Trauer um das verpasste Leben

03.08.2009
Der renommierte norwegische Autor Per Petterson bearbeitet in seinem Roman "Ich verfluche den Fluss der Zeit" wieder ein Stück seiner Familiengeschichte. Er schildert eine bittere Mutter-Sohn-Geschichte.
Oslo, 1989. Eine ältere dänische Frau, Ehefrau eines norwegischen Fabrikarbeiters und Mutter von vier Söhnen, erfährt, dass sie Magenkrebs hat, mit ungewisser Prognose. Sie beschließt spontan, die Fähre Oslo – Frederikshavn zu besteigen und ein paar Tage allein in ihrem Geburtsland Dänemark zu verbringen, im Ferienhaus der Familie im Norden Jütlands. Arvid, ihr zweitältester Sohn, der Ich-Erzähler des Romans, fährt ihr nach, uneingeladen, obwohl sein eigenes Leben gerade in großer Verwirrung ist (seine Frau will die Scheidung).

Arvid ist der Mutter nicht willkommen: Er kommt ungelegen, denn sie wollte allein Abschied nehmen von den bedeutsamen Erinnerungsorten ihrer dänischen Jugend, von der Zeit, die ihr allein gehörte, ehe der Rest ihres Lebens begann, mit Ehe, Großfamilie und Fabrikarbeit in Norwegen, wo sie in 40 Jahren nie heimisch wurde, sondern immer Außenseiterin und Einzelgängerin blieb, als die Intellektuelle und Leserin in einer Familie, in der, mit Ausnahme Arvids, sich keiner für Bücher interessierte.

Die Mutter will allein trauern um ihr Leben, das eine falsche Wendung nahm und in die falsche Richtung lief, weil alles anders kam, als sie es sich vorgestellt hatte, wie sie weinend und voll Reue sagt. Sie dachte damals, sie müsse nach Norwegen heiraten, weil sie schwanger war: «Ich dachte, hätte keine Wahl. Aber ich hatte sie.»

Aus zahllosen realen Details der Petterson’schen Familiengeschichte baut der Autor, mit seiner Stellvertreter-Figur Arvid immer ganz nahe an der eigenen Autobiografie, einen alternativen Lebenslauf (und Todeslauf) seiner Mutter (die ja in der Realität nicht an Krebs, sondern bei einem Fährunglück starb). Der Leser kennt die imaginäre dänische Jugend der Mutter bereits aus dem Roman «Sehnsucht nach Sibirien». Sie ist eine eigensinnige und bildungshungrige Schreinerstochter, die nicht aufs Gymnasium gehen durfte, aber ganze Leihbibliotheken auslas, die ihren jung verstorbenen Bruder Jesper über alles liebte, sich lebenslang fortsehnte – nach London, nach Sibirien – und schlecht zu ihrem proletarischen norwegischen Ehemann passte, einem wortarmen, spröden und starren Sportsmann, Waldläufer und Gewerkschafter.

Der Sohn Arvid spürt, dass die Kluft zwischen den Eltern als Riss durch ihn selbst hindurchgeht und ihn selbst entzweireißt. Er wünscht sich nichts sehnlicher, als auf Mutters Seite gehören zu dürfen; doch in ihren Augen zählt er zu Vaters Söhne-Horde. Nun, da die Mutter vom Tod gezeichnet ist, werden in den anderthalb Tagen im Ferienhaus die Krisenpunkte der Missverständnisse in dieser Mutter-Sohn-Beziehung in raffinierten Rückblenden rekapituliert. Sohn und Mutter verfehlen einander auch jetzt wieder. Die Mutter ist herb und unzärtlich, der Sohn, ungeschickt in seinem vergeblichen Liebeswerben, wird abermals zurückgewiesen.

«Ich verfluche den Fluss der Zeit» ist ein Roman der Trauer um das verpasste Leben. Er ist durchwirkt von ungestillter Liebesbedürftigkeit und unerfüllten Sehnsüchten nach einem richtigen Leben im falschen. Vor allem ist das Buch ein Roman der nachgetragenen Sohnesliebe zu seiner lebenslang unerreichbaren Mutter.

Besprochen von Sigrid Löffler

Per Petterson: Ich verfluche den Fluss der Zeit, Roman
Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger
Hanser Verlag, München 2009. 239 S., 17,90 €