Trauma in Sibirien

17.01.2012
"Gelobtes Land" ist ein ergreifendes Buch, bei aller sprachlichen Nüchternheit. Der 2006 verstorbene DDR-Historiker Wolfgang Ruge hat mit den Erinnerungen an seine Zeit in Moskau und in sibirischen Lagern ein Dokument darüber geschaffen, wie der Sozialismus seine eigenen Kinder gefressen hat.
Es ist einer der letzten Augusttage des Jahres 1933, an dem sich Wolfgang Ruge und sein Bruder Walter von Berlin aus auf dem Weg nach Moskau machen. Ihre getrennt lebenden Eltern, beide überzeugte Kommunisten, haben ihnen dazu geraten. Die Mutter hat Beziehungen zur kommunistischen Internationale, der Vater, ein Lehrer, der mit der Machtergreifung der Nazis entlassen worden war, ist schon in Moskau.
Die Brüder wollen, so schreibt es der 2006 verstorbene Wolfgang Ruge in "Gelobtes Land" explizit nicht aus Hitler-Deutschland fliehen, sondern im "Staat der Werktätigen" "am Aufbau einer neuen Gesellschaft mithelfen". Doch in Moskau kommt alles anders: Die Brüder sind größtenteils auf sich allein gestellt, sie verlieren sich aus den Augen. Schon 1934 beginnt sich das gesellschaftliche Klima unter Stalin zu verhärten, die Repressionen nehmen zu. Wolfgang, der keinen Schulabschluss hat, arbeitet als Zeichner und Kartograf, wechselt mehrmals die Wohnung, übernachtet einmal auch wochenlang in einem Nachtzug. 1941 wird er, er hat inzwischen die sowjetische Staatsbürgerschaft angenommen, als "Deutschländer" nach Kasachstan ausgewiesen. Schlimme, beschwerliche Jahre in der sibirischen Verbannung folgen, stets in der Gefahr, an Hunger, Kälte, der beschwerlichen Forstarbeit oder Krankheiten zu sterben.
Ruge berichtet davon in seinen Erinnerungen gewissenhaft, detailliert, anschaulich, zum Teil distanziert, abgeklärt – und ernüchtert: Er bleibt Marxist, glaubt an den Sozialismus aber nicht mehr in der Form, in der er diesen unter Stalin erlebt hat. Die Zeit in der Sowjetunion ist traumatisch für den späteren DDR–Historiker. Viele Jahre dauert es, bis er sich an die Niederschrift seiner Erlebnisse machen konnte. Außerdem, so gibt sein Sohn im Nachwort zu bedenken, hätte dieses Buch nicht in der DDR veröffentlicht werden können.
Insofern ist die Entstehungsgeschichte von "Gelobtes Land" eine komplizierte. Ruge begann nach seiner Emeritierung an einer umfangreichen Familiengeschichte, die 13 Bände umfassen sollte. "Gelobtes Land" besteht vor allem aus den Teilen 9-11. Es wurde in zwei Etappen geschrieben: Mitte der achtziger und Ende der neunziger Jahre, als sich bei Ruge - er ist 81 Jahre alt - erste Symptome einer Demenz-Erkrankung zeigen.
Trotzdem ist das Buch in der Form, in der es jetzt von Eugen Ruge herausgegeben wurde, ein sehr dichtes, konzentriertes Buch geworden. Die Kindheitsjahre in Berlin, die Familiengeschichte und die Moskauer Zeit bilden das höchst lesenswerte Intro. Das nicht weniger lesenswerte Zentrum jedoch sind die Jahre in den sibirischen Lagern. Detailliert schildert Ruge die Technik des Baumfällens, den täglichen Kampf ums Überleben. Und immer wieder zeichnet er kurz die vielgestaltigen Biografien seiner deutsch-russischen Leidengenossen nach.

"Gelobtes Land" ist ein ergreifendes Buch, bei aller sprachlichen Nüchternheit. Es ist ein Dokument darüber, wie der Sozialismus seine eigenen Kinder gefressen hat. Und es liest sich gut als Prolog und Ergänzung zu Eugen Ruges Erfolgsroman "In Zeiten des abnehmenden Lichts" - der literarischen Fortsetzung von Wolfgang Ruges Lebensbericht.

Besprochen von Gerrit Bartels

Wolfgang Ruge: "Gelobtes Land. Meine Jahre in Stalins Sowjetunion"
Rowohlt Verlag, Reinbek 2012
496 Seiten, 24, 95 Euro
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