Tristesse in der Verbannung

Vorgestellt von Reinhard Kreissl · 19.08.2007
Berühmt wurde die Atlantikinsel St. Helena als Verbannungsort von Napoleon. Johannes Willms hat sich auf Spurensuche begeben und räumt in seinem Büchlein "St. Helena - Kleine Insel, großer Wahn" mit jeglicher Form von Heldenverehrung auf.
St. Helena, winziges Eiland im Atlantik, gehört zur Kategorie der Kreuzworträtselbegriffe: Verbannungsort Napoleons mit elf Buchstaben. Johannes Willms, gelernter Historiker, Autor der "Süddeutschen Zeitung" mit Wohnort Paris und praktizierender historischer Publizist hat mit seinem kleinen Buch über diese Insel und ihren berühmtesten Bewohner einen empfehlenswerten Beitrag für die diesjährige Urlaubsbibliothek geliefert.

Handlich im Format, leichte Lektüre in jeder Hinsicht, passt dieses Bändchen in jede Badetasche. Der Autor erweist sich auf gut 200 Seiten als ebenso kenntnisreicher Experte in allen Napoleon betreffenden Angelegenheiten, wie launischer Spötter, der in leichtem Ton über die Heldenverehrung und das Leben auf diesem gottverlassenen Felsen fernab aller Touristenströme zu berichten weiß. Changierend zwischen ausladender historischer Erzählung und locker skizzierten Alltagsbeobachtungen wandert Willms respektlos durch die Insel und die Jahrhunderte, dabei immer seinen Hauptakteur und seine beiden hauptsächlichen Aufenthaltsorte, Longwood House und The Briars im Blick.

"Wer ohne den rechten Glauben im Herzen und in völliger Unkenntnis jener heiligen Schriften oder ihrer Interpretationen durch deren wichtigste Exegeten, an denen in Frankreich bisher noch keine Generation Mangel litt, sich jenen beiden Stätten naht, dem wird kein Schauder diesen Besuch zu einem unvergesslichen Erlebnis werden lassen. Was den anwandelt, ist vielmehr das flüchtige Erlebnis einer penetrant Aufmerksamkeit heischenden Belanglosigkeit, wie sie gewissen Provinzmuseen eigentümlich ist, in denen die Dürftigkeit des Bestands zur pädagogischen Tugend verklärt wird."

Als Autor zweier größerer Bücher über Napoleon, eines davon über die Zeit auf St. Helena, kann Willms in der Darstellung auf seine eigenen Arbeiten zurückgreifen. Wer diese kennt, dem wird manches bekannt vorkommen. Auch verleitet die intime Vertrautheit mit allen historiographischen Details der Napoleonbiographie zu manchmal etwas langatmigen Ausflügen auf Nebenschauplätze, bei denen der Bezug zur Insel und der Zeit der Verbannung nur mehr schwer herzustellen ist. Andererseits gibt dieses umfassende Wissen Willms die Munition für eine süffisante Abrechnung mit den "Evangelisten", also jenen Autoren, die den Mythos von Leben und Leid des Kaisers auf dem schroffen Eiland in ihren Schriften für die Nachwelt heiligenscheinmäßig glorifiziert haben. Vermutlich ist es mehr als Konkurrenzneid unter Kollegen, wenn er über die Anbetungsprosa der literarisch zu Ruhm gekommenen Napoleonverehrer herzieht und mit böse ausgewählten Originalzitaten deren frömmelnde Haltung gegenüber dem Korsen vorführt. So findet sich etwa im Anschluss an die oben zitierte Passage ein Stelle aus einem offensichtlich als Klassiker der Napoleonhagiographie deklarierten Text von Octave Aubry, der in den 1930er Jahren St. Helena bereiste:

"Ich habe die Luft seines Atems verspürt, ich habe seinen Geist gesehen, ja, ich habe ihn gesehen, wie er sich hinter diesen schlichten Türen erhob, in diesen elenden Stuben, ich habe gesehen, wie er das Spektiv von Austerlitz durch das Loch im Vorhang schob, um von fern die Zelte auf der Ebene von Deadwood zu mustern; ich habe ihn sprechen hören, wie er sich seinen letzten, so wenigen ihm Getreuen offenbarte."

Das Ziel von Willms scheint die Abrechnung mit übertriebener Heldenverehrung zu sein. Napoleon auf St. Helena, nebst allen Verzweigungen liefert ihm dafür das Material. Auch wenn er als Autor offensichtlich selbst im Banne dieser Figur steht und schreibt, so versucht er doch immer die gebotene ironische Distanz zu halten, die es braucht, um das Lächerliche am falschen Pathos, das die Figur Napoleon zu allen Zeiten angezogen hat, zu erkennen. Besonders einleuchtend wird das, wenn die gloriose Historienmalerei mit der Tristesse der heutigen Kultstätten kontrastiert wird. Willms war selbst vor Ort, hat sich den Mühen der umständlichen Anreise ausgesetzt und kann daher farbigste Schilderungen gegen die aufgeblasenen Heldenmythen setzen.

Überhaupt ist der im Gesamttext, der hauptsächlich Napoleon gewidmet ist, eher kurze Teil über die Insel selbst, sehr aufschlussreich. Man erfährt, wie in einem geschlossenen Biotop sich ökologische Katastrophen schnell ausbreiten und langfristig ebenso verheerende Wirkungen haben können, wie das Auftauchen eines abgedankten Kaisers nebst Entourage und Bewachern auf die verschlafene Sozialstruktur. Kombiniert mit einem Blick auf die Bilder von Google Earth kriegt man den Eindruck eines von grünen Wiesen überzogenen verlassenen Felsen in den Weiten des Atlantiks, einem Ort ohne Flughafen und einer Verbindung zur Außenwelt, die heute von einem viermal im Jahr anlegenden Postschiff aufrecht erhalten wird. Mit etwas Fantasie lässt sich Sankt Helena sogar als frühes Opfer der Globalisierung stilisieren. Während früher die Schiffe vor der Insel vor Anker gingen, um ihre Vorräte für den nächsten Schlag aufzustocken und den Bewohnern einen bescheidenen Wohlstand sicherten, gibt es heute keinen kommerziell sinnvollen Grund mehr, diesen Ort anzusteuern. Wenn heute das Postschiff ausbleibt, so weiß Willms nach Befragung der Eingeborenen zu berichten, dann können die zentralen Güter des täglichen Lebens, von Rasierschaum über Zigaretten bis zum Bier in Dosen schon mal knapp werden.

Gerade das macht den Charme dieses Buch als Urlaubslektüre aus, das man es vermutlich meist in Gegenden liest, die im Stundentakt mit den üblichen Fluglinien zu erreichen sind und wo alle Annehmlichkeiten rund um die Uhr angeboten werden. Und so kann man Willms nicht nur den historisch interessierten Lesern ans Herz legen, die an vollen Stränden kurzweilig unterhalten werden und Napoleon auf St. Helena begleiten wollen. Das Buch kann auch präventiv heilsame Wirkung für jeden Aussteiger entfalten, der davon träumt, weit ab der Zivilisation an Orten wie diesen ein Dasein im Einklang oder heroischen Kampf mit der Natur und deren Gegebenheiten zu fristen.

Johannes Willms: St. Helena - Kleine Insel, großer Wahn
Mare Buch Verlag, Hamburg 2007
Johannes Willms: "St. Helena - Kleine Insel, großer Wahn"
Johannes Willms: "St. Helena - Kleine Insel, großer Wahn"© Mare Buch Verlag