Trauerarbeit als Roadmovie

Terézia Mora im Gespräch mit Ulrike Timm · 08.10.2013
Ingenieur gewesen, Job verloren, Frau gestorben: In ihrem mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman "Das Ungeheuer" greift Terézia Mora das Schicksal eines Zeitgenossen auf, der "das Rezept für den Rest seines Lebens verloren hat", wie die Autorin sagt. Darius Kopp muss sich seinem Leiden stellen, um ein reiferer – "vollständigerer" – Mensch zu werden.
Ulrike Timm: Der Deutsche Buchpreis ist eine Auszeichnung, die sich so nach und nach herausmendelt. Rund 200 Bücher sichtet die Jury, dann gibt es die Longlist aus 20 Titeln, dann die Shortlist mit sechs Kandidaten und jetzt wurde, zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse, die Siegerin gekürt, aus einem starken Jahrgang, wie es überall hieß. Terezia Mora erhielt die Auszeichnung für Ihren Roman "Das Ungeheuer", direkt nach der Bekanntgabe konnte ich mit ihr sprechen, Sie hören Terezia Mora gleich hier im Radiofeuilleton.

Gestern Abend wurde Terezia Mora der Deutsche Buchpreis zuerkannt für ihren Roman "Das Ungeheuer", ein Buch, in dem sie die Geschichte von Darius Kopp fortsetzt, eine Figur, die sich die Schriftstellerin für ihren vorherigen Roman "Der einzige Man auf dem Kontinent" schon erfand. Beide Bücher kann man aber völlig unabhängig voneinander lesen.

Terezia Mora, 1971 in Ungarn geboren, zweisprachig aufgewachsen, lebt seit 1990 in Berlin, und sie setzte sich in der Runde der letzten sechs Kandidaten durch. Und weil der Deutsche Buchpreis keine Auszeichnung ist, bei der man den berühmten Telefonanruf bekommt, sondern eine, wo alle miteinander im Saal warten müssen, habe ich Terezia Mora nach großer Gratulation erst mal gefragt, wie viel Anspannung von ihr abfiel.

Terezia Mora: Also ich muss sagen, dieses Procedere, so dankbar ich jetzt auch für diesen Preis bin, das ist schrecklich für Autoren. Und ich weiß gar nicht, warum das so sein muss. Ich war ja 2006 in der Jury dieses Preises drin, und ich kann mich noch genau erinnern, dass mein dominierendes Gefühl an diesem Abend war, dass mir meine Kollegen leid getan haben, die sechs, die da warten mussten. Als mein Name fiel, war das etwas unwirklich, weil ich ja vorher mit mir ausgemacht habe, das wird sowieso nichts. Wahrscheinlich, um es auszuhalten, diese Anspannung. Am besten, man macht sich überhaupt keine Hoffnungen. Und als der dann fiel, man sagt das so dann immer, ja, es war wie in einem Film, ja. Und ein bisschen ist es immer noch so.

Timm: Ein tief bewegender und ein zeitdiagnostischer Roman sei "Das Ungeheuer". Das schrieb die Jury, und für Letzteres, für das Zeitdiagnostische, haben Sie sich ausdrücklich bedankt. Warum war Ihnen das so wichtig?

"Wie bestimmt Erwerbsarbeit die Qualität unseres Lebens?"
Mora: Nun, der Roman beinhaltet ja mehrere Themen, unter denen sich einige eher anbieten, einige sichtbarer sind. Also wir sehen viel stärker die Liebesgeschichte oder die Geschichte einer Krankheit, und für mich ist in dieser ganzen Darius-Kopp-Trilogie, die ja jetzt noch nicht vollendet ist, ganz wichtig, dass mein Ausgangspunkt war, zu beobachten, wie leben wir heute und wie ist unser Verhältnis zur Erwerbsarbeit oder zur Tätigkeit und unsere Beziehung zur Arbeitswelt? Und wie bestimmt das über die Qualität unseres Lebens. Und wir haben halt hier zwei Helden, von denen die eine nie in irgendeinen anständigen Job reinkam und die darunter sehr, sehr litt und deren Selbstbild und Selbstwertgefühl davon über die Zeit vollkommen zersetzt worden ist.

Timm: Sortieren wir das noch mal ein bisschen, Frau Mora. Darius Kopp, die männliche Hauptperson, die kennen wir schon aus Ihrem vorherigen Roman "Der einzige Mann auf dem Kontinent". Da war er ein immer wieder scheiternder, ja, Business-Kasper, jetzt hat er ganz großen, tiefen Lebenskummer. Seine Frau ist gestorben, Selbstmord, und er reist quer durch Osteuropa, die Urne immer dabei, auf der Suche nach einem Ort für ihre Asche und für seine Verzweiflung. Erzählen Sie uns noch ein bisschen von dem Mann. Wer ist Darius Kopp in "Das Ungeheuer"?

