündnisse zum Wohnen, sondern die eine bestimmte Idee des Zusammenlebens verfolgen. Twin Oaks ist jedoch die älteste, noch existierende Hippiekommune der Vereinigten Staaten. Gegründet wurde sie 1967, im legendären "Summer of Love", als in Amerika plötzlich alles möglich schien.
Jetzt feiert Twin Oaks 50-Jähriges Jubiläum. Inzwischen leben 91 Erwachsene hier, die Jüngsten Anfang 20, die Ältesten hoch in den 70ern, dazu 15 Kinder. In den acht Gemeinschaftshäusern unter Bäumen hat jeder nur ein winziges Zimmer. Einige Bewohner sind erst seit kurzem hier, andere schon seit 20, 30 und einer sogar seit 49 Jahren. Die Kommunarden leben hauptsächlich von der eigenen Landwirtschaft samt Milchkühen und Hühnern sowie vom Verkauf von Hängematten und Tofu, selbst produziert mit geradezu protestantischer Arbeitsdisziplin in 42 Pflichtstunden pro Woche.

"Wir sind hier viel freier als anderswo"

Twin Oaks ist auch die älteste der so genannten egalitären Kommunen, in denen das Einkommen miteinander geteilt wird, und keiner mehr haben soll als der andere. Es gibt auch kein Führungspersonal und keine Hierarchien. Dies ist die radikalste Form des gemeinschaftlichen Lebens.
"Letzten Sommer sah ich einen Post: Ich lebe in Twin Oaks, wir nehmen jetzt neue Mitglieder auf. Ich dachte: jetzt oder nie, ich muss da hin."
Vor ein paar Monaten, kurz vor ihrem 55. Geburtstag ist Christine dann eingezogen. Gemeinsam mit den anderen Kommunarden verfolgt Christine hier jetzt ihren eigenen amerikanischen Traum. Den von Gleichheit. Von Gemeinschaft. Von Zusammenarbeit. Von Nachhaltigkeit. Von einem Leben ohne Hierarchien. Von einer gerechten Welt. Einige hier nennen das Utopia. Daniel, 22 Jahre alt und gerade noch Student in New York, kam gleichzeitig mit Christine hierher und drückt das so aus:
"Im Alltag von Twin Oaks gibt es einen entscheidenden Unterschied zum Leben draußen. Dort ist man grundsätzlich Komplize in übergeordneten, destruktiven, kapitalistischen Strukturen. Hier ist man das nicht. In Amerika spricht man ständig über Freiheit, aber witzigerweise sind wir hier viel freier als anderswo für Experimente, die die Lebensgestaltung betreffen. Hier kann man mit Nacktheit experimentieren, mit Geschlechterrollen, mit der Art zu arbeiten und die Zeit einzuteilen, mit Kindererziehung."
Ein kleines Mädchen tanzt im Garten der Hippiekommune Twin Oaks
91 Erwachsene leben in Twin Oaks - die Jüngsten Anfang 20, die Ältesten hoch in den 70er-Jahren, dazu 15 Kinder.© Deutschlandradio / Gabriele Riedle
Christine aus Indiana wiederum spricht eher von Sozialismus, auch wenn das für die große Mehrheit der Amerikaner immer noch einem Pakt mit dem Antichristen gleichkommt. Und dann zitiert sie sogar Karl Marx.
"Ich betrachte mich als demokratische Sozialistin. Ich glaube sehr an unser Credo: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen. Das ist ein großartiges Lebensmotto."

"Wir waren sicher, wir könnten etwas verändern"

