Tunesiens Stunde der Entscheidung

Von Marc Dugge · 19.10.2011
Viele Tunesier sind ernüchtert in den Tagen vor der Wahl zur Verfassungsgebenden Versammlung am kommenden Sonntag. Nach dem euphorischen Frühling verlangt der politische Herbst die Mühen der Ebene. Wie die Menschen damit umgehen, wird sich auch am Einfluss der islamischen Partei Ennahda zeigen.
Khaled sitzt auf dem Plastikstuhl unter dem großen, roten Sonnenschirm im Café du Théatre. Er schlürft an der Limo, die man hier in Tunesien "Citronade" nennt. Und beobachtet durch seine schwarze Sonnenbrille das Treiben auf der Avenue Bourguiba.

Khaled ist 36 Jahre alt, ein hochgewachsener, schlanker Tunesier. Er hat in Deutschland Informatik studiert. Vor vier Jahren kam er nach Tunis, um als Spezialist in der Mobilfunkbranche zu arbeiten. Nichts ahnend, dass sein Heimatland bald zum Startpunkt des Arabischen Frühlings werden könnte. Und Tunesien zur echten Demokratie. Wenn denn bei den kommenden Wahlen alles glatt läuft:

"Demokratie hin oder her. Man kann sie nicht erschaffen in ein oder zwei Jahren. Das wird Zeit in Anspruch nehmen. Darüber sind wir uns alle im Klaren. Optimistisch bin ich. Denn es ist der einzige Weg, vorwärtszukommen und ein neues Tunesien zu schaffen. Das ist mein Traum – und wir müssen dran arbeiten."

Die Tunesier gehen zwar nicht mehr so häufig auf die Straße - doch ihre Nerven liegen weiterhin blank. Die Menschen haben Angst vor der Zukunft. Nicht ohne Grund.

Tunesien exportiert im ersten Quartal des Jahres 26 Prozent weniger Waren. Einige ausländische Unternehmen verlassen Tunesien, nachdem ihre Fabriken über Wochen hinweg bestreikt wurden. Und die ausländischen Investitionen brechen im ersten Halbjahr um 17 Prozent ein.

"Weil die Leute Angst haben. Angst vor Investitionen, Angst vor Projekten. Weil sie nicht wissen, wie sich die Lage weiter entwickelt. Ich arbeite an Projekten in der Region, unter anderem auch in Tunesien, die komplett zum Stillstand gekommen sind aufgrund der Revolutionen in der arabischen Welt."

Und wegen eben dieser Revolutionen bleiben auch die Touristen weg. Im ersten Halbjahr sind 40 Prozent weniger Reisende nach Tunesien gekommen als im Jahr zuvor – für das Land bedeutet das einen Einnahmeausfall von 470 Millionen Euro. Seit Beginn der Revolution sollen im Tourismussektor fast 90.000 Menschen ihre Arbeit verloren haben. Die Folgen könnten aber noch weitaus mehr spüren – denn ein Angestellter füttert mit seinem Gehalt oft eine ganze Großfamilie durch.

Tunesiens Finanzminister Jalloul Ayed sieht in der wirtschaftlichen Misere schon eine große Gefahr für die Demokratie:

"Die Revolution in Tunesien war parteilos, führerlos und absolut spontan. Die jungen Tunesier haben sie daher zu ihrer Revolution erklärt. Viele von ihnen sind arbeitslos. Wenn die Menschen nicht schnell spüren, dass es ihnen dank der Demokratie besser geht, könnte der demokratische Prozess scheitern."

Auch deswegen pumpt die Internationale Gemeinschaft ab dem Frühjahr 2011 Milliardenbeträge nach Tunesien. Das Ziel: Die Wirtschaftsflaute abzumildern und die Frustration im Land in Grenzen zu halten.

Die Tourismusbranche lockt ihrerseits mit Kampfpreisen: Eine Woche Halbpension in Hammamet inklusive Flug ab Deutschland - für weniger als 300 Euro. Und Tunesiens Tourismusminister Mehdi Houas wird nicht müde, für sein Land zu trommeln.