Mora: Na ja, der ist ja auf einer anderen Ebene angekommen. Er hatte seinen Job verloren, und er muss auch nicht mehr einen Status verteidigen nach außen. Dieser ist weg. Und jetzt hat er die Aufgabe, sich im Inneren so weiterzuentwickeln, dass er damit bis zum Ende seines Lebens kommt. Und auf der Oberfläche wird er von seiner Trauer gelähmt, aber im Grunde hat er das Rezept verloren für den Rest seines Lebens, und er macht das fest am Verlust seiner Frau. Wenn die Frau, die ich liebe, die der Mittelpunkt meines Lebens war, die ich dachte, dass sie auch für mich da ist, wenn ich alles andere verliere – wenn die weg ist, dann weiß ich ganz einfach nicht mehr, was ich tun soll.

Timm: Zu Beginn verbringt er erst einmal Monate in seiner Wohnung bei Pizza, Alkohol und Fernsehen und man sagt ihm, er habe eine Depression. Und er entgegnet: "Ich bin nicht depressiv, ich trauere." Ich musste sofort daran denken, dass es eine ganz erbitterte Diskussion gab über die Art der psychologischen Diagnostik, die von Menschen nach zwei, drei Wochen verlangt, wenn sie einen schweren Verlust erlitten haben, dass sie dass doch bitteschön überwunden haben müssen, sonst seien sie depressiv. Hat diese Diskussion mit hineingespielt in diesen Satz "Ich bin nicht depressiv, ich trauere"?

Mora: Natürlich. Ich kann mich ganz deutlich an die öffentliche Diskussion darüber erinnern, in mehreren Medien. Ab wann bekommt man im Grunde eine Diagnose, ja, womit im Grunde einer weiteren Diskussion der Weg abgeschnitten wird – dann bist du halt Patient. Also es wird die Berechtigung entzogen, dass ich nicht nach drei Wochen wieder funktioniere wie vorher. Und ich kann mich erinnern, dass ich wahnsinnig empört war darüber, dass das wohl die Regel ist. Wer länger als drei Wochen trauert, ist verdächtig sozusagen. Und das kann ja wohl nicht sein. Also das ist ein Verkennen von tief menschlichen Zuständen.

Timm: Mein Terezia Mora. Sie hat den Deutschen Buchpreis gewonnen mit ihrem Roman "Das Ungeheuer". Und wir sollten mal über die Form reden, Frau Mora. Stilistisch sind Zweidrittel des Buches geteilt durch eine feine Linie. Oben erzählt Darius Kopp – zwei voneinander auch optisch getrennte Geschichten werden erzählt, die des Mannes und die der Frau. Die liebten sich sehr und haben sich völlig verfehlt, denn er hat zumindest den Grad ihrer Depression, "Das Ungeheuer", nicht geahnt. Wie kam es dazu, dass Sie ihre und seine Stimme so konsequent getrennt haben?

"Reise durch die Oberwelt und die Stimme der Frau aus der Unterwelt"
Mora: Nun, ich hab angefangen mit dem Gedanken daran, mit ihm als Erzählerin zu gehen. Also ich habe nur erst mal Gedanken mir gemacht über seinen Teil der Geschichte, aber mit diesem Gefühl, dass das so nicht rechtens ist, dass da etwas fehlt. Die Frau musste eine Stimme bekommen. Und wie ist das, eine bekannte Technik, wenn eine tote Person sprechen soll in einem Buch, und das halt nicht über Rückblenden passiert, dann passiert das eben durch hinterlassene Aufzeichnungen, also dieses Tagebuch. Diese Verschiedenartigkeit, die Möglichkeit, nicht mit einer Textsorte zu arbeiten, sondern mit vielen verschiedenen, kam mir sehr verlockend vor, und das hat mich sofort interessiert. Und im Grunde, im selben Augenblick war auch die Idee da, da machen wir es so, oben die Darius Kopps Reise durch die Oberwelt, und darunter die Unterwelt, wo die tote Frau wohnt und wo also auch ihre Texte wohnen. Und dann soll das auch zu sehen sein auf der Seite.

Timm: Durch diesen Strich, der die Seite auch teilt. Wie soll man das lesen?

Mora: Eigentlich ist das ganz einfach. Denn wenn Sie das Buch aufschlagen, dann haben Sie da die erste Seite, und es nur die obere Hälfte der Seite beschrieben, es bleibt Ihnen also nichts anderes übrig als nur die obere Hälfte zu lesen, bis es zu Ende ist, und dann müssen Sie umblättern und dort weiterlesen, wo ebenfalls nur die obere Hälfte der Seite beschrieben ist. Also damit haben Sie die ersten 80 Seiten, die in Wahrheit dann nur 40 sind, kein weiteres Problem.

Und dann kommen Sie quasi wie im Märchen an einen Scheideweg, wo plötzlich auch die untere Hälfte der Seite gefüllt ist. Und oben aber wurde Ihnen erzählt, Darius Kopp fing an, in diesem Tagebuch zu lesen. Und wenn ich Sie wäre, dann würde ich auch anfangen, in dem Tagebuch zu lesen. Also das Buch gibt immer genaue Anweisungen, was Sie als Nächstes tun sollen. Aber ich hab' festgestellt, die Leser, mit denen ich mich bis jetzt unterhalten habe, die sind vollkommen undiszipliniert. Also jeder liest, wie er will, es ist unglaublich! Sie lesen mal hier, sie lesen mal da – das Interessante scheint mir zu sein, also am Ende haben Sie dann beide Texte auf irgendeine Weise gelesen und haben sich ein Bild von dem Buch gemacht.

