Trotz widriger Umstände das Leben leben

11.03.2013
Die Journalistin Inge Deutschkron, die Fotografin Gisèle Freund und die Rechtsanwältin Erna Proskauer eint ihre Vergangenheit: Wegen ihres jüdischen Glaubens mussten sie vor dem Nazi-Terror fliehen. Magdalena Kemper hat mit ihnen und anderen über diese Zeit gesprochen und umfassende Porträts zusammengestellt.
Gisèle Freund: ""Naja", sagt er… "sind Sie Jüdin"? Darauf habe ich ihn angeschrien: "Haben Sie etwa schon mal gehört, dass eine Jüdin ‚Gisela’ heißt?" Der war so alt wie ich, auch in den 20ern. "Ach…Heil Hitler", hat er gesagt. Und – ich hatte diesen Ton angenommen, den auch mein Vater immer hatte, der war der typischer Preuße…"

Inge Deutschkron: "Als uns jemand Schneeschippe in die Hand drückte, sonne SA-Typen, ja? Und alle anderen brav schippten, ja, da waren ja andere Juden… und meine Mutter sagte: "Weißte, jetzt singen wir mal!" Und wir sangen also beide laut und deutlich, ich weiß nicht, das Ännchen von Tharau oder sonst irgendwas von diesen deutschen Volksliedern. Und das wurde denen so unsympathisch, diesen Nazis, dass sie sagten: Macht, dass ihr wegkommt!"

Gisèle Freund, Jahrgang 1908 und Inge Deutschkron, Jahrgang 1922. Beide stammen aus jüdischen Familien, beide wuchsen zu einer Zeit in Deutschland auf, als Jüdisch-sein Unterdrückung, Verfolgung und für viele schließlich den Tod bedeutete. Aber die beiden Frauen widerstanden den Demütigungen der Nazis. Und sie besaßen eben jene Chuzpe, die ihnen zum Überleben half.

Inge Deutschkron: "Wissen Sie, das zeigt wieder, nicht wahr, man muss immer irgendwie kämpfen, irgendwie kommt doch was dabei raus, wenn man kämpft."

Fundus aus mehr als 150 Gesprächen
Das Hörbuch "Als Kind wünschte ich mir goldene Locken" versammelt elf Gespräche mit Überlebenden der Shoah. Geführt hat sie die 1947 in Berlin geborene Journalistin Magdalena Kemper. Als Moderatorin der Sendung "Das Gespräch" im SFB – und später im RBB – unterhielt sie sich in 30 Jahren mit über 150 Menschen, deren Lebensläufe besonders intensive Berührungspunkte mit der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts aufweisen.

Giséle Freund: "Mein erstes Bild war die Auslage eines Coiffeurs, der damals noch existierte in der Rue de Laudion, das zweite war ein grün und rotes Licht an einer Straßenecke, und das dritte war so eine Bedürfnisanstalt, die’s heute auch nicht mehr gibt [Interviewerin: ein Pissoir] ein Pissoir… und das vierte war Paul Valery."

Den meisten der interviewten Personen gelang die Flucht ins Exil – wo sie oft aus einer materiellen Not heraus ungeahnte Talente entfalteten. Gisèle Freund wurde zu einer der bekanntesten Fotografinnen Frankreichs. Und Hilde Palm begann im Exil Gedichte zu schreiben – unter dem Pseudonym Hilde Domin:

"Man muss weggehen können / und doch sein wie ein Baum / als bliebe die Wurzel im Boden / als zöge die Landschaft / und wir stehen fest. / Man muss den Atem anhalten / bis der Wind nachlässt / und die fremde Luft um uns zu kreisen beginnt. / Bis das Spiel von Licht und Schatten / von Grün und Blau / die alten Muster zeigt. / Und wir zu Hause sind, / wo es auch sei. / Und niedersitzen können / und uns anlehnen / als sei es an das Grab / unserer Mutter."

Neben den Schrecken der Nazidiktatur wird in diesen Gesprächen mit neun Frauen und zwei Männern vor allem eines deutlich: die Kränkung der Opfer ob der ausbleibenden Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Die Rechtsanwältin Erna Proskauer kehrte aus ihrer Emigration nach Palästina 1952 nach Deutschland zurück. Ihr Antrag auf Wiedereinstellung wurde vom Bundesverfassungsgericht zunächst abgelehnt:

"Aber der wahre Grund liegt darin, dass sie also die Stellen verbraucht hatten mit ihren Ex-Nazis. Dann war ja das Gesetz gekommen zur Rehabilitation ehemaliger Nazis, und da setzten sie die schön wieder rein. Und dann waren die Stellen besetzt. Das ärgert mich heute noch, das kann ich heute noch nicht verwinden, ich finde es unglaublich. Die Argumente, die waren wirklich, also… bodenlos. Bodenlos!"

Die Fotografin Gisèle Freund, aufgenommen in den späten Siebzigern des letzten Jahrhunderts in Paris.
Die Fotografin Gisèle Freund, aufgenommen in den späten Siebzigern des letzten Jahrhunderts in Paris.© AP Archiv
Kemper porträtiert den ganzen Menschen
Magdalena Kemper tritt diesen elf Menschen ohne aufgesetzte Betroffenheit gegenüber. Noch wichtiger ist aber, dass sie die von ihr interviewten Menschen nicht auf ihre Zeitzeugenschaft reduziert und zu Stichwortgebern macht. Im Gegensatz zu NS-Dokumentationen à la Guido Knopp portraitiert sie den ganzen Menschen.

Magdalene Kemper: "Sie sind 1923 hier in Berlin geboren…"
Susanne von Peczensky: "Nee, gar nich'! Bin in Augsburg geboren, auf der Durchreise gewissermaßen. Aber ich bin in Berlin aufgewachsen."

Ihre Gegenüber erscheinen daher weniger als Opfer, denn als wagemutige, gelegentlich sogar furchtlose Individuen, die trotz widrigster Umstände ihre Leben lebten – und leben:

Inge Deutschkron: "Um die Jugend hat man mich betrogen. Aber ich behaupte mal, ich hole sie jetzt nach."

Und die, so wie die Fotografin Eva Kemlein, vor der erlebten Geschichte nicht resigniert haben.

"Das ist das, was an dieser ganzen Zeit ein unheimlicher Lichtblick war: Dass es eben viele Menschen gab, die uns geholfen haben. Und mit dieser Erkenntnis kann man wirklich auch heute noch leben. Ich glaube immer wieder an das Gute im Menschen."

Besprochen von Ralf Bei der Kellen

Magdalena Kemper: "Als Kind wünschte ich mit goldene Locken" Gespräche mit Überlebenden der Shoah
Der Audio Verlag / RBB, Berlin 2013
4 CDs, Laufzeit ca. 318 Minuten
19,99 Euro
Mehr zum Thema