Türkei - Offener Brief an die Kanzlerin

"Ich halte wirklich dieses Schweigen nicht mehr aus"

Die Intendantin des Berliner Theaters Hebbel am Ufer (HAU), Annemie Vanackere.
Die Intendantin des Berliner Theaters Hebbel am Ufer HAU, Annemie Vanackere: "Uns doch endlich mal verhalten mit einer gemeinsamen Stimme" © David von Becker
Annemie Vanackere und Katharina Narbutovic im Gespräch mit Sigrid Brinkmann · 07.11.2016
In der Türkei hören die Verhaftungen nicht auf. Künstlerinnen und Künstler in Deutschland reagieren darauf mit einem Appell an die Bundeskanzlerin. Die Beweggründe für den offenen Brief haben uns Annemie Vanackere vom Berliner Theater HAU Hebbel am Ufer und Katarina Narbutovic vom Künstlerprogramm des DAAD erläutert.
Sigrid Brinkmann: Dass im Sommer 2013 Bürger aller Altersgruppen, Studenten und Arbeiter, Fromme und Aktivisten, die für die sexuellen Rechte von Homosexuellen kämpfen, gemeinsam auf die Straße gingen, gegen die Räumung des Gezi-Parks demonstrierten und die Macht des Präsidenten herausforderten, kommt heute wie eine unendlich ferne Zeit vor. Seit Juli, seit dem Putschversuch, wird die Meinungsfreiheit Woche für Woche weiter eingeschränkt. Zur gängigen Praxis scheint es zu gehören, dass Anklagepunkte unterschiedslos per Copy-Paste in Haftbefehle eingesetzt werden.
Am Donnerstag haben wir in "Fazit" berichtet, dass religiöse Randalierer am Eröffnungstag der Istanbuler Kunstmesse [Audio] eine weibliche Skulptur zerschlagen haben und offenbar keinerlei Strafe fürchten. Sie brüsten sich ihrer Taten ganz offen.
Das Berliner Künstlerprogramm des DAAD und die Akademie der Künste Berlin haben nun im Zusammenschluss mit Theatern und anderen großen Kultureinrichtungen einen offenen Brief an die Bundeskanzlerin geschrieben. Mit unterzeichnet hat den Appell Annemie Vanackere, die Intendantin des HAU, Hebbel am Ufer, initiiert wurde er von Katarina Narbutovic, die das Berliner Künstlerprogramm des DAAD leitet. Beide sind bei mir im Studio, schönen guten Abend!
Annemie Vanackere: Abend!
Katharina Narbutovic: Guten Abend, Frau Brinkmann!
Brinkmann: Frau Narbutovic, sind Sie es endgültig leid, auf einen tatkräftigen Einsatz für inhaftierte Schriftsteller, Journalisten und Oppositionelle seitens der Bundesregierung zu hoffen?
Narbutovic: Nein, ich glaube, mich hat etwas anderes bewegt. Ich denke, es geht uns allen so, dass wir das Gefühl haben, in überaus zerbrechlichen und schwierigen und düsteren Zeiten zu leben und dass wir die ganze Zeit in unseren Kulturinstitutionen darüber nachdenken, wie man eigentlich darauf reagieren könnte oder was man tun könnte. Und natürlich gibt es dann Momente des Wartens, also des Wartens auf das Wort, als Asli Erdogan verhaftet wurde, den Gedanken, dass auf der Buchmesse deutlich etwas gesagt wird. Natürlich gibt es ein Warten auf die Politik.
Mir ging es in der letzten Woche dann so, es kam so viel zusammen, - also, erst die Verhaftungen der "Cumhuriyet"-Chefredaktion und der anderen Journalisten von "Cumhuriyet", dann der Brief von Asli Erdogan, der auf der … via Deutsche Welle veröffentlicht wurde, und dann kurz darauf noch die Verhaftung der gewählten Parlamentarier, dass ich dachte, ich halte wirklich dieses Schweigen oder diesen Raum, in dem nichts passiert, nicht mehr aus, und dachte: Eine Institution wie das Berliner Künstlerprogramm, die für künstlerische Freiheit einsteht, die für das Aushalten von Differenz einsteht, die für Dialog einsteht, für ein Miteinander von Gleich zu Gleich, steht auch in einer Verantwortung, in einer zivilgesellschaftlichen Verantwortung, hier Gesicht zu zeigen oder sich zu äußern.

