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Vor 75 Jahren
Die Verhaftung des Widerstandskämpfers Witold Pilecki

Der polnische Offizier Witold Pilecki ließ sich 1940 absichtlich nach Auschwitz deportieren, um dort den polnischen Widerstand zu organisieren. Heute vor 75 Jahren wurde er von der SS in Warschau verhaftet.

Von Doris Liebermann | 19.09.2015
    Wagen im früheren Konzentrationslager Auschwitz
    Wagen im früheren Konzentrationslager Auschwitz (dpa / picture alliance / Valeriy Melnikov)
    "19. September 1940 – die zweite Straßenrazzia in Warschau. Es sind noch ein paar Leute am Leben, die mich damals um sechs Uhr morgens alleine zur Kreuzung der Aleja Wojska mit der Felinski-Straße haben gehen sehen, wo ich mich den Fünfergruppen anschloss, die die SS festgenommen hatte. Am Morgen des 21. wurden wir auf Lastwagen verladen und unter Begleitung einer Motorradeskorte mit automatischen Waffen zum Westbahnhof gebracht."
    Es war ein lebensgefährlicher, tollkühner Plan und eine geheime Mission: Absichtlich ließ sich der polnische Offizier Witold Pilecki am 19. September 1940 von der SS festnehmen. Der Patriot und gläubige Katholik sollte im Auftrag des polnischen Widerstandes herausfinden, wohin die verhafteten Polen von den deutschen Besatzern gebracht wurden. Mit 1800 Warschauern traf er zwei Tage später in Auschwitz ein, anfangs war dort ein Lager für polnische politische Häftlinge. Zwei Jahre und sieben Monate blieb Pilecki in Auschwitz, unter falschem Namen, als Häftling Nr. 4859.
    "[Ich] spürte einen einzigen Gedanken, der [die] Schulter an Schulter aufgestellten Polen durchlief. Ich spürte, dass wir alle ... von derselben Wut vereinigt waren, in einem Durst nach Rache. Ich spürte, dass ich hier die perfekte Umgebung für meine Arbeit finden würde ..."
    Geboren wurde Witold Pilecki am 13. Mai 1901 in Olonets, einer Kleinstadt an der finnischen Grenze des Russischen Reiches. Ein Kunststudium an der Universität Wilna musste er wegen Geldmangels aufgeben, er wechselte zum Militär. Nach dem deutschen Überfall auf Polen 1939 und dem Einmarsch der Roten Armee im Osten des Landes baute Pilecki die militärische Untergrundorganisation TAP mit auf, die später in der Armija Krajowa, der Heimatarmee, aufging. Auch in Auschwitz organisierte er ein Widerstandsnetz und geriet dabei selbst immer wieder in Lebensgefahr.
    "Das Spiel, das ich ... in Auschwitz spielte, war gefährlich. Dieser Satz gibt die Wirklichkeit aber eigentlich nicht wieder: Ich war weit darüber hinausgegangen, was Menschen in der wirklichen Welt für gefährlich halten würden ..."
    1948 von den Polen zum Tode verurteilt
    Durch einen freigelassenen Häftling gelangte Pileckis erster Auschwitz-Bericht Ende 1940 nach draußen, im März 1941 traf er in London ein. Die Alliierten hielten ihn für übertrieben. Auch seine späteren Berichte über die Ermordung sowjetischer Kriegsgefangener und den Beginn des Massenmordes an den Juden wurden unterschätzt. Vergeblich wartete Pilecki in Auschwitz auf ein Signal zum Aufstand: ohne Unterstützung der Armija Krajowa und der Alliierten war er zum Scheitern verurteilt.
    1943 wurden 7500 Polen in andere Lager verlegt, das Widerstandsnetz brach damit zusammen. Pilecki entschloss sich zur Flucht. Minutiös geplant, gelang sie zusammen mit zwei Kameraden nachts aus einer außerhalb des Lagers gelegenen Bäckerei. Nach der Flucht schrieb er seinen ersten Bericht über Auschwitz, später trug dieser maßgeblich zur Aufklärung des Holocaust bei. Pilecki kämpfte 1944 im Warschauer Aufstand, geriet gegen Ende des Krieges in deutsche Gefangenschaft und schloss sich nach Kriegsende den polnischen Streitkräften im Westen, der Anders-Armee, an.
    Das stalinistische Polen, das nach dem Zweiten Weltkrieg entstand, lehnte er ab. Auf Befehl von General Anders kehrte er nach Polen zurück. Als eine Änderung der politischen Situation aber als aussichtlos galt, sollte er Polen wieder verlassen. Er weigerte sich. Stattdessen wollte er seine Frau und seine beiden Kinder in den Westen schicken, auch sie blieben. Im Mai 1947 wurde er vom polnischen Geheimdienst verhaftet, schwer gefoltert und wegen Spionage angeklagt. Er wurde zum Tode verurteilt und am späten Abend des 25. Mai 1948 im Warschauer Mokotów-Gefängnis durch Genickschuss hingerichtet. Erst 1990 wurde Pilecki juristisch rehabilitiert. Zehn Jahre später wurde erstmals eine umfassende Ausgabe seiner Auschwitz-Berichte veröffentlicht, auf Deutsch sind sie unter dem Titel "Freiwillig nach Auschwitz" erschienen. Heute gilt der freiwillige Auschwitz-Häftling als Held und Märtyrer in Polen.