Und scheinbar gibt es mehrere Wege durch dieses Buch, und die scheinen alle zu funktionieren. Also zumindest die, mit denen ich bislang geredet habe, war keiner, der gesagt hat, ich hab mich total verheddert und wusste überhaupt nicht mehr, wie es weiter geht. Sondern jeder hat seinen Weg durch gefunden, und, ehrlich gesagt, habe ich das auch geahnt, als ich das gemacht habe, weil ich mir sagte, es gibt ja einige Aufgaben für den Leser, aber keine von denen ist unlösbar.

Timm: Und jeder findet seine Spur. Das ist nicht nur ein trauriges Buch eines Ehepaares, das durch den Selbstmord der Frau jetzt getrennt ist. Es ist bisweilen auch ein ganz skurriles Roadmovie. Er empfindet, als sei sie noch am Leben, er zeigt ihr Griechenland, sie in der Urne, das hat auch komische Seiten. Die Reise geht durch Ungarn, die Slowakei, Kroatien, Albanien, Bulgarien bis eben Griechenland. Dieses Road Movie, ist das ein Teil der Zeitdiagnostik, die Sie wollten?

"Durch Osteuropa nach Griechenland, wo alles zusammenbricht"
Mora: Also ich wollte auf jeden Fall einen reisenden Helden haben, das ist das Buch, wo der Held loszieht aus seinem Land in andere Länder, angefangen mit dem Heimatland seiner Frau. Aber da kann seine Reise nicht enden, denn es geht hier im Grunde nicht um sie. Es geht nicht darum, ob sie nach Hause findet, sondern darum, ob er nach Hause findet. Und nach Hause findet man manchmal durch lange, lange Umwege, und die führten meinen Helden halt durch die Stationen, die mich eben interessieren, die noch dazu dann alles heutige Schauplätze von ehemaligen untergegangenen Reichen sind, die ehemals groß waren und heute sich in unserer Wahrnehmung eher am Rande befinden, was natürlich auch immer eine Frage ist, wo man sich gerade hinstellt, weil von dort aus sieht man halt die Ränder dann auch anders und das Zentrum.

Aber jedenfalls als Osteuropäerin war es mir auch wichtig, ja, den Blick in diese Richtung zu lenken. Und dass das Buch in Griechenland enden würde, das war mir von Anfang an klar nicht nur wegen dieses angedeuteten Orpheus-Motivs, der Held, der versucht, irgendwie in die Unterwelt zu kommen zu seiner Frau und sie irgendwie für sich zurückzuholen, und sei es symbolisch, sondern auch, als ich dieses Buch anfing, brach gerade Griechenland zusammen. Und ich sagte mir, das ist ein Bild, dort ist es, wir sehen, was im Grunde uns alle bedroht. Also, weil es tatsächlich ein starkes Bild für unsere Zeit ist. Und deswegen habe ich beschlossen, dann wird es dort enden.

Timm: So eine Romanfigur entwickelt im Kopf des Autors ja auch ein Eigenleben. Und Darius Kopp ist in diesem Buch, in "Das Ungeheuer" ja ein reiferer Mann als im früheren Roman, er hat gelebt, er hat gelitten – mögen Sie ihn jetzt eigentlich lieber als vorher?

Mora: Ehrlich gesagt, ja, aber ich wusste schon beim ersten Buch, wohin ich mit dem gehen würde. Deswegen konnte ich im ersten Teil der Trilogie ja auch etwas gnadenloser anfassen, weil ich wusste, er wird noch zu seinem Recht kommen und er wird noch zu einem vollständigen zwar nicht Menschen, er ist ja nur eine Figur, aber er wird etwas vollständiger werden, und er wird Tiefe erfahren und wir werden uns alle für ihn freuen, dass das so für ihn gekommen ist.

Timm: Der wird noch erwachsen.

Mora: Der wird noch erwachsen, ja.

Timm: Was macht er mit seiner Trauer und mit seinem Leben jetzt? Das werden wir doch noch erfahren, in einem dritten Band?

Mora: Ich hoffe, ja, dass ich es schaffen kann, ja.

Timm: Dank an Terezia Mora. Ihr Roman "Das Ungeheuer" ist bei Luchterhand erschienen und erhielt den Deutschen Buchpreis. Und mit dieser Preisverleihung begann auch die Frankfurter Buchmesse, die wir natürlich im Programm von Deutschlandradio Kultur begleiten, im Radiofeuilleton, bei "Fazit", aber auch auf einer speziellen Themenseite und mit einem Blog – all das finden Sie auf www.dradio.de.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


Mehr zum Thema auf dradio.de:
Das Ungeheuer in mir - Terézia Mora: "Das Ungeheuer", Luchterhand Verlag, München 2013, 684 Seiten