Trübe DDR-Familiengeschichte

06.08.2012
Ein epileptischer Anfall lässt Aleit über ihr Leben nachdenken: Ihr pädophiler Stiefvater, die lieblose Mutter, der ostdeutsche Staat, der wenig Zuneigung in Familien zuließ. Die junge Frau beschließt, ihr Leben umzukrempeln.
Acht Tage - von Sonntag bis Sonntag - dauert der Bericht von Aleit, der Ich-Erzählerin. Er beginnt mit einem epileptischen Anfall am ostersonntäglichen Mittagstisch und endet mit der Entlassung Aleits aus dem Krankenhaus. Der Anfall wirkt wie eine Katharsis auf die junge Frau. Die 1971 im Erzgebirge geborene Saskia Fischer blättert in ihrem Roman "Ostergewitter" die schreckliche Geschichte einer vom Osten nach Nordrhein-Westfalen übergesiedelten Familie auf. Der epileptische Anfall ist die Reaktion des Körpers auf die Brutalitäten einer DDR-Erziehung, die der Mutterliebe entgegenwirkte. Dazu kommt das verschwiegene Leiden an den Taten eines pädophilen Stiefvaters und einer abweisenden Mutter, die die Halbschwester vorzog.

Der Zusammenbruch ist die Folge einer Entdeckung. "Feindtling", der Stiefvater, hat sich beim Osterbesuch mit Aleits fünfjähriger Tochter in ein verdunkeltes Zimmer zurückgezogen.

Nach dieser Entdeckung rotieren Hirn und Gedächtnis Aleits. Die zurückgekehrten Erinnerungen an die durchlittenen eigenen Erfahrungen helfen ihr, Entscheidungen zu treffen, die sie längst hätte treffen müssen. Sie zeigt Feindtling an, wird ihre Doktorarbeit, in die sie sich verhakt hat, ruhen lassen, Christian, den Vater der Tochter, verlassen und einen Neuanfang wagen.

Grotesk und drastisch beschreibt Saskia Fischer im ersten Kapitel den krankhaften Anfall. Zwischen die herzlosen Kommentare der Mutter mischen sich Aleits Selbstbeobachtungen "als hätte man meine gerissenen Kindheitsnerven wieder zusammengelötet".

Die Ich-Erzählerin vermeidet beim Zusammensetzen der Erinnerungsfetzen das Aufkommen von Selbstmitleid. Während sie die Folgen des Anfalls in ihrem Körper beobachtet, zeigt sie das Negative im Positivbild der DDR, wie die Vollbeschäftigung der Frauen, indem sie eine Parteiverordnung der späten Siebzigerjahre wiedergibt.

Damals hatte die Partei beschlossen, dass Kinder ihre Mütter vierundzwanzig Minuten und ihren Vater zwölf Minuten täglich brauchen. Das Kind gehörte dem Staat. Saskia Fischers Roman enthält viele solcher familienpolitischen Aussagen, die man selten in den Romanen findet, die sich in den vergangenen zwanzig Jahren mit der DDR-Vergangenheit auseinandergesetzt haben. Damit wird nichts entschuldigt, "keine faule Ausrede" geduldet, nicht allein die DDR verantwortlich gemacht. "Du hast kein "Trauma", ruft die Tochter ihrer Mutter entgegen, "du hast Schuld!".

Saskia Fischer verarbeitet neben dem Thema DDR auch die familiären Vertuschungen und Fehlleistungen. Die Ich-Erzählerin erkennt durch die Analyse der Krankheit ihr bisheriges Leben. Ausgeliefert dem DDR-System, der Familie und der anonymisierten Behandlung im Krankenhaus besteht ihr erster Befreiungsschritt in der selbstbestimmten Entlassung. "Ostergewitter" ist ein bitterböser Bericht über die späten Folgen der Volkserziehung. Auch Christa Wolfs "Kassandra", das DDR-Kultbuch, fällt, da die Autorin sich vorgenommen hat, mit den Mythen aufzuräumen, unter das Verdikt der "Verkleidung und Verstellung".

Besprochen von Verena Auffermann

Saskia Fischer: "Ostergewitter"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
196 Seiten. 19,95 Euro
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