Turings Computer sind "der Anfang einer Kette"

Wolfgang Hagen im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 21.06.2012
Der abgebissene Apfel, das Logo von Apple, war seine letzte Hinterlassenschaft. Und auch für die Technikgeschichte ist Alan Turings Beitrag zentral: Er habe "das Urbild des Computers" geschaffen, sagt der Medienwissenschaftler Wolfgang Hagen.
Stephan Karkowsky: Als Erfinder des modernen Computers gilt in Deutschland der Berliner Konrad Zuse. Dabei gab es in England einen Zeitgenossen Zuses, dem mindestens ebenso viel Ehre gebührt: Alan Turing, er schuf die theoretischen Grundlagen der Informatik. Beitrag in Ortszeit, Deutschlandradio Kultur (MP3-Audio) Axel Rahmlow stellt ihn vor.

Warum Alan Turing bis heute vermeintlich im Schatten Konrad Zuses steht und welche Entwicklung wir ihm zu verdanken haben, das lassen wir uns erklären vom Medienwissenschaftler Wolfgang Hagen, Professor für Rhetorik an der Leuphana-Universität Lüneburg. Herr Hagen, was war denn das Revolutionäre, das zu seiner Zeit radikal Neue im Denken von Alan Turing?

Wolfgang Hagen: Die Geschichte, dass immer jedes Land glaubt, den Computer-Erfinder zu haben, die ist ja aller Ehren wert. Aber Konrad Zuse hat den Computer, den wir heute kennen, nicht erfunden, sondern der basiert wirklich auf einer Architektur von John von Neumann, und diese Architektur basiert wieder auf den Arbeiten von Alan Turing. Und damit komme ich auch zu Ihrer Frage: Das ist eben das Bedeutende, diese Kette, die Alan Turing geschaffen hat. Einer der größten Mathematiker des 20. Jahrhunderts, das ist schon mal ein ganz wichtiger Punkt, und ein sehr ungewöhnlicher Mathematiker, der zum Beispiel, was seine Mathematik betrifft, auf der Schule eher wahnsinnig schlechte Noten bekommen hat, weil er eine unglaublich schlechte Handschrift hatte und sich deswegen mit 13 eine kleine Schreibmaschine gebastelt hat, einfach, weil er mit der Hand nicht richtig schreiben konnte.

Seine Lehrer haben sofort erkannt, dass der mit 13, 14 praktisch nur höhere Mathematik betrieben hat, aber sozusagen in der Arithmetik jede Menge Fehler machte. Also er kam dann sehr früh eben aufs King’s College und hat dann eben auch beigetragen zu einem sehr abstrakten mathematischen Problem, nämlich dem gödel’schen Entscheidungsproblem, und daraus ist seine ungewöhnliche Turing-Maschine entstanden, und die wiederum ist das Urbild des Computers.

Karkowsky: Was heißt das genau, das Urbild des Computers? Was konnte diese Maschine?

Hagen: Ja, Sie müssen sich vorstellen, Rechenmaschinen gab es natürlich irgendwie immer schon, also eigentlich seit dem 17. Jahrhundert. Leibnitz hat solche Dinger gebastelt, und im 19. Jahrhundert waren das also Ungetüme, immer mit Wellenrädern – sehr mechanisch betrieben –, mit Zahnrädern, so wie im Grunde genommen unsere Uhr, Armbanduhr heute noch aufgebaut ist. Das Ungewöhnliche an der turing’schen Maschine, die erst mal eine Papier-und-Bleistift-Maschine ist: Es ist ein mathematischer Beweis, der sich nur mit einem Band mit Feldern, also ganz einfaches kariertes Band, mit einem Lese- und einem Schreibkopf sozusagen, beschäftigt, und dazu gibt es ein bestimmtes Alphabet, was dieser Schreibkopf auf diesem karierten Band tun muss, nämlich vorwärts, rückwärts fahren, dort irgendwas lesen, dort irgendwas reinschreiben.

Und mit diesem Band, und mit diesen ganz einfachen gedanklichen Mitteln – wohlgemerkt, weil das kann sich ja jeder gerade noch vorstellen: kariertes Band, irgendein Lese-Schreibkopf, der immer ein Kästchen weiterwandert oder mal drei Kästchen zurück oder fünf nach vorne, je nach dem, wie das Programm es sagt –, mit diesem Maschinchen hat er in einer theoretischen Schrift, die ja genannt worden ist, in den 30er-Jahren bewiesen, dass man jedes arithmetische Problem durch eine solche Maschine lösen kann, wenn diese Maschine zu einem Halt kommt. Und jetzt kommt der zweite, für uns Computermenschen so wichtige Beweis – dies ist ja so was Ähnliches wie ein Computer, der macht ja auch nichts anderes als sozusagen immer ganz einen Schritt nach dem anderen zu machen –, der zweite Beweis, den er dort angetreten hat, war: Mit einer solchen Maschine kann man nicht beweisen, dass eine andere Maschine richtig läuft. Und insofern ist diese Turing-Maschine eine ganz besondere Maschine, die nämlich die Stärken und die Grenzen des Computers gleichzeitig zeigt.

