Türkische Interessen und deutsche Schwächen

Von Klaus Schroeder · 14.02.2008
In Deutschland leben etwa 2,5 Millionen Menschen türkischer Herkunft. Über 700.000 davon besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit, die meisten wurden hier geboren oder kamen im Rahmen der Familienzusammenführung nach Deutschland. In den Sechzigerjahren waren die deutsche und die türkische Regierung irrtümlich davon ausgegangen, dass der Arbeitsaufenthalt nur befristeter Natur sei.
Die Väter oder Großväter der heute in Deutschland lebenden Türken verließen auf Initiative der Regierung in Ankara im Rahmen eines Anwerbeabkommens vor Jahrzehnten ihre Heimat, um einige Jahre in Deutschland zu arbeiten. Die Türkei versprach sich hiervon eine Entlastung des eigenen Arbeitsmarktes, dringend benötigte Devisen und eine Modernisierung des Landes durch die Rückkehrer. Integrationsstrategien wurden deshalb für überflüssig gehalten. Heute zahlen wir den Preis dafür.

Wie fremd sich viele Deutsche und Türken immer noch sind und wie von türkischer Seite deutsche Schwächen und Fehler ausgenutzt werden, zeigen die Ereignisse der letzten Tage. Türkische Medien und Politiker instrumentalisieren den Brand in einem Ludwigshafener Wohnhaus, um eigene Interessen durchzusetzen, ohne zu berücksichtigen, dass sie damit der türkischstämmigen Bevölkerung in Deutschland einen Bärendienst erweisen. Mit ihrem Ministerpräsidenten Erdogan an der Spitze fordern sie die Bewahrung einer türkischen Identität und warnen vor zu viel Anpassung. Assimilation sei ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, behauptet der türkische Ministerpräsident und fordert im gleichen Atemzug türkische Schulen und Universitäten mit türkischem Lehrpersonal in Deutschland. Integration ja, aber nur, wenn die türkische Identität erhalten bleibt. Was darunter zu verstehen ist, wird freilich nicht erläutert. Gehören hierzu die Gewalt legitimierenden Männlichkeitsnormen vieler türkischer Jugendlicher, die Unterordnung der Frauen unter die Herrschaft der Männer oder das tradierte Verständnis von Ehre, das Gewaltanwendung selbst bei banalen Anlässen mit einschließt? Sicherlich nicht, aber was bedeutet dann "türkische Identität" bewahren und was Integration? Das Erlernen von Deutsch als erster Fremdsprache?
Während die Türkei auch unter Erdogan keineswegs als liberaler Rechtsstaat agiert und mit den eigenen ethnischen und religiösen Minderheiten alles andere als zimperlich umgeht, wird gegen Deutschland schwerstes Geschütz aufgefahren. Gezielt wird auf die deutsche Achillesferse: die nationalsozialistische Vergangenheit und ihre Nachwirkungen. Das neue deutsche Zuwanderungsrecht, das minimale deutsche Sprachkenntnisse für Zuwanderer vorsieht, um ihre Integrationschancen zu verbessern, wird ebenso als rassistisch diffamiert wie die Ablehnung der doppelten Staatsbürgerschaft.

Parolen wie "Gestern die Juden, heute die Türken" oder "Hitler war nicht allein, Koch ist es auch nicht", die auf Transparenten in Ludwigshafen zu lesen waren, unterstellen den heutigen Deutschen pauschal eine fortgesetzte Nähe zum Nationalsozialismus. Für nicht wenige sind Deutsche vornehmlich Hassobjekte. Diese Haltung trifft auch – nicht nur in Ludwigshafen – Feuerwehrleute und Polizisten, die bei Rettungseinsätzen beschimpft, bespuckt und bei ihrer Arbeit behindert werden. Über das Ausmaß an Deutschenfeindlichkeit in türkischen und arabischen Milieus kann nur spekuliert werden, da bisher weder in der Politik noch in der Wissenschaft ein Interesse an ihrer Erforschung bestand.

Politik und Öffentlichkeit in Deutschland wurden von der Wucht der unbewiesenen türkischen Vorwürfe, in Ludwigshafen seien neonazistische Brandstifter am Werke gewesen, auf dem falschen Fuß erwischt. So zeigten sich Kommentatoren erleichtert über die eigentlich selbstverständlichen Worte Erdogans, noch seien die Brandursachen nicht bekannt. Um ja keinen Zweifel am deutschen Rechtsstaat aufkommen zu lassen, gestatteten deutsche Behörden der Türkei, eigene Ermittler zu schicken. Offensichtlicher kann die vergangenheitsbezogene deutsche Schwäche nicht dokumentiert werden. Dass Erdogan diese Verunsicherung gleich noch ausnutzte, um den EU-Beitritt der Türkei und die Beibehaltung der türkischen Parallelgesellschaft zu fordern, kann angesichts dessen nicht weiter überraschen. Folgt demnächst die Forderung nach autonomen, von Türken regierten Regionen oder Stadtteilen – etwa eine türkische Exklave Berlin-Neukölln?

In dieser aufgeheizten Atmosphäre fällt es schwer, auf Selbstverständliches zu dringen, das von anderen Zuwanderergruppen, aber auch von vielen Türken, bereits praktiziert wird: Wer dauerhaft in einem Land zufrieden und anerkannt leben will, muss sich bis zu einem gewissen Grad anpassen und die zentralen oder informellen Regeln der Mehrheitsgesellschaft akzeptieren. Ob man das Integration oder Assimilation nennt, ist völlig unerheblich. Damit ist nicht die Preisgabe kultureller Wurzeln verbunden, wohl aber das Bemühen, mit den anderen Bewohnern des Landes eine gemeinsame Identität zu entwickeln. Erst hierauf kann sich ein "Wir" gründen und das Trennende überwunden werden. Wer hier oder anderswo dauerhaft leben will, sollte die jeweilige Staatsbürgerschaft annehmen und keinen Zweifel an seiner Loyalität gegenüber dem neuen Heimatland lassen. Hierzu gehört freilich auch eine ausgestreckte Hand der Einheimischen gegenüber den Immigranten.


Der 1949 in Lübeck geborene Klaus Schroeder leitet an der Freien Universität Berlin den Forschungsverbund SED-Staat und die Arbeitsstelle Politik und Technik und ist Professor am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin. Letzte Veröffentlichungen: "Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949-1990", Hanser-Verlag, München 1998; "Der Preis der Einheit. Eine Bilanz", Hanser-Verlag, München 2000; "Rechtsextremismus und Jugendgewalt in Deutschland. Ein Ost-West-Vergleich", Schöningh-Verlag, Paderborn 2004. Gerade ist erschienen: "Die veränderte Republik. Deutschland nach der Wiedervereinigung", Verlag Ernst Vögel, Stamsried 2006.
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