Trauma der verlorenen Kolonie Algerien

Von Kersten Knipp · 22.04.2011
Am 22. April 1961 erhoben sich in Algier französische Generäle gegen die Regierung von Staatspräsident Charles de Gaulle. Ihr Ziel: die sich abzeichnende Unabhängigkeit der nordafrikanischen Kolonie zu verhindern. Der Aufstand scheiterte. Doch er zeigte, wie uneins die französische Gesellschaft bis in ihre politischen und militärischen Spitze über ihre Kolonialpolitik war.
Charles de Gaulle: "In Algerien hat sich durch einen Militärputsch eine aufständische Macht gebildet. Die Schuldigen haben die Leidenschaft einiger Spezialeinheiten ausgenutzt, die hitzige Hingabe der europäischen Bevölkerung des Landes, die von Angst und Mythen getrieben wird. Die neue Macht hat ein Gesicht: vier Generäle im Ruhestand. Und sie hat eine treibende Kraft: eine Gruppe ehrgeiziger und fanatischer, zum Widerstand entschlossener Offiziere."

In einer dramatischen Rede wandte sich der französische Staatspräsident Charles de Gaulle am 23. April 1961 an die Bevölkerung. Einen Tag zuvor hatten mehrere französische Militäreinheiten unter Leitung der Generäle Maurice Challe, Raoul Salan, Edmond Jouhaud und André Zeller gegen die französische Staatsführung geputscht. Die Militärs hatten sich in der "Organisation armée secrète", kurz OAS, zusammengeschlossen, einer bewaffneten Geheimorganisation". Deren Motto:

"Algerien ist französisch und wird es bleiben."

Danach sah es aber immer weniger aus. Seit Mitte der 1950er-Jahre kämpften die Algerier für ihre Unabhängigkeit von der französischen Kolonialmacht, die das Land gut 130 Jahre zuvor besetzt und seitdem beherrscht hatte.

Immer entschlossener stritten die Algerier um ihre Unabhängigkeit. Sie ließen sich auch vom Terror der OAS nicht einschüchtern, die Tausende Nordafrikaner ermordete, um so die algerisch-französischen Verhandlungen zu torpedieren. Doch vergeblich: Nachdem de Gaulle die Unabhängigkeit der Kolonie zunächst abgewiesen hatte, erkannte er, auch angesichts des blutigen Widerstands der algerischen Untergrundorganisation "Front de Liberation Nationale", kurz FLN, dass sich die Kolonie nicht würde halten lassen. So erklärte er am 11. April 1961, knapp zwei Wochen vor dem Putsch:

"Angesichts der gegenwärtigen Weltlage hat Frankreich kein Interesse daran, Algerien unter seinem Gesetz und seiner Abhängigkeit zu halten, wenn dieses Land einen anderen Weg wählt. Und Frankreich hat auch kein Interesse daran, die Bevölkerung eines Landes auf den Armen zu tragen, das sein eigener Herr geworden ist."

Am 22. April erklärten die Putschisten, sie hätten Algerien unter ihrer Kontrolle. Die Bilder der ihnen zujubelnden radikalen französischen Siedler sorgten in Paris für größte Bestürzung. De Gaulle glaubte, die Lage in Algerien nicht mehr kontrollieren zu können.

"Franzosen: Sehen Sie, wohin Frankreich zu treiben, wie es von seinem Wege abzukommen droht. Französinnen und Franzosen: Helfen Sie mir!"

Die übrigen Militärs hielten de Gaulle die Treue. So endete der Putsch vier Tage später. Seine Führer wurden teils zu langjährigen Haftstrafen, teils zum Tod verurteilt, einige Jahre später aber begnadigt. Algerien hingegen erlangte am 3. Juli 1962 die Unabhängigkeit. Die Erinnerung an den vorausgehenden Krieg mit tausenden französischen und hundertausenden algerischen Todesopfern wirkt in beiden Ländern ganz unterschiedlich fort, erklärt der algerisch-französische Historiker Benjamin Stora:

"In Frankreich hat man sehr lange, fast 30, 40 Jahre, hauptsächlich das Vergessen gepflegt. Man sprach nicht von Algerien, versuchte diese Zeit zu verdrängen: den Krieg und die Niederlage, die Schmach, dass man das Land verlassen musste. Die Algerier hingegen hatten es mit einem Zuviel an Geschichte zu tun. Sie pflegen die Erinnerung an ein Ereignis, das geeignet ist, die Existenz der Nation zu legitimieren, aber auch und vor allem die politische Macht. Aufseiten der Franzosen pflegte man also das Vergessen – und in Algerien die Erinnerung an ein Zuviel an Geschichte."