"Der Tourist kann ganz gelassen sein. Hier herrscht Sicherheit. Ich selbst habe, wie Sie sehen, keinen Bodyguard. Jeden Tag scheint die Sonne, ist es warm – und das Meer ebenso. Und die Tunesier sind befreit, sie freuen sich, die Ketten von 20, 30 Jahren Diktatur sind gesprengt. Wenn Sie also noch keine Entscheidung über ihren Urlaub getroffen haben – kommen Sie nach Tunesien, und geben sie dem Land Ihre Unterstützung!"

Ironischerweise war es gerade der Krieg im Nachbarland Libyen, der den Hoteliers wenigstens ein bisschen Geld in die Kassen gespült hat. Denn reiche Libyer haben sich auf Djerba eingebucht, um den Krieg abzuwarten.

Der Krieg im Nachbarland hat Tunesien allerdings vorübergehend auch ein Flüchtlingsproblem beschert. Und Armee und Polizei viel Arbeit. Sie müssen nun auch noch verstärkt die Grenzen sichern. Als ob sie im eigenen Land nicht schon genug zu tun hätten.

Die tunesische Armee hat bei den Tunesiern einen guten Stand. Sie hat die Revolution mitgetragen und im Land für Ruhe und Ordnung gesorgt. Anders die Polizei: Nach der Revolution wurden in vielen Städten Polizeikommissariate gestürmt und niedergebrannt, Polizisten von Mitbürgern tätlich angegriffen. Die Wut ist verständlich: Polizisten haben im Dienste des Ben Ali Regimes jahrzehntelang gefoltert, gespitzelt und eingeschüchtert. Das 10-Millionen-Einwohner-Ländchen Tunesien hatte zuletzt mehr Polizisten als Frankreich.

Mittlerweile haben die Ordnungskräfte das Land wieder unter Kontrolle. Auch deswegen, weil Beamte in ihre Heimatorte versetzt wurden. Wo sie im Schutz ihrer Familie sind. Doch die tunesische Polizei kommt nicht darum herum, sich den veränderten Verhältnissen anzupassen. Und an ihrem Image zu arbeiten - vom gefürchteten Folterer zum Freund und Helfer.

Polizeikongress in einem großen Hotels in Tunis. Menschenrechtler Taoufik Bouderbala redet sich in Rage. Gerade hat ihn ein junger Polizeibeamter angesprochen. Und ihm erzählt, dass er seine Kollegen nicht verpfeifen will, die damals im Januar auf Demonstranten geschossen haben. Das bringt Bouderbala in Rage:

"Die können nicht einfach sagen: Wir haben Befehle ausgeführt! Wenn diese offensichtlich nicht rechtens sind, dann dürfen sie diese Befehle nicht befolgen! Stellen Sie sich nicht hinter Kollegen, die Unrecht begangen haben!"

Unrecht erfahren aber auch Polizisten, meint der Geisteswissenschaftler Noureddine Naifar. Er hat früher Offiziere ausgebildet. In Psychologie. Heute ist er einer der Fürsprecher der frisch gegründeten Polizeigewerkschaft:

"Der Polizist wurde auf einmal gedemütigt. Das hat er nicht verdient. Der Polizist ist ein armer Kerl. Er hat nur die Anweisungen seiner Chefs befolgt. Wenn jemand verantwortlich ist, dann die an der Spitze! Der damalige Innenminister, der Präsident Ben Ali und seine Berater. Wir wollen heute eine moderne Polizei, die im Dienste der Republik steht - und die Menschenrechte achtet!"

Tatsächlich hat es ein Polizist in Tunesien nicht leicht: mieses Image, Schlechte Ausrüstung, marode Dienstgebäude, geringe Bezahlung. Selbst ein Offizier verdient gerade mal rund 500 Euro im Monat. Die Polizisten sehnen sich danach, auch Rechte zu haben und sich Gehör zu verschaffen, sagt Noureddine Naifar. Er hat einen Verhaltenskodex für Polizisten ausgearbeitet, der mit Willkür, Folter und Menschenrechtsverletzungen Schluss machen soll. Mit dem Kodex soll die Polizei im Volk Vertrauen gewinnen.

Eine gute Sache, sagt Menschenrechtler Taoufik Bouderbala, aber:

"Der Kodex darf nicht das Gesetz ersetzen! Wenn man Gesetze befolgt, gibt es Verantwortlichkeiten und auch Strafen. Wenn man nur im Ungefähren bleibt, nur auf das moralische Gewissen setzt, kommt man nicht vorwärts."

