Traditionssport Radball

Torejagd auf zwei Rädern

26:24 Minuten
Tim und Eric Lehmann aus Großkoschen im südlichen Brandenburg sind Jugend-Europameister im Radball. Hier halten sie ihre Räder in die Kamera in der Halle.
Seit gut 100 Jahren wird in Deutschland Radball gespielt. Auch auf Weltniveau: Tim und Eric Lehmann aus Großkoschen im südlichen Brandenburg sind Jugend-Europameister. © Privat
Von Andre Zantow · 18.04.2021
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1982 lief das WM-Finale im Radball noch in einer ZDF-Sondersendung. Inzwischen sind die Radakrobaten mit Torhunger vor allem in Dörfern und Kleinstädten eine große Nummer. Mit Leidenschaft, Familiengeist, Spitzenleistungen und Tradition.
Thomas Steinmeier: "Radball ist wie viele tolle Sportarten in Deutschland eine Randsportart, wird in den Medien nicht beachtet, ist auch nicht werbewirksam. Aber ist extrem schnell, extrem technisch und für junge Leute eine tolle Sache."
Tim Lehmann: "Radball ganz einfach beschrieben: Hat kein Licht das Fahrrad, keine Bremsen, man kann rückwärtsfahren und man kann mit dem Ball bis zu 90 Kilometer pro Stunde schießen."
Andreas Steinmeier: "Das Spiel dauert zwei Mal sieben Minuten. Man ist nach solch einem Spiel völlig erschöpft, weil diese Sportart spricht alle Körperteile an."
Karl-August Klein: "Das, was sie da fabrizieren auf dem Rad, das ist ja schon eine Kunst. Dieses Stehen, dieses Hüpfen, dieses Drehen, rückwärts, vorwärts, die kriegen ja fast alles fertig auf dem Rad!"

Größte Schwierigkeit: Immer auf dem Rad bleiben!

Es fühlt sich eierig an, als ich auf den kleinen Ball zufahre, den ich aus vier Metern ins Tor schießen will. Mit dem Vorderrad. So macht man das beim Radball. Aber auf diesem Spezialrad habe ich schon Mühe geradeaus zu fahren. Der Lenker ist hochgebogen, der Sattel sitzt tief über dem Hinterrad – versuche ich zu sitzen, droht das Rad hinten über zu kippen. Und jetzt soll ich schießen.
"Leicht anheben den Lenker. Und drehen. Ja, sehr schön. Der Ball ist weggerollt. Sehr gut. Und drauf geblieben, nicht abgestiegen. Respekt! Der Ball ist weggerollt, nicht Richtung Tor, aber das ist auch am Anfang nicht wichtig."
Tim Körner hat Mitleid mit mir. Mein Torschuss kullert nur ein paar Zentimeter über den Hallenboden. Aber als Trainer der "Radsportvereinigung Nord Berlin" kennt er sowas von Neulingen. Radball ist technisch hoch anspruchsvoll.
Training bei der Radsportvereinigung Nord Berlin in Wedding. Im Tor ist Trainer Tim Körner.
Training bei der Radsportvereinigung Nord Berlin. Im Tor ist Trainer Tim Körner.© Andre Zantow
"Die große Schwierigkeit beim Radball ist immer auf dem Rad zu bleiben. Nie abzusteigen. Nie den Boden zu berühren. Weil: Sonst ist man nicht mehr spielberechtigt und muss zur eigenen Torauslinie fahren und die überqueren, damit man weiterspielen darf. Man hört das Poppen. Da springen die mit dem Rad immer hoch und runter. Dadurch gleicht man sein Umfallen aus."

Radball-Leidenschaft liegt oft in der Familie

Bei Tim Körner flackert noch das Feuer des Aktiven in den Augen. Aber vor allem ist er Trainer und Fachwart für Radball in ganz Berlin. Er koordiniert also den Sport in der Hauptstadt – aus Liebe – und Tradition.
"Mein Großvater hat schon Reigenfahren im Verein gemacht. Mein Vater hat Kunstradfahren und Rennradfahren gemacht. Mein Bruder spielt Radball. Ich auch. Meine Schwester hat Kunstradfahren gemacht. Also es ist Familientradition. Anton ist jetzt in der vierten Generation."
Anton, sein Sohn, ist 16 Jahre und natürlich schon lange mit dem Radball-Virus infiziert. Zusammen mit seinem Mitspieler Dominic kurvt er durch die Halle.
"Wir haben uns letztes Jahr auch für das Viertelfinale der Deutschen Meisterschaften qualifiziert. Und das haben wir schon zweimal geschafft."
Anton spielt bei der Radsportvereinigung Nord Berlin. Hier ist er beim Schuss auf dem Rad zu sehen.
Der 16-jährige Anton spielt bei der Radsportvereinigung Nord Berlin.© Privat
Wenn Anton in der Schule oder bei Bekannten vom Radball erzählt, erntet er oft komische Blicke.
"Eigentlich muss man das fast immer erklären. Bei Erwachsenen geht das noch. Die haben das manchmal noch mitgekriegt, dass das im Fernsehen kam."

