Tücken des biologischen Pflanzenschutzes

19.05.2007
Biologische Schädlingsbekämpfung wird als echte Alternative zur chemischen Keule gepriesen. Unsere Biobauern sind so stolz darauf: keine Chemie, kein Gift, nur Natur. So bleibt das Ökosystem im Lot. Man nehme einen Nützling und überlasse es ihm, die Schädlinge "rückstandsfrei" zu verspeisen. Und so leisten inzwischen Myriaden von Raubmilben oder Schlupfwespen in den Gewächshäusern unserer Gemüsebauern ganze Arbeit.
Die Sache hat jedoch einen Haken: Am erfolgreichsten ist sie unter Glas. In freier Wildbahn gibt es reihenweise Probleme. Zum Beispiel schmecken auch die Nützlinge lecker - zumindest aus der Sicht ihrer Fraßfeinde. Clevere Schädlingsexperten suchen daher auf anderen Kontinenten nach Nützlingen, die dort, wo sie später freigesetzt werden sollen, noch keine persönlichen Feindschaften unterhalten. So können sie - zumindest theoretisch - unbehelligt ihr segensreiches Werk auf den heimischen Äckern vollbringen.

Das Bio-Konzept zur Schädlingsbekämpfung überzeugte auch die Regierung von Jamaika. Sie hatte das Problem, dass sich auf der Karibikinsel jede Menge Ratten tummelten, die sich am Zuckerrohr gütlich taten. Leider richtet Rattengift gegen die lästige Nagerplage auf Dauer wenig aus, weil die Tiere schnell lernen, die vergifteten Köder zu erkennen und zudem mit einer bewundernswerten Fähigkeit ausgestattet sind, Gift-Resistenzen zu entwickeln. So entschloss man sich, einen natürlichen Feind der Ratten ins Land zu holen: den indischen Mungo. Mungos sind intelligente, katzenartige Tiere, die Ratten ebenso entschlossen verzehren wie Schlangen und anderes unerwünschtes Kleinvieh.

Leider kam es bei dieser Aktion zu einer kleinen Panne: mit den Mungos schleppten die Experten auch die Tollwut ein. In einem anderen Punkt hatten sie allerdings Recht behalten: Die importierten Mungos erfreuten sich an der reich gedeckten Tafel und vermehrten sich auf Kosten der Ratten vorzüglich. Und eines Tages war die Rattenplage besiegt. Allerdings verlangte es die zahlreichen Mungos weiterhin nach schmackhafter Kost. Und da es keine Ratten mehr gab, machten sie sich über die appetitlichen Hühnchen der armen Subsistenzbauern, über die Kleinsäuger der Insel und die größeren Vogelarten her. Mungos sind unglaublich gewandte und schlaue Tiere. Es machte ihnen daher keine Mühe, die Insel ratzekahl zu jagen. Ratzekahl? Nicht ganz, denn die ausgemerzten Ratten hinterließen eine "ökologische Nische": Das verlockende Futterangebot der Zuckerrohrplantagen nutzten alsbald flinke Baumratten. Ihnen können die Mungos kaum nachstellen, da sie nicht auf Bäume klettern. Die Bilanz des Mungo-Versuchs: eine neue Seuche, ein verarmtes Ökosystem, eine Baumrattenplage und weiterhin abgenagte Zuckerrohrfelder.

Das wertvolle Zuckerrohr führte auch in Australien zu einer unrühmlichen und teuren Nachhilfestunde in Sachen "Ökologie". Die dortigen Farmer lassen sich offenbar nur ungern reinreden: Um Herr über Mäuse und Zuckerrohrkäfer zu werden, führten sie im Jahre 1935 - entgegen der Warnungen der Wissenschaftler - die Aga-Kröte (Bufo marinus) aus Südamerika ein. Diese hält den Käfer, so man ihn ihr anbietet, für eine außerordentliche Delikatesse. Unglücklicherweise pflegen die Kröten jedoch des Nachts zu speisen, während der Zuckerrohrkäfer bei Tage seinen Geschäften nachgeht, wenn die Kröten unter Steinen schlafen. Auch an den flinken Mäusen zeigten die dicken Lurche nur mäßiges Interesse.