" Ich erinnere mich lebhaft an Sacharow und Solschenizyn –, dass es natürlich ständig Unterhandlungen gab"

Und darum war der Gedanke: Ich schreibe jetzt meinen Kollegen in den anderen Kulturinstitutionen, die mir als Allererstes einfallen, von denen ich mir vorstellen könnte, sie tun mit, und frage sie, ob wir nicht gemeinsam eine Erklärung oder einen Brief oder irgendetwas auf den Weg bringen, aber uns doch endlich mal verhalten mit einer gemeinsamen Stimme. Und das Schönste war zu sehen, dass alle sofort mitgetan haben. Und es war beglückend zu erfahren, wie wir uns wirklich zusammenschließen konnten und dass sogar die Akademie der Künste, deren Mitgliederversammlung jetzt just am Wochenende stattfand, sich dazu entschieden hat, mit allen Mitgliedern, mit 120 Mitgliedern der Akademie, diesen Appell mit voranzutreiben und es dann in einen Brief an die Bundeskanzlerin münden zu lassen.
Brinkmann: Es hat ja im August Vertreter des PEN gegeben, die zum Beispiel zur Prozessbeobachtung hingeschickt wurden. Und auch in der vergangenen Woche hat der deutsche Botschafter ganz demonstrativ das Redaktionsbüro der "Cumhuriyet" besucht. Das sind wichtige Zeichen. Sollten deutsche Parlamentarier türkische Oppositionelle im Gefängnis besuchen, sollte wirklich die Bundesregierung auch ihre Leute dorthin schicken?
Narbutovic: Ich nehme an … Ich bin nicht in der Bundesregierung, ich weiß nicht, was sie tut. Aber ich nehme an, also, so wie ich mich früher mit den schwierigen Gefilden der Sowjetunion beschäftigt habe und mich erinnere an die Zeit von Willy Brandt, als er in Unterhandlungen war mit Breschnew und natürlich gerade die Dissidenten alle in den Gefängnissen waren – ich erinnere mich lebhaft an Sacharow und Solschenizyn –, dass es natürlich ständig Unterhandlungen gab. Und ich bin sicher, dass auch die Bundesregierung auf allen Ebenen versuchen wird, etwas für die Inhaftierten zu tun. Wir sehen es nicht. Also, ich denke, wir alle wünschen uns eine entschiedene Haltung und klare Worte. Ich bin nur zu sehr Mensch der Kultur, dass es mir schwerfällt einzuschätzen, welche Handhabe man tatsächlich in der Politik hat.
Brinkmann: Frau Vanackere, Sie haben ein Haus, was auch international aufgestellt ist, an das ständig Kompanien aus dem Ausland kommen, auch aus der Türkei. Das verfolge ich so genau nicht, aber ich denke mal, schon. In welcher Form kann Ihr Haus, Ihr Theater Solidarität üben? Was haben Sie vor?