Karkowsky: Sie hören zum 100. Geburtstag des britischen Mathematikers Alan Turing den Medienwissenschaftler Professor Wolfgang Hagen. Herr Hagen, wie so oft wurde auch hier die Entwicklung technischer Innovation ja zunächst vom Militär gefördert: Turing sollte chiffrierte deutsche Funksprüche entschlüsseln. Lässt sich das überhaupt noch darstellen, wie er das gemacht hat?

Hagen: Also das ist danach. Er hat zunächst mal dieses sehr theoretische, innerhalb der wirklich höchsten Mathematik laufende kleine Maschinchen mit Papier und Bleistift geschrieben. Und weil er ein großartiger Mathematiker war, wurde er wie alle Wissenschaftler von Rang in den Kriegsjahren vom englischen Geheimdienst einvernommen, um an einer Arbeit zu arbeiten, an der wahnsinnig viele Leute gearbeitet haben, nämlich an der Entschlüsselung der deutschen Codes, mit denen die deutsche Marine ihre Unterseeboote steuerte. Das war eine Enigma-Maschine, eine sehr komplizierte Verschlüsselungsmaschine. Und unter anderem mit einem Computer, der aufbaute auf den Arbeiten aus den 30er-Jahren von Turing, ist ihm die Entschlüsselung gelungen, und zwar so, dass die Deutschen das nicht mitbekommen haben. Ab '43 haben die Engländer aufgrund der Arbeiten der Wissenschaftler im Bletchley Park, wo eben auch Turing zugehörte, praktisch jeden Funkspruch abhören können und wussten immer, wo die U-Boote waren. Und das war eine entscheidende Entschärfung einer doch wichtigen deutschen Waffe.

Karkowsky: Halten Sie es denn für übertrieben oder für durchaus berechtigt, was Richard Dawkins gesagt hat: Turing habe einen größeren Beitrag zum Sieg gegen das Dritte Reich geleistet als Eisenhower oder Churchill?

Hagen: Das, glaube ich, kann man nicht so sagen. Er hat einen wichtigen Beitrag geleistet, den man so zusammenfassen kann: Der Krieg verdichtet ja immer Produktionsmittel, die sozusagen im zivilen Leben sich so nicht verdichten würden. Und insofern ist er beteiligt an der Entwicklung des Computers, der natürlich im Wesentlichen in Amerika dann weiterentwickelt worden ist, von seinem Lehrer unter anderem, John von Neumann, weil es darum ging, die Atombombe zu berechnen. Und da hat John von Neumann auf die Computerarchitektur zurückgegriffen, die Turing entwickelt hat, ohne dass es ihm da schon gelungen wäre, die sogenannte Superbombe, also die Wasserstoffbombe in ihren Wirkungsgleichungen vorher zu berechnen, weil man nämlich wirklich nicht wusste, was die anrichtet, und deswegen hat man sieben Jahre gewartet und sie 52 erst das erste Mal explodieren lassen, und hatte immer noch keine Berechnungen, und Sie wissen, dabei ist das Bikini-Atoll bis auf den heutigen Tag praktisch dem Erdboden gleichgemacht worden.

Karkowsky: Dann kommen wir am Schluss noch einmal auf Konrad Zuse zurück, der in Deutschland ja nun wirklich sehr bekannt ist als Computer-Pionier – bekannter als Alan Turing, der sich 1954 das Leben nahm. Wie kommt es eigentlich, dass Turing hier in der öffentlichen Wahrnehmung nicht die gleiche Rolle spielt?

Hagen: Das ist ein bisschen so eine – würde ich sagen – auch ganz kluge, und wie ich finde, auch ehrenvolle Gedächtnispolitik an Zuse, die etwa seit 15 Jahren läuft. Vor 15 Jahren war das noch ganz anders, da kannte man Zuse in dieser Form nicht. Zuse ist nicht ganz unwichtig, weil Zuse im Bezug auf die Entwicklung der Programmiersprachen einige Beiträge geleistet hat, und ein enger Mitarbeiter von ihm, Rutishauser, ist dann tatsächlich in die Entwicklung der amerikanischen Programmiersprachen eingestiegen. Aber die Zuse-Maschine selbst ist sozusagen weder im Krieg fertig geworden noch hat sie nach dem Krieg irgendeine paradigmatische Rolle gespielt. Turings Computer – er hat an mehreren gebaut – und erst recht die Maschinen von John von Neumann, sind allerdings sozusagen der Anfang einer Kette, die reicht bis zu dem Punkt, dass Sie heute vor Ihrem Notebook, und übrigens – obwohl Steve Jobs das immer abgestritten hat – das Logo von Apple ist natürlich der abgebissene Apfel, und der abgebissene Apfel ist das, was auf dem Nachttisch lag, also man den toten Alan Turing fand, und man hat dann das Cyanid in dem Apfel festgestellt.

Karkowsky: Zum 100. Geburtstag des britischen Mathematikers Alan Turing, der Medienwissenschaftler Professor Wolfgang Hagen von der Leuphana-Universität Lüneburg. Danke für das Gespräch.

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