Dennoch gediehen die Kröten prächtig: Nach Anbruch der Dunkelheit vertilgten sie alles einheimische Kleingetier, das ihnen vor die Zunge kam. Da die Aga-Kröte sehr giftig ist, verenden auch Krokodile, Eidechsen und Schlangen, die ihrerseits den trägen Neuankömmling probieren. Mit Millionenaufwand versuchte die australische Regierung, den Vormarsch der Kröten zu stoppen; auch durch die Infektion mit einem Virus. Dabei entdeckten die Wissenschaftler, dass die Kröte selbst Trägerin eines Virus ist, das einheimische Frösche, Fische, frisch geschlüpfte Krokodile und Schlangen befällt.

Aber nicht nur Bauern und Politiker, auch Wissenschaftler können irren, wie die folgende abenteuerliche Odyssee zeigen möge: 1955 führten indische Pflanzenzüchter in Poona Anbauversuche mit amerikanischem Weizen durch. In jedem Sack Weizen auf dieser Erde finden sich naturgemäß auch ein paar Unkrautsamen; in diesem Fall waren Körner des anderthalb Meter hohen Karottenkrautes (Parthenium hysterophorus) aus Mexiko dazwischen geraten. Und damit begann eines der folgenreichsten "Freisetzungsexperimente" in der Geschichte Indiens.

Denn inzwischen hat sich das Kraut mit den weißen Blüten im ganzen Land ausgebreitet. Unbehelligt von Schädlingen oder Krankheiten wuchert die anspruchslose Pflanze heute in den Städten und auf dem Land, entlang der Straßenränder, an Bahndämmen und auf Viehweiden. Überall dort, wo das Kraut gedeiht, folgt eine Allergiewelle. Verantwortlich dafür sind eine Reihe von natürlichen Giftstoffen des Neubürgers, die auch der Landwirtschaft Probleme bereiten. So leiden die heiligen Kühe an Euterentzündungen, und die Pollen des Karottenkrauts verhindern die Befruchtung von Nutzpflanzen. Gift half bisher nichts, und das Ausreißen per Hand bewirkte allenfalls, dass sich jeder zweite Helfer eine Allergie zuzog.

Schließlich gaben die Ökologen den entscheidenden Tipp: Man müsste in der Heimat des Allergiekrautes nach natürlichen Feinden suchen. Alsbald schafften Experten des indischen "Biologie-Kontroll-Zentrums" einen Blattkäfer (Zygogramma bicolorata) von Mexiko nach Indien. In Mexiko hält er die Pflanze so wirkungsvoll in Schach, dass sie nie zum Problem wurde. Anders in Indien: Dort droht der zur Hilfe geholte Käfer nun selber zur Plage zu werden, denn er frisst statt Karottenkraut vor allem Sonnenblumen, ein wichtiges Produkt der indischen Landwirtschaft.

Mehr als 1780 verschiedene Nützlinge zur Bekämpfung der verschiedensten Schadinsekten wurden seit dem Jahr 1880 weltweit freigesetzt. Und nicht immer lässt sich erahnen, was den biologischen Kammerjägern nach getaner Arbeit noch alles einfällt. Viele von ihnen bescheiden sich nicht damit, nachdem alle Beute vertilgt ist, einfach zu verhungern. Sogar ein Sympathieträger wie der Marienkäfer, den man in den U.S.A. seit 1987 zur Bekämpfung der Weizen-Blattlaus erfolgreich einsetzte, verwandelte sich in einen Öko-Fiesling: Er hat nun einheimische Marienkäferarten verdrängt.

