"Travesía" von Gerardo Núñez

Ein Lied über Flucht, Fremde und Identität

Von Olga Hochweis · 13.07.2015
Was bliebe vom kulturellen Reichtum der Welt ohne die jahrhundertelange Migrationsgeschichte von Menschen und deren gegenseitiger Beeinflussung? Davon erzählt der spanische Flamenco-Gitarrist Gerardo Núñez in seinem Musikstück "Travesía".
Ein Sonntagnachmittag am Strand in Andalusien. Männer, Frauen und Kinder baden, spielen, picknicken, lesen oder sonnen sich. So lange, bis am Horizont ein überladenes Boot auftaucht - und sie alle nur noch aufs Meer starren, auf die Nussschale voller Menschen, die kurze Zeit später erschöpft an Land taumeln.
"Es waren Menschen, die sich südlich der Sahelzone aufgemacht hatten, um anderswo ihr Glück und ein besseres, würdigeres Leben zu finden", erzählt in einem Interview der Flamenco-Virtuose Gerardo Núñez, der sich wie einige weitere Spanier damals am Strand um die Flüchtlinge kümmerte. Mit zweien von ihnen - Ahmed und Khaleb - hat er sich angefreundet. Sie arbeiten heute mit in der Vorbereitung seiner musikalischen Projekte und Konzerten - und sind die Protagonisten seines Titels "Travesía" - die Überfahrt.
Dem Flüchtling eine Stimme geben
Gerardo Núñez gibt Ahmed und Khaled in seinem neunminütigen Werk ganz buchstäblich eine Stimme. Er löst sie heraus aus der Anonymität von Flüchtlingsstatistiken in den Nachrichten und macht sie zu Individuen, lässt die Dramatik ihrer Flucht ins Ungewisse unmittelbar erklingen. "Sie hatten einen langen Weg durch die Wüste hinter sich gebracht, um sich danach schon wiederzufinden auf der nächsten schwierigen Fahrt durchs Meer. Ich wollte ihre Geschichte erzählen, aber die Geschichte erzählte auch von mir", sagt Núñez.
Núñez thematisiert die Geschichte seines Genres: des Flamenco, dessen Wurzeln in Indien liegen und der auf seiner nachfolgenden langen Reise der europäischen Zigeuner unterschiedlichste kulturelle Einflüsse aufgesogen hat. In Andalusien entstand ein besonderer Schmelztiegel. Al Andalus hieß der muslimisch beherrschte Teil der Iberischen Halbinsel, in dem über 700 Jahre lang die maurischen Eroberer mit Christen und Juden zusammenlebten. Ein Quell unendlichen kulturellen Reichtums, der nicht nur Musiker bis heute inspiriert..
Eine musikalische Reise
Selbst ein "fahrender Geselle" im Geiste hat Gerardo Núñez den Titel "Travesía" als musikalische Reise durch unterschiedliche Genres komponiert. Vom Flamenco geht es zu arabischen Klängen über jazzige Improvisation bis hin zu afro-kubanischen und anderen Latino-Rhythmen. Hinzu kommt das poetische Wort, dem Núñez in "Travesía" eine besondere Rolle zukommen lässt - in Form eines Sonetts des spanischen Dichters Luis Rius, das er gleich an den Anfang seines Stücks gestellt hat.
"Jedes Mal, wen ich mich auf den Weg mache, mir selbst entgegen, komme ich vom Kurs ab und mache Umwege."
"Acta de Extranjería" - frei übersetzt "Ausländerbescheinigung" heißt das Gedicht von Luis Rius. 1984 starb der Dichter 54-jährig in Mexico, wohin er mit seiner Familie schon als Kind während des Spanischen Bürgerkriege geflüchtet war. "Der andere Fremde, das bin auch ich" heißt es sinngemäß in der letzten Zeile des Gedichts. Die Erfahrung, dass jeder Mensch irgendwo fremd ist, spitzt auch die Geschichte von Ahmed und Khaleb zu - genauso wie Gerardo Núñez' Frage nach der eigenen Identität. Anders formuliert: Es geht nicht allein um die afrikanischen Bootsflüchtlinge, es geht um uns alle, denn es sind oft gerade die Umwege und das vermeintlich "Fremde", das uns ausmacht. Jeder Mensch hat ein Recht darauf, sich auf diese Reise zu begeben.
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