Treue, Gehorsam, Tapferkeit

Rezensiert von Ernst Piper · 24.10.2010
Gross fügt den vielen Büchern über das Dritte Reich nicht einfach ein weiteres hinzu, sondern wählt einen innovativen Ansatz und versucht, durch eine Analyse der moralischen Urteile die nationalsozialistische Gesellschaft von innen zu verstehen.
Am 4. Oktober 1943 hielt der Reichsführer-SS Heinrich Himmler auf einer Tagung der SS-Gruppenführer in Posen eine Grundsatzrede, in der er nach einer ausführlichen militärischen Lagebeurteilung über die Tugenden des SS-Mannes dozierte. Von Treue, Gehorsam und Tapferkeit war da vor allem die Rede. Am Ende des Tugendkataloges standen Fleiß und "Alkohol vermeiden". Diese Rede Himmlers ist für Raphael Gross ein erschreckender Beleg dafür, dass Moral und Verbrechen bei den Nationalsozialisten von Anfang an miteinander verknüpft waren:

"Deutschland ist ein moralisches Land. Nicht nur die Verbrechen der Nationalsozialisten, sondern auch die Erinnerung an sie wird ständig moralisch beurteilt. Die moralische Interpretation der nationalsozialistischen Verbrechen ist so alt wie diese selbst. Schon die Täter haben sich darum bemüht, eine moralische Haltung gegenüber den Verbrechen zu finden."

Gross fügt den vielen Tausend Büchern über das Dritte Reich nicht einfach ein weiteres hinzu, sondern er wählt einen innovativen Ansatz und versucht, durch eine Analyse der moralischen Urteile die nationalsozialistische Gesellschaft von innen zu verstehen. Der Zugriff auf die Moral ist dabei nicht zufällig, denn anders als in der marxistischen Ideologie, die sich vor allem auf ökonomische Kategorien stützt, spielen moralische Begriffe für den Nationalsozialismus eine zentrale Rolle.

"Blut und Ehre" heißt eines der Bücher des nationalsozialistischen Ideologen Alfred Rosenberg. Rasse und Moral sind unauflöslich miteinander verknüpft. Die Volksgemeinschaft ist ein rassistisches Konstrukt, das ohne eine moralische Fundierung nicht auskommt.
Der Nationalsozialismus hatte ein dezidiert partikulares Moralsystem. Die erstrebte Volksgemeinschaft war exklusiv konzipiert. Wer zu ihr gehören konnte und wer nicht, richtete sich nicht nach territorialen, sondern nach ethnischen – im Jargon der Zeit "rassischen" – Kriterien. In der Konsequenz war das nationalsozialistische Moralsystem nicht weniger exklusiv als die Gemeinschaft, die danach leben wollte. Himmler sagte in seiner zu Beginn zitierten Rede:

"Ehrlich, anständig, treu und kameradschaftlich haben wir zu Angehörigen unseres eigenen Blutes zu sein und zu sonst niemandem."

Die partikulare Moral richtete sich scharf gegen den Universalanspruch der christlichen Nächstenliebe. Sie legitimierte sich nur gegenüber der eigenen Volksgemeinschaft und galt auch nur für sie. Deshalb war die systematische Ermordung von vielen Millionen Menschen zwar ein organisatorisches, aber kein moralisches Problem.

Raphael Gross entfaltet seine moralphilosophischen Überlegungen an einer ganzen Reihe von Beispielen. Dabei interessiert ihn insbesondere auch die Kontinuitätsfrage, das Fortwirken der nationalsozialistischen Moral nach 1945. Das ist ein vielversprechender Forschungsansatz, denn ein Moralsystem ist viel tiefer implantiert als zum Beispiel ideologische Überzeugungen, die von vielen Menschen je nach politischer Großwetterlage gewechselt werden, gegebenenfalls auch mehrfach. Die einmal eingeimpfte Moral dagegen überlebt, auch ohne dass das den Betroffenen unbedingt bewusst ist.

Gross zeigt das Phänomen der Kontinuität des moralischen Urteilens an ganz unterschiedlichen Protagonisten wie etwa dem Juristen Fritz von Hippel oder Hitlers Sekretärin Traudl Junge. Er kontrastiert Karl Morgen, der als SS-Chefrichter von Krakau auch für Auschwitz zuständig war, mit Kurt Gerstein.

Der fanatische Nationalsozialist Morgan deutete seine Biografie nach der Kriegsniederlage mit großem Geschick um, ohne von seinen Grundüberzeugungen abrücken zu müssen. Im Entnazifizierungsverfahren zunächst als Hauptbeschuldigter angeklagt, wird er am Ende vollständig entlastet, ja es gelingt ihm sogar, sich zum Widerstandskämpfer zu stilisieren.