Taoufik Bouderbala ist Chef einer Kommission, die die Verbrechen untersucht, die während der Revolution begangen wurden. Eine undankbare Aufgabe:

"Die Polizei wollte mich am Anfang loswerden, denn ich habe unbequeme Wahrheiten gesagt. Ich bleibe dabei: Wenn jemand einen Menschen mit einer Kugel aus 50 Metern Entfernung tötet – dann nennt man das nicht 'Eine Demonstration auflösen', sondern 'Töten'."

Viele befürchten, dass sich nur die wenigsten Polizisten für ihre Taten vor dem Gesetz verantworten müssen. Der Grund: Tunesien braucht in diesen labilen Zeiten seine Polizei mehr denn je. Auch deswegen sieht Polizist Hichem ziemlich gelassen in die Zukunft. Angst vor Racheakten habe er jedenfalls nicht, sagt er:

"Die Polizei hat mit dem Zivilschutz insgesamt ungefähr 100.000 Mitarbeiter. An jedem Mitarbeiter hängt in der Regel eine fünfköpfige Familie. Mit der Unterstützung der Eltern und der Nachbarn sind wir hier immer noch in der großen Mehrheit!"

Zwar gut 40 führende Polizeikader mussten gehen. Nach Angaben von Diplomaten waren dies die schlimmsten. Doch es ist unklar, wie viel Macht der Polizeiapparat noch hat. Was sich wirklich geändert hat in den Polizeirängen. Wer die Strippen zieht – und ob der Schutz von Menschenrechten nun wirklich oben auf der Agenda steht. Immerhin: Menschenrechtler können heute ohne Angst ihre Stimme erheben.

Aber nicht nur die Medien spielen eine Rolle bei der Meinungsbildung, sondern auch die Moscheen. Die Geheimpolizei hat sie früher strikt überwacht, besonders eifrige Gläubige mussten sich unangenehme Fragen gefallen lassen. Denn niemand machte Ben Ali so viel Angst wie die Islamisten. Heute sind die Gotteshäuser voll.

"Das ist jetzt natürlich besser als früher. Jetzt können wir unsere Religion richtig ausleben, unter Ben Ali hatten wir mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen"

Sagt ein Mittvierziger, der gerade mit seinem kleinen Sohn vom Gebet kommt. Schon ein Kopftuch oder einen Bart zu tragen, bedeutete unter Ben Ali häufig das berufliche Aus. Denn damit machte man sich verdächtig, Islamist zu sein. Heute ist das anders. Im neuen Tunesien zeigt sich, wie viel Nährboden der Islamismus wirklich hat. In einigen Moscheen predigen Imame das Kalifat, schwingen deutlich radikalere Reden als früher. Und auch sollen es Islamisten gewesen sein, die kürzlich ein Kino in Tunis demoliert haben. Dort war ein islamkritischer Film gezeigt worden.

Im neuen, demokratischen Tunesien können die Islamisten sogar bei den Wahlen antreten. Ihr Führer Rachid Ghannouchi kehrte nach Ben Alis Fall aus dem Londoner Exil zurück. Seine Partei "Ennahda" gibt sich moderat, sie hat sich von jeglicher Art von Gewalt distanziert. Immer wieder verweisen Ennahda-Parteiführer auf das Beispiel der türkischen Regierungspartei AKP, um die politische Orientierung zu beschreiben: gemäßigt islamisch. Worte wie Gottesstaat oder Scharia werden nicht in den Mund genommen, stattdessen ist viel von Demokratie und Meinungsfreiheit die Rede.

Parteisprecher Ajmi Lourimi sitzt im dritten Stock eines modernen Bürogebäudes in der Innenstadt, dem neuen Parteisitz:

"Dieser Vorwurf, wir wären aufklärungsfeindlich oder fundamentalistisch - das ist völlig aus der Luft gegriffen. Das ist ein ideologisches Argument, ich würde sogar sagen, es wird einfach nur demagogisch gegen uns benutzt. Die Islamisten verlangen ganz einfach ihren Platz unter der tunesischen Sonne!"

