Treffen der Tanzszene

Ohne Nomadentum geht nichts

Tänzerinnen und Tänzer in der Inszenierung von Meg Stuart
Eindrücke aus "Until our hearts stop", choreographiert von Meg Stuart/ Damaged Goods © Iris Janke
Von Elisabeth Nehring · 06.03.2016
Alle zwei Jahre bringt die "Tanzplattform" etablierte Choreographen und Newcomer zusammen. Unübersehbar beim Treffen in Frankfurt: Die Grenzen zwischen der "freien Szene" und den festen Theaterinstitutionen verschwimmen immer mehr.
Jeder kennt das Phänomen: Gegenstände, die verschwinden und irgendwann unverhofft wieder auftauchen. Menschen, die mysteriöser Weise niemals wieder gesehen werden. Und Märchen, die nicht so schlimm enden, wie sie begonnen haben. In ihrem eigenwilligen Solostück "nimmer" hält die Hamburger Choreographin Antje Pfundtner viele lose Erzählfäden in der Hand, die der Zuschauer selbst zusammensetzen muss.
Auch die Choreographin Antonia Baehr verwebt in ihrer zusammen mit der Kollegin Valérie Castan entstandenen Arbeit "Misses and Mysteries" verschiedene Inspirationsquellen: Schwanensee, deutscher Ausdruckstanz der zwanziger Jahre und siebziger Jahre Film-Avantgarde.
Beiden Künstlerinnen gemeinsam ist die Entgrenzung ihrer Darstellungsformen: Während Antje Pfundtner ihre Soloperformance aus Text, Musik und Tanz gleichermaßen für Erwachsene und Kinder denkt, nennt Antonia Baehr ihr Stück "A Choreographic Radio Play"und entwickelt damit ein völlig neues Konzept aus Choreographie und Hörspiel.

Künstlerinnen und Künstler öffnen sich immer mehr ihrem Publikum

Eike Wittrock ist Tanzhistoriker und Mitglied der Jury, die für die Auswahl der zwölf Produktionen der Tanzplattform verantwortlich ist.
Wittrock: "Eine Tendenz, die wir beobachtet haben, war, dass viele Künstlerinnen und Künstler anfangen, ihre Praxis zu öffnen für verschiedene Zuschauerschichten, also für Zuschauer verschiedener Altersgruppen, für Zuschauer verschiedener Herkünfte, für Zuschauer wie Sehende und Nicht-Sehende, wie z.B. in der Arbeit von Antonia Baehr. Und das Bemerkenswerte ist, dass es nicht Stücke waren, wo ein völlig neues Thema spezifisch für diese Zielgruppe entwickelt oder bearbeitet wurde, sondern diese Arbeiten organisch aus der Arbeitsweise der Künstlerinnen und Künstler herausgekommen ist."
Wie in allen Ausgaben versammelte auch die diesjährige Tanzplattform etablierte Choreographen und Newcomer. Auffällig dabei: Die Grenzen zwischen der sogenannten freien Szene und den festen Theaterinstitutionen werden immer weiter aufgeweicht. War die Tanzplattform früher ausschließlich eine Veranstaltung der freien Produktionshäuser und unabhängigen Choreographen, werden heute zunehmend auch Stücke präsentiert, die an Stadt- oder Staatstheatern entstanden sind.
Die Amerikanerin Meg Stuart z.B. zeigte ihr an den Münchner Kammerspielen produziertes, hochgelobtes und streckenweise höchst witziges Gruppenstück "Until our hearts stop" – allerdings in Überlänge und ohne nennenswertes dramaturgisches Gespür.

