Freitag, 29. März 2024

Archiv

Ausstellung
Erinnerung an die deutsche Invasion in Belgien

Von einen Tag auf den anderen hat sich alles verändert. Eine neue Ausstellung im belgischen Lontzen zeigt die Kriegsfolgen der deutschen Invasion in Belgien im Ersten Weltkrieg. Dort kann man erfahren, wie die Menschen gelebt und gelitten haben.

Von Andreas Noll | 01.08.2014
    Herbert Ruland kann sein Glück kaum fassen. Der Historiker der Deutschsprachigen Gemeinschaft steht im Innenhof eines historischen Gebäudeensembles: der ehemaligen preußisch-belgischen Grenzstation "Weißes Haus" in Lontzen.
    "Es stand leer. Ich habe gesagt: Die Ausstellung steht und fällt mit dem Ort."
    Wenige Tage vor der Eröffnung seiner Ausstellung über den Ersten Weltkrieg im Grenzland inspiziert Ruland noch einmal die alten Gemäuer.
    Schon jetzt fühlt er sich 100 Jahre zurückversetzt:
    "Hier hat sich nichts verändert. Das Haus, die abgeblätterte Farbe. Wenn hier jetzt nen Knall käme, wir würden gar nicht merken, dass wir hier im Jahre 1914 wären."
    Das "Weiße Haus" ist ein Ort, der die Grenzen von früher symbolisiert.
    "Die Grenze spielte keine Rolle"
    Die Grenzen in der Region, sagt der Wissenschaftler beim Blick aus dem Fenster des Ausstellungsraumes, hätten vor dem Krieg keine große Bedeutung gehabt:
    "Das sah genau vor 100 Jahren auch noch friedlich aus. Hier war ja nix. Die Grenze spielte keine Rolle. Im Grenzort Vaals in den Niederlanden arbeiteten fast alle - weil hier nichts anderes war - Ende des 19. Jahrhunderts in Aachener Textilfabriken oder Bergwerken. Die waren organisiert im christlich-sozialen Textilarbeiterverband Deutschland - hatten eine Ortsgruppe Holland. In Vaals war nur deutsches Geld in Umlauf. Wenn die über die Grenzen gingen, dann gingen die einfach. Da frug keiner nach Papieren."
    Die Menschen, so sieht es Ruland, waren damals viel moderner als wir es uns heute vorstellen können. Die im Schengener Abkommen festgelegte Reisefreiheit der EU-Bürger - schon vor über 100 Jahren gab es dafür Vorbilder:
    "Wir haben jetzt hier ein Papier gefunden aus einem Reisebüro hier in Herbesthal, am großen Bahnhof zwei Kilometer entfernt, der ja so strategisch wichtig war für die Westfront - Papiere von 1911, da ist eine Reise an die Riviera angeboten. Für 250 Mark. Da steht drin: keine Legitimationspapiere erforderlich. Nur für das Kasino Monte Carlo musste man irgendeinen Wisch dabei haben, wo se herkamen."
    Keine "Geschichtspornografie"
    Ob alte Postkarten, Urlaubswerbung fürs Mittelmeer oder politische Karikaturen - Ruland setzt in seiner Ausstellung auf die kleinen Alltagsgeschichten:
    "Sie werden hier keine Uniformen sehen. Auch nichts Nachgebautes. Mir hatte jemand empfohlen, ich sollte aus Sperrholz ne 'Dicke Bertha' bauen. Oder einen Teil vom Todeszaun nachbauen. So was gibt es bei mir nicht. Wir machen hier keine - ich würde schon fast sagen - Geschichtspornografie. Was wir hier zeigen, ist, wie die Menschen gelebt und gelitten haben auf allen Seiten der Grenze."
    Dass sich die Dinge in der Grenzregion dramatisch ändern würden, deutete sich bereits vor dem Einmarsch der deutschen Truppen an. Ab dem zweiten August sprengten die Belgier ihre Grenzeisenbahnen in die Luft und ließen Lokomotiven in Tunneln zusammenfahren. Dann folgte der Angriff:
    "Am vierten August 1914 ziehen morgens um neun Uhr sechs deutsche Brigaden mordend und plündernd in Belgien ein. Und zwei der sechs Brigaden starten hier an diesem Ort."
    Drastische Veränderung
    Von einem Tag auf den anderen ändert sich der Alltag einer ganzen Region: Die Lebensmittelpreise steigen, das Silbergeld verschwindet und schon in den ersten Stunden kommt es zu Übergriffen auf die Zivilbevölkerung:
    "Hier in der Grenzregion sind es zuerst eins bis zwei jeweils, aber dann schon sechs Kilometer weiter fallen vom vierten bis zwölften August schon 128 Menschen deutschen Erschießungen zum Opfer."
    Auch während der Besatzungszeit kommt Belgien nicht zur Ruhe:
    "So wie die Deutschen gewütet haben in diesem Land - das sind ja nicht nur die Erschießungen in den ersten Kriegswochen. Man hat ein Generalgouvernement gegründet und hat dem Land - was man völkerrechtlich gar nicht darf - Kriegskontributionen monatlich auferlegt, die sehr hoch waren. Und dann hat man Lebensmittel rausgeschleppt. Man hat ab 1916 70.000 Belgier zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt."
    Folgen sind heute immer noch spürbar
    Auf der deutschen Seite der Grenze ist dieses Kapitel der Geschichte heute kaum bekannt. Die Bewohner der deutschsprachigen Gemeinschaft, also der Teile, die Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg an Belgien abtreten musste, spüren die Folgen dagegen bis heute:
    "Es kann schon passieren, dass eine Fußballmannschaft hier aus der Gegend in den Lütticher Raum fährt und der Schiedsrichter sie als Drecksdeutsche bezeichnet."
    Wer Belgien verstehen will, sagt Ruland, müsse die Geschichte dieses Krieges kennen:
    "Alle Vorurteile, alle Vorurteile, die es in Belgien gegen jeden, der Deutsch spricht, ob Deutscher oder deutschsprachige Belgier - vor allem natürlich im französischsprachigen Gebiet - gibt, die sind aus dem Ersten Weltkrieg."