Manche Beobachter räumen ihr bei den Wahlen Chancen auf ein gutes Ergebnis ein. Der Grund: Ennahda ist ganzen Land bekannt – anders als viele andere, frisch gegründete Parteien. Die Islamisten sind gut organisiert – und ihre Kassen sind gut gefüllt. Auch dank dicker Schecks von Freunden aus den Golfstaaten. Vielen macht das Sorgen. Allen voran linken Parteien wie der Bewegung Ettajdid. Ihr Sprecher Abdelaziz Messaoudi:

"Der Islam ist die Religion des Volkes, man darf daraus kein Instrument der politischen Propaganda machen. Die Ennahda darf sich natürlich gern auf den Islam beziehen, das ist ihr Recht. Aber da muss Schluss sein. Die Islamisten müssen den Rechtsstaat achten, der unserer Meinung nach ein laizistischer Staat sein muss, die Religion muss vom Staat getrennt sein."

Das war auch die Devise von Habib Bourguiba, dem ersten Präsident des Landes nach der Unabhängigkeit. Er wollte aus Tunesien einen säkularen Staat machen – und steckte viel Geld und Energie in den Bildungssektor. Mit einem modernen Familiengesetz bekamen die Frauen in Tunesien so viele Rechte wie sonst nirgendwo in der arabischen Welt. Um die Wirtschaft des Landes zu fördern, bat er 1961 seine Landsleute, während des Ramadan nicht zu fasten. Später trank er mitten im Fastenmonat tagsüber im Fernsehen einen Orangensaft. Live. Ein politisches Statement – und eine Provokation, besonders für die Islamisten. In ihnen sah Bourguiba die größte Bedrohung des Landes. Islamistische Parteien waren verboten, Aktivisten wurden verhaftet. Ben Ali setzte diese Politik fort.

Man sieht in Tunis auffallend viele Bourguiba-Porträts dieser Tage. Möglicherweise, um Stellung gegen die Islamisten zu beziehen - und die Errungenschaften Tunesiens zu bewahren. Dazu gehören auch die Rechte der Frauen.

In einem engen Konferenzraum eines Hotels in Tunis. Es ist stickig, der Raum ist brechend voll. Eine Frauenrechtsvereinigung hat zu einer Diskussion geladen – über die Rolle der Frauen in der Politik. Manche befürchten, dass Frauen im neuen Tunesien weniger Rechte genießen könnten als bisher.

Die Anwältin Farida Laabidi hält diese Ängste für übertrieben. Sie ist seit Langem Mitglied der islamistischen Ennahda. Und sehr froh, endlich aussprechen zu können, was sie bewegt:

"Ich habe als Studentin sechs Monate im Gefängnis gesessen. Mehr als 20 Jahre lang habe ich für mein Recht gekämpft, ein Kopftuch zu tragen. Wir sind eine gemäßigte Partei, in unseren Reihen sind Frauen ohne Kopftuch. Natürlich fahre ich selbst Auto, ich arbeite, habe Kinder. 30 Jahre lang wurden wir unterdrückt und gedemütigt – wie könnten wir denn die Rechte des Einzelnen nicht achten?"

Das klingt beruhigend. Und doch glauben viele Tunesier solchen Worten nicht. Sie befürchten, dass die Partei ihr wahres Gesicht erst nach den Wahlen zeigen wird. Am 23. Oktober wird sich zeigen, wie viel Zuspruch die Islamisten wirklich haben. Sicher ist: Sie werden mit in der "Constituante" sitzen, der Versammlung, die Tunesien eine neue Verfassung geben will.

Es steht viel auf dem Spiel am 23. Oktober, wenn die verfassungsgebende Versammlung gewählt wird. In einer Umfrage gab zuletzt fast jeder dritte Befragte an, noch nicht zu wissen, wem er seine Stimme geben will. Die Tunesier haben es auch nicht leicht, den Überblick zu behalten. In dem Land gibt es mittlerweile mehr als 100 politische Parteien. Mehr als 11.000 Kandidaten auf 1300 Listen stehen zur Wahl. Am Ende sollen 217 Abgeordnete bestimmen, wie im Mutterland des Arabischen Frühlings künftig das politische System aussieht. Sie werden entscheiden, welche Rolle der Islam, welche Rolle westliche Werte spielen werden. Und dafür verantwortlich sein, ob Tunesien wirklich zur echten Demokratie wird.

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