"Früher gab es viel mehr Sturm und Drang gegen alte Formen"

Für die bunte, verspielte Rekonstruktion des "Triadischen Balletts" des Bauhaus-Künstlers Oskar Schlemmer in der Fassung von Gerhard Bohner ist dagegen das Bayerische Staatsballett verantwortlich.
Zum Stichwort Ballett Eike Wittrock.
"Was sich stark verändert hat ist das Verhältnis zu klassischen Formen. In den achtziger, neunziger Jahren gab es viel mehr so einen Sturm und Drang gegen alte Formen allein um eine Selbstbehauptung machen zu können. Das war auch ganz wichtig, sich von bestimmten Dingen abzugrenzen, um die Freiheit des Tanzes behaupten zu können. Und mir ist heute Morgen noch mal aufgefallen, wir haben eigentlich vier Ballette eingeladen in die Tanzplattform."
Dazu gehören die bereits erwähnte Schwanensee-Paraphrase "Misses and Mysteries" von Antonia Baehr und Valérie Castan; Adam Linders "Parade", das sich mit dem gleichnamigen Tanzstück der berühmten Ballett Russes auseinandersetzt; das schauderhafte "Aerobics! Ballett in 3 Akten", das sich an der Übertragung von Aerobic-Bewegungen in stringente Choreographie versucht; und natürlich besagtes "Triadisches Ballett" von Oskar Schlemmer. Dazu sagt Eike Wittrock:
"Es gibt interessanter Weise eine Hinwendung zu den alten klassischen Formen, um zu gucken, was damit eigentlich möglich ist. Also, es ist ein unbefangenerer Umgang mit der Tanzgeschichte, es gibt nicht mehr so ein starkes Neuerungsbedürfnis, wie es zu anderen Zeiten wirklich notwendig war, sondern es gibt einen ruhigeren Umgang, einen sichereren Umgang mit der eigenen Geschichte. Man wird sich der Geschichte überhaupt erst bewusst und kann damit dann auch souverän agieren."
Die verstärkte Auseinandersetzung mit Tanzgeschichte hat – wie so viele Trends und Tendenzen – mit der entsprechenden Förderung zu tun. Der "Tanzfonds Erbe" z.B. fördert seit einigen Jahren ausschließlich Projekte, die sich mit historischen Choreographien oder Tanzkünstlern auseinandersetzen. Das zunehmende Interesse der Choreographen an dem Thema Tanzgeschichte kommt also nicht von ungefähr.

Die Rhein-Main-Gegend als Vorreiter für neue Kooperationswege

Überhaupt wurde auf zahlreichen Diskussionen und Panelveranstaltungen deutlich, wie sehr künstlerische Produktion von der entsprechenden Förderung, aber auch von den gegebenen Arbeitsstrukturen abhängig ist. Denn die Möglichkeiten und Grenzen, die freie Produktionshäuser bieten sind ganz andere als die der großen Theaterinstitutionen.
Was entstehen kann, wenn sich diese unterschiedlichen Häuser zusammentun, kann in den nächsten Jahren in der Rhein-Main-Gegend beobachtet werden. Anna Wagner, Jurymitglied und Dramaturgin am Frankfurter Mousonturm:
"Das Hessische Staatsballett und der Mousonturm starten mit der Tanzplattform Deutschland die sogenannte Tanzplattform Rhein-Main, diese Namensverwechselung ist wirklich gewollt. D.h. die Tanzplattform Deutschland ist die Initiation für eine Kooperation, bei der wir praktisch beide Strukturen nutzen wollen. D.h. ein relatives schlankes Produktionshaus und zwei hoch ausdifferenzierte Staatstheater, um Künstlerinnen und Künstlern vor allem aus der regionalen freien Szene die Möglichkeit zu geben, anders zu produzieren und wirklich hier zu siedeln, also sich lokal zu verankern und nicht gezwungen sind, sich aus der Rhein Main-Region wegzubewegen."
Denn das ist immer noch eines der größten Probleme für zeitgenössische Tänzer und Choreographen – nicht nur in Hessen, sondern international: das Unstete ihrer künstlerischen Existenz, das ewige Weiterziehen von einer Residenz- zu nächsten Produktionsmöglichkeit. Wie sehr die professionelle Tanzszene von der Bereitschaft zum Nomadentum zeitgenössischer Künstler lebt – auch das hat die diesjährige Tanzplattform gezeigt.
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