Andere Gast-Insekten, die zur Schädlingsbekämpfung engagiert wurden, leben sich besser in ihrer neuen Heimat ein, als ihren "Arbeitgebern" lieb ist: Auf den Kleinen Antillen wachsen lästige, sperrige, stachelige Kakteen, die bei den ansässigen Farmern auf wenig Sympathie stoßen, da sie ihr Land verunkrauten. Daraufhin führte man 1957 den Schmetterling Cactoblastus cactorum auf die Karibikinseln ein, der die pieksigen Gewächse deutlich dezimierte. Doch die Falter zog es mehr nach Norden: 1989 tauchten sie auf Inseln vor Florida auf, wo sie sich zum Entsetzen der Botaniker an einer dort vom Aussterben bedrohten Kaktusart, der Opuntia spinosissima, gütlich taten. Mittlerweile sind die reiselustigen Motten bereits im U.S.-Bundesstaat Georgia gesichtet worden. Noch schwerer vorherzusehen war der Effekt, den eine andere Mottenart, Agapeta zoegana, auf die Vegetation hatte. Nachdem seine Raupen das in die U.S.A. eingeschleppte Knapweed dezimiert hatte, ging gleichzeitig der Ertrag einer vom Weidevieh gern gefressenen Grasart um 70 Prozent zurück. Warum, das weiß bis heute niemand.

Wie phantasievoll Lebewesen ihre Möglichkeiten in einem veränderten Ökosystem ausschöpfen, machten die afrikanischen Harlekinschrecken mit einem neuen Unkraut namens Chromolaena odorata vor. Ursprünglich stammt das Kraut aus dem tropischen Südamerika. Von dort wurde es nach Sri Lanka verschleppt und erreichte über Südostasien eines Tages Afrika. Die weite Reise ist ihm offenbar gut bekommen, denn mittlerweile breitet es sich in seiner neuen Heimat rasant aus - mit fatalen Folgen für die Landwirtschaft.

Überall dort, wo sich Chromolaena ansiedelt, avanciert ein bis dahin harmloses Insekt in kürzester Zeit zu einem wichtigen Schädling: Die Harlekinschrecke (Zonocerus variegatus) frisst seither die Maniok- und Maisfelder sowie die Gemüsegärten der afrikanischen Familien kahl. Lange wurde über die Bedeutung des Unkrauts für die Heuschreckenart gerätselt, bis man herausfand, dass es ihnen reichlich giftige Pyrrolizidin-Alkaloide liefert. Die Schrecken fressen gezielt nur bestimmte, gifthaltige Blütenteile und reichern die darin enthaltenen Wirkstoffe in einer Drüse an. Bei Bedarf spritzen sie sie jedem Feind entgegen, der sich ihnen nähert. Damit bewaffnet, machen sie sich in großen Schwärmen über die viel bekömmlicheren Nutzpflanzen her. So können durch Einschleppung exotischer Arten auf ziemlich verschlungenen Pfaden Risiken für das Ökosystem mit dramatischen Folgen für die Nahrungsversorgung des Menschen entstehen.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Die biologische Schädlingsbekämpfung ist ein außerordentlich intelligentes Konzept. Nur sind ökologische Gleichgewichte offenbar doch komplizierter als zunächst vermutet. Und die Eigenschaft "biologisch" ist keineswegs gleichbedeutend mit "ökologisch neutral". Auch Bio-Methoden können unsere Umwelt gefährden, und nicht nur die Gentechnik oder die chemische Keule. Denn während Pestizide irgendwann im Laufe von Jahrzehnten oder schlimmstenfalls Jahrhunderten abgebaut werden, können sich Nützlinge vermehren und an veränderte Umweltbedingungen anpassen. Ihre Gene ermöglichen es ihnen, flexibel auf ihre Umwelt zu reagieren, und so kann es Jahrzehnte oder Jahrhunderte dauern, bis sich ein neues ökologisches Gleichgewicht einstellt.

Entnommen aus: Pollmer et al: Liebe geht durch die Nase. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001