Trauerarbeit

Rezensiert von Carola Wiemers · 12.09.2005
Friederike Mayröcker setzt mit ihrer Erzählung "Und ich schüttelte einen Liebling" ihre Trauerarbeit um ihren im Jahr 2000 verstorbenen "Hand- und Herzgefährten Ernst Jandl" fort und erkundet darin das Rätsel der menschlichen Zweisamkeit.
Friederike Mayröcker bezeichnet sich als einen "Augenmenschen": "Plötzlich schießt es auf einen los durch ein Schriftbild oder durch ein Gesicht oder durch ein Wort". Jeder Spaziergang durch Wien bedeutet für die österreichische Autorin von weltliterarischem Format, an einem "Augenschmaus" teilzunehmen.

Würde sie in eine Finsternis versetzt, wäre es mit dem Schreiben vorbei, betont sie in einem Interview aus dem Jahre 2001, denn schon ein ins Visier genommener Baum kann ein Gedicht hervorbringen. Eine andere gefürchtete Finsternis brach über Friederike Mayröcker herein, als 2000 ihr "Hand- und Herzgefährte Ernst Jandl" starb, mit dem sie ihr ganzes Schreib-Leben verbracht hat. So wurde dem Leser mit Mayröckers "Requiem für Ernst Jandl" (2001) und der Gedichtsammlung "Mein Arbeitstirol" (2003) erst wirklich bewusst, was es mit dem "Augenmenschen" Mayröcker auf sich hat.

Mit jeder Sprachgeste versucht sich die Dichterin der "stürmischen Aura" des Geliebten, seiner Herzschläge zu erinnern und die Sprach-Werkstatt wieder zu beleben, indem sie einen zornigen und den Tod verachtenden Monolog gegen diesen unwiederbringlichen Verlust anstimmt. Einem Bildersturm gleich trotzt sie den Bildern des Todes, die sich vor diese Erinnerungen schieben.

Mayröcker, FriederikeFriederike Mayröcker nimmt mit ihrem Text "Und ich schüttelte einen Liebling" diese Trauerarbeit wieder auf und hat eine neue Form gefunden. Der Text scheint auf der Lauer zu liegen, um jede aufblitzende Erinnerung zu erhaschen, als würde diese sich letztmalig zeigen. Denn Mayröcker will erzählen, will sich dem Leser mitteilen und findet dafür einen Rhythmus, der ein narratives Erzählen möglich werden lässt: "…ich warte bei Nacht in den Träumen, dass EJ zu mir spricht, ich träumte oft von ihm, er verhält sich wie damals als er lebte".

Ein Motiv zieht sich durch den Text, das diesen Vorgang bebildert und in zahlreichen Varianten die Denk- und Schreibbewegungen einfängt: "in meinem Schoß die Notizblättchen zwitscherten, während des Schreibens, während ich mich bewege, und es florte um mich herum und ich schüttelte einen Liebling".

Nach dem Tod Ernst Jandls brach eine Schreibwut über die Dichterin herein und ließ das scheinbar undurchdringbare Blätterlabyrinth Mayröckers nochmals anwachsen, indem sie ihre Träume, erinnerten Gespräche, aber auch Zitate und Beobachtungen der eigenen Person notierte. Dieser Materialflut bedient sich der Text "Und ich schüttelte einen Liebling" in einer ungekannt souveränen Weise, um das Rätsel menschlicher Zweisamkeit zu erkunden. Mayröckers Erkundungsreise ist noch nicht beendet, doch an einem Punkt angelangt, wo die Erinnerungen das literarische Ich ansehen.

Friederike Mayröcker: Und ich schüttelte einen Liebling
Suhrkamp Verlag 2005
238 Seiten, 19,80 Euro
Der Lyriker, Hörspiel- und Dramenautor Ernst Jandl am 9. Juni 2000 in der Wiener Rudolfsstiftung
Der Lyriker, Hörspiel- und Dramenautor Ernst Jandl am 9. Juni 2000 in der Wiener Rudolfsstiftung© AP Archiv
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