Als sich die ersten Pioniere 1967 hier im Wald von Virginia niederließen, waren sie zu acht, aber schnell wurden sie immer mehr. Kat Kinkade, eine der Gründerinnen, beschrieb das später in einem Buch so:
"Wir waren uns sicher, wir könnten die Uhrzeit und den Kalender ändern, neue Namen annehmen, Kinder nach unbewiesenen Theorien erziehen und ökonomische und politische Gerechtigkeit völlig neu definieren. Der Grund, warum wir nicht innerhalb von sechs Monaten zusammenbrachen, war, dass wir einigen gesunden Menschenverstand hatten und wir auf ökonomische Stabilität genauso Wert legten wie auf die Unterschiedlichkeit der Kommunarden."
Kat Kinkade hat damals auch einen Chorsatz mit einer Wegbeschreibung nach Twin Oaks komponiert, den die Kommunarden noch heute an Feiertagen vortragen. Dirigent ist Reynaldo, der an einer der renommiertesten Musikakademien New Yorks studierte. Aber auf die große Karriere als Musiker hat er verzichtet. Lieber kümmert er sich in Twin Oaks um die Milchwirtschaft.
Von Charlottesville ostwärts, westlich von Richmond, Highway 64, dann Highway sechs-null-fünf - Wer da nicht nach Utopia findet, dem ist nicht zu helfen. Aber was ist aus den hehren Träumen und Ideen von damals geworden. Um welche Utopien geht es heute?
Ezra, Mitte 40, ist seit Ende der 1990er-Jahre in Twin Oaks. Nach seinem Collegeabschluss hatte er sich einst auf digitale Kartographie spezialisiert. Inzwischen kocht er mit Leidenschaft für die Kommunarden, außerdem ist er verantwortlich für alles, was den selbstausgehobenen Badeteich der Kommune betrifft. Und als Bassist spielt er zusammen mit anderen Musikern in der kommuneeigenen Band:

"Es geht darum, das Leben besser zu organisieren"

"Vor 50 Jahren waren das hier Idealisten. Sie waren jung und sie hatten eine Vision. Insgesamt waren das idealistischere Zeiten. Der Geist der 60er. Die Zeit des Modernismus. Man glaubte an Wahrheit und Fortschritt und an die Verbesserbarkeit des Menschen. Und jetzt haben wir 2017 und Trump und die globale Erwärmung. Utopia bedeutet ja wörtlich, Un-Ort, also nirgendwo. Aber wir können nicht im Nirgendwo leben. Es geht also weniger um ein abstraktes Ziel, sondern darum, wie wir das Leben besser organisieren. Es ist eine große Leistung, dass wir 50 Jahre durchgehalten haben. Wir stehen jeden Morgen auf und jeder macht seine Arbeit und am Ende hat es wieder einen Tag funktioniert."
Mann liegt auf der Wiese und Kind rennt um ihn herum
Entspannt mit Kind: Ezra, Mitte 40, ist seit Ende dern1990er-Jahren in Twin Oaks© Deutschlandradio / Gabriele Riedle
Es findet sich hier in Twin Oaks jetzt ein Querschnitt der amerikanischen Mittelklasse auf engstem Raum. Frauen und Männer, Weiße und Schwarze, Junge und Alte, Wissenschaftler und Schulabbrecherinnen, Buchhalterinnen und Sozialarbeiter, viele hatten gleich mehrere Berufe. Wie aufgeschmissen man als Einzelner sein kann, bei Arbeitslosigkeit, bei Krankheit, im Alter, oder auch nur, wenn man den Kindern eine gute Bildung ermöglichen will!
Utopie, das war früher Verheißung und Zukunft. Inzwischen jedoch scheint oftmals selbst das Mittelklasseleben fast utopisch geworden zu ein. So ist die Kommune für viele nicht zuletzt ein Zufluchtsort, der ihnen Sicherheit bietet, vor dem, was in Amerika unerträglich geworden ist. Oder schlicht vor dem Kapitalismus. Der wird hier in diesem Paralleluniversum im Wald ganz einfach außer Kraft gesetzt.
Wie alle anderen hier hat auch Keenan, 58 Jahre alt, sämtliche Aufstiegschancen in den Wind geschlagen, als er kurz nach seinem Studium der Betriebswirtschaft nach Twin Oaks kam. Statt, wie geplant, Unternehmer zu werden und viel Geld zu verdienen, entschied er sich doch für das ganz andere Leben. Jetzt läuft er meistens mit einem Werkzeug in der Hand über das Gelände, denn er kümmert sich hauptsächlich um alles, was mit dem Bau und der Instandhaltung von Gebäuden zu tun hat.

