Treffen mit Geistern

Rezensiert von Christoph Leibold · 30.11.2009
Eine Frau will ihrem Nachbarn ein Treffen mit seiner toten Geliebten bescheren, und in das Leben eines Alten schneit spukhaft eine Frau hinein. Regisseur Alvis Hermanis hat zwei "Séancen" von Isaac B. Singer adaptiert, in denen er die existenzielle Verlorenheit des Menschen ausstellt.
Ein alter Mann in Unterwäsche auf einem Bett. Er schnarcht, wimmert, erwacht. Kaum hörbar brabbelnd schleppt er sich in das kleine Bad in der Ecke seines Einzimmerappartements, das detailgenau im Wohnstil der frühen 1960er-Jahre in den Werkraum der Münchner Kammerspiele gezimmert ist. Der Mann pinkelt, torkelt zur Küchenzeile, greift nach einer Packung Cornflakes und knabbert. Dann erst beginnt er zu erzählen - seine Geschichte.

Es ist die Geschichte eines einsamen Mannes, eines jüdisch-polnischen Emigranten in Amerika, der drei Ehefrauen und auch seine Kinder überlebt und seine Heimat verloren hat. Ein Mann, der keine Wurzeln mehr hat und der auch selbst nicht Wurzel eines neuen Stammbaumes ist. Diese vollständige Verlorenheit veranschaulicht Regisseur Alvis Hermanis auf der Bühne, indem er den Schauspieler André Jung in der Rolle des einsamen Alten dessen morgendliche Verrichtungen in quälender Langsamkeit minutiös durchspielen lässt. In der Banalität dieser Handlungen spiegelt sich die ganze Belanglosigkeit eines Daseins ohne Sinn und Zweck.

Zwei Geschichten von Isaac B. Singer hat Alvis Hermanis adaptiert. Zwei Séancen, wie er es nennt. Tatsächlich geht es in der zweiten Geschichte um eine Frau, die ihrem Nachbarn – auch er ein Einsamer – ein Treffen mit seiner toten Geliebten bescheren will, indem sie eine spiritistische Sitzung, eine Séance also, veranstaltet. Und auch in das Leben des verlorenen Alten aus der ersten Geschichte schneit unvermittelt, wie ein Spuk aus der Vergangenheit, eine Frau.

Doch Alvis Hermanis bezieht den Begriff der Séance nicht allein auf den Inhalt seiner Inszenierung. Er versteht das Theater an sich als eine Art Séance; als einen Erinnerungsraum, in dem man zwar keinen Geistern, wohl aber dem Geist der Vergangenheit nachspüren kann.

Hermanis will kein Theater machen, das sich politisch brisant der Gegenwart stellt. Er sucht bewusst die weichzeichnende Unschärfe, die sich beim Blick aus zeitlicher Distanz zurück in die Vergangenheit einstellt. Statt um die politische Wirklichkeit von heute geht es Hermanis um eine zeitlose poetische Wahrheit – konkret im Falle von "Späte Nachbarn" um die existenzielle Verlorenheit des Menschen.

Wie Hermanis dieses Thema entwickelt, das ist im ersten Drittel des Abends trotz aller Langsamkeit durchaus spannend. Dann aber, wenn sich beim Zuschauer die Erkenntnis einstellt, worauf Hermanis abzielt (ohne dass sich daraus weitere Einsichten ableiten ließen), zieht sich die Aufführung mehr und mehr in die Länge.

Dagegen kommen auch die Schauspieler Barbara Nüsse und André Jung nicht vollends an, obwohl sie doch eigentlich grandios agieren. Vor allem Jung hat ein realistisches, zugleich aber stark reduziertes Mienen- und Gestenspiel entwickelt, das in seiner Beiläufigkeit nie ins Bedeutungsschwangere drängt. Eine Darstellung, die zwischen Verkörperung und Verfremdung changiert und den nach starkem Beginn merklich schwächelnden Abend immerhin noch ein gutes Stück weit über die Reichweite seiner eigenen begrenzten Strahlkraft hinausträgt.

Späte Nachbarn
Zwei Séancen von Alvis Hermanis nach Geschichten von Isaac B. Singer
Münchner Kammerspiele
Regie: Alvis Hermanis
Bühne und Kostüme: Monika Pormale
Dramaturgie: Julia Lochte
Licht: Björn Gerum
Darsteller: André Jung und Barbara Nüsse