"Solidarisch mit den Künstlerinnen oder den Verhafteten"

Vanackere: Ich wollte erst mal sagen, dass, als Katharina … als ich den Brief von Katharina Narbutovic bekommen habe, ich sehr erleichtert war. Und auch noch mal Danke an Katharina, dass sie die Initiative genommen hat zu sagen: Ja, natürlich machen wir mit! Weil, wahrscheinlich ging es nicht nur mir so, dass wir in unserer Institution schon viel darüber reden und sprechen und erst mal gucken: Was können wir tun, ohne dass es irgendwie Tagespolitik wird? Weil, wir sind auch ein Theater und eine Kulturinstitution und da gibt es so diese …
Was wir nicht wollen, ist, irgendwie schnell, schnell eine Debatte organisieren, wo man predigt für die eigene Gemeinde. Das interessiert uns als HAU am wenigsten, ehrlich gesagt. Also, das nicht. Was können wir dann doch tun? Dann geht es um eine direkte … Wenn ich so einen Pfeil richte von Deutschland auf die Türkei oder …, dann geht es um: Macht man direkt da was? Und der Brief sagt auch, wir würden uns solidarisch zeigen mit den Künstlerinnen oder den Verhafteten oder den Leuten, die sich aussprechen für Demokratie und Freiheit. Das ist so, da müssen wir dran arbeiten, das finde ich einen sehr konkreten Ansatz, wo wir als Institution uns echt Gedanken machen, um mit diesen Künstlerinnen an erster Stelle, die in prekären Verhältnissen da sind, zu gucken: Können wir die einladen, können wir mit denen was tun? Und die Künstler stehen dann für eine ganze Gesellschaft, sage ich mal so. Die andere Art und Weise, wie wir agieren können, ist indirekt. Und das ist Appell an die Kanzlerin sozusagen. Und ich finde, dass der Brief die beiden Sachen ganz schön zusammenfasst.
Brinkmann: Ist denn denkbar dadurch, dass Sie uns – Sie, Frau Narbutovic haben das als geradezu beglückend beschrieben ja eben auch –, dass jetzt die Kultureinrichtungen auf so breiter Ebene zusammenkommen, dass man gemeinsam ein Programm initiiert, an dem dann die Akademie teilhat, das Künstlerprogramm des DAAD, das HAU, die HAU-Theater und andere Theater?
Narbutovic: Das sind Überlegungen, an denen wir jetzt sind. Aber sagen wir mal so, ich denke schon, die Zivilgesellschaft und die Vertreter der Kultur sind tatsächlich jetzt gefor… also, sind gefordert. In der Zeit, in der wir leben, darf man nicht schweigen und muss man zeigen, wofür man einsteht. Ich denke, das ist das Wichtigste. Und man kann nicht nur ein Post machen, "Je suis Charlie", wenn es Terroranschläge gibt, sondern genauso müssen wir sagen: "Je suis Stamboul", wenn in der Türkei passiert, was gerade passiert ist.
Und die Akademie der Künste hat bereits festgelegt fürs kommende Jahr, einen Schwerpunkt zu den Geschehnissen in der Türkei zu machen, das Berliner Künstlerprogramm des DAAD wird sicherlich im Rahmen seiner Möglichkeiten sich an Gesprächen beteiligen. Das heißt, wir sind schon übereingekommen mit den Institutionen, die mitgemacht haben, genau … also, ins Gespräch zu kommen, einen Schwerpunkt auf die Türkei zu setzen. Ich fand es übrigens auch sehr wichtig und sehr mutig, jetzt, wo Deutschland in dieser Woche Gastland auf der Istanbuler Buchmesse ist, dass die Frankfurter Buchmesse in Gestalt ihres Geschäftsführers und dass das der Börsenverein des Deutschen Buchhandels auch in Gestalt ihres Geschäftsführers sich beide hinter den Appell gestellt haben.
Brinkmann: Berliner Kultureinrichtungen des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels und die Frankfurter Buchmesse sowie viele Kunstschaffende haben einen Appell an Bundeskanzlerin Merkel geschickt. Über die Forderungen habe ich mit Katharina Narbutovic, die den Brief als Leiterin des Künstlerprogramms des DAAD initiiert hat, und mit Annemie Vanackere vom Hebbel-Theater am Ufer gesprochen. Besten Dank für Ihr Kommen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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