Kurt Gerstein hätte sehr viel eher als Karl Morgen ein Anrecht darauf gehabt, als Widerstandskämpfer anerkannt zu werden. Als Hygiene-Fachmann der Waffen-SS war er in Mordaktivitäten involviert und unter anderem mit der Beschaffung von Zyklon B befasst. Aber er versuchte zugleich, Verfolgten zu helfen und Informationen über die Vernichtungsvorgänge ins Ausland zu bringen. Gerstein, der im Juli 1945 unter ungeklärten Umständen starb, wurde bei der Entnazifizierung postum als belastet eingestuft, kam also in die zweitschlechteste von fünf Kategorien. Erst sehr viel später begann seine Rehabilitierung, wozu nicht zuletzt Rolf Hochhuth mit seinem Theaterstück "Der Stellvertreter" beitrug.

Viel ist schon geschrieben worden über die Skandalrede, die Martin Walser 1998 bei der Entgegennahme des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels gehalten hat. Raphael Gross analysiert sie noch einmal mit dem von ihm entfalteten terminologischen Instrumentarium und kann zeigen, dass der Konflikt zwischen Martin Walser und Ignatz Bubis aus dem Fortwirken moralischer Urteilsformen der NS-Zeit erklärt werden kann.

Die universelle Moral der alliierten Siegermächte wurde äußerlich adaptiert, die "Reeducation" machte aus vielen Millionen Nazis brauchbare Bürger eines ganz anders gearteten Staates. Sie übernahmen von den Besatzern deren Wertesystem, nicht aber deren Art des moralischen Urteilens. Die nationalsozialistische Moral wurde überformt, aber sie verschwand nicht. So ist es zu erklären, dass nach dem Bekanntwerden der Verbrechen des Holocaust das vorherrschende moralische Gefühl nicht Empörung war, sondern Scham:

"Die Nachgeborenen verurteilten diejenigen Handlungen, die in dem alten System positiv bewertet worden waren. Aber sie als Verbrechen anzusehen hieß für sie nur, auf diese Handlungen die Form der Beurteilung anzuwenden, die sie mit der Internalisierung des nationalsozialistischen Systems gelernt hatten. Dass sie sich für Handlungen schämten, die sie nicht begangen hatten, zeigt also auch, wie sehr sich die Form des moralischen Urteilens nach dem Krieg erhielt, obwohl seine Inhalte gewechselt hatten. Auschwitz war, so kann man sagen, in der Wahrnehmung dieser jungen Deutschen deshalb ein Verbrechen, weil es eine 'Schande' war."

Raphael Gross beschließt seine Aufsatzsammlung mit dem Wunsch, dass seine Pionierarbeit viele weitere Forschungen anregen möge. Er verweist zurecht darauf, dass ein solcher moralgeschichtlicher Zugriff mit dem Versailler Friedensvertrag einsetzen muss, mit der Dolchstoßlegende und der Agitation gegen den "Schandfrieden". Die damaligen Siegermächte wollten den deutschen Kaiser wegen "schwerster Verletzung des internationalen Sittengesetzes und der Heiligkeit der Verträge" vor ein internationales Gericht stellen, was daran scheiterte, dass Wilhelm II. Zuflucht in den Niederlanden suchte und die ihn nicht auslieferten.

Die später vor dem Reichsgericht in Leipzig geführten Kriegsverbrecherprozesse waren der erste Versuch, Kriegsverbrechen juristisch zu bewältigen. Sie sollten einer internationalen Rechtsordnung zum Durchbruch verhelfen. Tatsächlich gerieten sie zur Farce.

Zu einem sehr viel eindrucksvolleren Versuch der Etablierung einer universellen Moral wurde dann 1946 der Hauptkriegsverbrecherprozess in Nürnberg. Eines der furchtbarsten Dokumente der Anklage war Himmlers Posener Rede, in der er die Vernichtung der Juden als nicht zu tilgendes Ruhmesblatt der deutschen Geschichte gefeiert hatte. Die Alliierten versuchten, in Nürnberg einer neuen, dem Völkerfrieden verpflichteten Weltordnung Geltung zu verschaffen. Viele Deutsche schmähten den Prozess als "Siegerjustiz", Karl Jaspers war einer der wenigen prominenten Denker, die ihn verteidigten. Gerungen wird um die Normen für eine universelle Moral und die Mittel für ihre Durchsetzung bis heute. Eine Alternative dazu gibt es nicht.

Raphael Gross: Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral
S. Fischer, Frankfurt am Main 2010
Cover "Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral" von Raphael Gross
Cover "Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral" von Raphael Gross© S. Fischer