"Das schockiert viele Amerikaner"

"Wer nach Twin Oaks kommt, kann niemals reich werden. Das schockiert viele Amerikaner. Reich zu werden ist für die meisten eines der wichtigsten Ziele überhaupt. Selbst sehr arme Menschen glauben, dass sie eines Tages reich werden können. Aber wenn du Mitglied von Twin Oaks wirst, versprechen wir dir, auf gar keinen Fall reich zu werden. Auf der anderen Seite wirst du in Twin Oaks niemals arm sein. Du wirst immer eine Krankenversorgung und eine Arbeit haben. Deine Kinder werden gesund sein und du kannst sie gut erziehen. Twin Oaks wird mit einem Handstreich chronische gesellschaftliche Probleme los. Es gibt hier keine Arbeitslosigkeit, keine Kriminalität, keine Armut. Es gibt keine verwahrlosten oder missbrauchten Kinder. Vielmehr folgen wir dem Gedanken der Gleichheit und dass sich um jeden gekümmert wird."
Vier Frauen und ein Mann sitzen im Wald in Hängematten und reden
Hat auf Karriere verzichtet: Keenan mit dem grünen Shirt.© Deutschlandradio / Gabriele Riedle
Ganze 7000 Dollar jährlich, also weniger als 600 Dollar monatlich, beträgt das Pro-Kopf-Einkommen, wenn man das, was die Herstellung von Tofu und von Hängematten einbringt, auf die einzelnen Kommunarden verteilen würde, normalerweise wäre das weit unterhalb des Existenzminimums. Tatsächlich bekommt jeder sogar nur 100 Dollar monatlich auf die Hand. Gleichzeitig ermöglicht die Kommune ihren Mitgliedern jedoch einen Lebensstil, der inzwischen für die amerikanische Mittelklasse kaum mehr selbstverständlich ist. Allein die gute Bildung, die die Kinder hier bekommen. Einige der hochqualifizierten Kommunarden unterrichten sie im Hausunterricht. Sie lernen hier sogar Latein, was in Amerika noch mehr Luxus ist als etwa in Europa. Auch von den Annehmlichkeiten, die hier zur Verfügung stehen, können viele Amerikaner nur träumen. Ezra:
"Wenn wir unser Einkommen mit dem der Durchschnittsamerikaner vergleichen, sind wir sehr arm. Tatsächlich sind wir das aber nicht. In gewisser Weise sind wir sogar sehr reich. Jeder Einzelne besitzt zwar sehr wenig. Aber wenn man Reichtum als Zugang zu Dingen betrachtet, dann haben wir sehr viel. Wir haben Zugang zu einer gut ausgestatteten Holzwerkstatt. Zu einem Badeteich. Zu einer Sauna. Zu mehreren professionellen Küchen. Und wir haben sechs Prius-Hybrid-Autos, die neu und gut gepflegt sind. Geld zu verdienen und selbst vieles zu besitzen, kommt mir sehr stressig vor. Dafür haben wir hier 120 Hektar Wald, in dem wir spazieren gehen können – und jahh, das ist mein Land. Es ist nicht mein Land. Aber solange ich hier lebe, ist es das. Genau wie die Obstbäume und die Gärten. Wir essen selbstangebaute Bio-Lebensmittel, die unglaublich teuer wären. Dieses Leben kommt mir sehr bürgerlich vor."
Es soll jedoch nicht nur um den eigenen bürgerlichen Komfort gehen, der ausgerechnet durch das Leben in der Kommune ermöglicht wird.

"Twin Oaks ist sehr amerikanisch"

"Wenn man mich fragen würde: Wozu gibt es Kommunen? Dann würde ich sagen: Es geht darum, eine funktionierende Blaupause zu liefern, wie man das Leben organisieren kann, wenn die zur Verfügung stehenden Ressourcen dramatisch schwinden. Nicht, dass wir unbedingt auf einen Zusammenbruch zusteuern. Aber ich glaube, dass jeder in der nahen Zukunft lernen muss, mit sehr viel geringeren Ressourcen als jetzt auszukommen. Und wir erproben hier, wie man das schafft."
Twin Oaks, die älteste Hippiekommune der Vereinigten Staaten, ist also auch eine Art Laboratorium für die Zukunft. Und damit folgen die Kommunarden dann auch wieder einer sehr amerikanischen Tradition, wie Keenan erläutert.
"Ich habe die Schriften von Thomas Jefferson und anderen amerikanischen Gründervätern gelesen. Es ging ihnen immer darum, ein besseres Gemeinwesen zu schaffen, bessere Staatsbürger, und darum, alles dafür zu tun, eine bessere Art zu leben zu entwickeln. Ich glaube, dass Twin Oaks sehr gut zu dieser Art des utopischen Denkens passt, das es in Amerika immer gegeben hat. Manche Leute sagen, Twin Oaks sei unamerikanisch, weil wir keine Hard-Core-Kapitalisten sind. Ich aber denke, dass Twin Oaks sehr amerikanisch ist."
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