ZDF überträgt 1982 die Radball-WM in Wiesbaden

"Wir kommen zur Hallenrad-Weltmeisterschaft. Die begonnen hat – in Wiesbaden – in der Rhein-Main-Halle - mit sehr guten Ergebnissen für die bundesdeutschen Teilnehmer."
Harry Valérien im ZDF-Sportstudio am 13. November 1982:
"Heute ist der letzte Tag. Sondersendung wie gesagt im Anschluss an das Aktuelle Sportstudio. Und zunächst ein kurzer zusammenfassender Bericht vom heutigen Abend – kommentiert von Klaus Angermann."
Das ZDF sendet 1982 eine Sondersendung zum Finale der Radball-WM und vorher das Halbfinal-Spiel:
"Die Bilder und die Akustik sagen alles. Tor für Deutschland in der Rhein-Main-Halle vor fast 3000 Zuschauern beim Weltmeisterschaftsradball-Turnier. Tor für die Zwillinge Thomas und Andreas Steinmeier! Gegen die Schweizer Zwillinge Luigi und Markus Foi."
Die Deutschen drehen das Spiel – und ziehen nach hartem Kampf mit 4:2 ins Finale ein.
"Thomas und Andreas Steinmeier aus Lieme - in der Nähe von Bielefeld – besiegen die Schweiz. Und stehen damit im Finale – spät heute Abend noch – gegen die noch immer ungeschlagenen Weltmeister Jan und Jindrich Pospisil aus der Tschechoslowakei."

Als Gegner die Legenden des Radballs aus der CSSR

"Um dahin zu kommen, mussten wir uns erstmal drei Jahre in der Bundesliga bewähren. Wir waren erst 22 Jahre alt. Und es war für uns die erste Weltmeisterschaft. Dann kam das Endspiel vor damals 4500 Zuschauern", erinnert sich Thomas Steinmeier an das WM-Finale 1982 gegen die Legenden des Radballs:
"Die Gegner – die Pospisils – waren 14 Mal Weltmeister vor uns gewesen. Um die 20 oder 25 Kilogramm pro Person schwerer. Das Gewicht spielt im Radball schon eine Rolle, weil es eine Kampfsportart ist. Und wir haben eigentlich mit unserem Trainer ein halbes Jahr nur auf dieses eine Spiel trainiert. Wir mussten gegen die körperlos spielen. Wir durften den Ball nicht zu oft hergeben. Wir mussten sehr schnell sein."
Die Halle kocht in Wiesbaden. Die Zuschauer schreien die Steinmeier-Zwillinge nach vorne. Im Kopf immer die Taktik von Trainers Hans Mießner. Er hat die beiden ausgebildet – seit sie das erste Mal mit 11 Jahren in ihrem Heimatverein RSV Tempo Lieme auf die Spezialräder stiegen.
"Hans Mießner kam in den 50er-Jahren aus der damaligen DDR. Hatte eine Ausbildung im Sport, die weit vor der Ausbildung hier im Bundesgebiet war. Er hat also Kultur in diesen Radballsportverein gebracht", sagt Andreas Steinmeier.
"Und dann muss man sehen: Wir waren mit ihm drei bis viermal die Woche in der Halle – an 30 bis 35 Wochenenden im Jahr zu Turnieren, zu Bundesliga-Spieltagen. Er hat fachlichen Input reingebracht und hat uns gefordert. Und einer seiner Zielsätze war: Vor den Erfolg haben die Götter den Schweiß gesetzt."

Sieg gegen die bis dahin ungeschlagenen Pospisil-Brüder

Völlige Ekstase in der Halle. Fans stürmen das Parkett, liegen sich in den Armen. Thomas und Andreas Steinmeier – die eineiigen Zwillinge haben es geschafft. Sie haben als Amateure die Profis und Seriensieger aus der Tschechoslowakei geschlagen. Vom großen Duell Ost gegen West war vorher zu lesen. Damals herrschte noch der Kalte Krieg. Im ZDF-Interview gleich nach dem Spiel sind die Fragen etwas trivialer:
"Kann denn Eure Mutter Euch auseinanderhalten?"
"Die ist auch hier. Die kann das auch. Ja."
Die Mutti kennt vermutlich auch das Endergebnis. Spieler und Moderator sind da unsicher:
"4:2? 3:2? 4:3! Es ist hier untergegangen. Die Hauptsache: Man hat gewonnen. Eine Ära ist zu Ende gegangen – die der Gebrüder Pospisil. Eine neue hat vielleicht begonnen."
Thomas und Andreas Steinmeier im Gespräch mit ZDF-Sportreporter Klaus Angermann nach dem WM-Sieg 1982 in Wiesbaden.
Riesen Jubel in der Halle: Thomas und Andreas Steinmeier im Gespräch mit ZDF-Sportreporter Klaus Angermann nach dem WM-Sieg 1982 in Wiesbaden.© Privat
Andreas und Thomas Steinmeier gewinnen auch im Folgejahr 1983 gegen die Pospisil-Brüder den WM-Titel und werden zu Sport-Promis. Sie reisen um die Welt, sollen Radball bekannter machen: in China, Kenia, Jordanien. 1984 auf Einladung einer Brauerei geht’s in die USA.

Die Steinmeier-Zwillinge bringen Radball in die USA

"The sport is Cycleball. With the speed of Hockey. Contact of Football. And the accurancy of Basketball. All in one sport! It was the first time this popular european game was played in the United States and the teams were determined to make it their best showing."
In Colorado stehen die Steinmeiers wieder den Pospisil-Brüdern gegenüber. Für den Münzwurf zur Seitenwahl ist extra der belgische Tour-de-France-Rekord-Champion Eddy Merckx gekommen.
"Das war natürlich Show für die USA. Aber das wollten die Amerikaner sehen. Und wir fanden das selber geil. Wir fanden das super. Vor großen Hallen zu spielen. Und diese Präsenz vorher: im Fernsehen, in Radiostationen, Zeitschriften, also wir fanden das irre! Und als junge Leute: Das hat uns beeindruckt und natürlich auch geprägt!"
Nach spektakulären Toren und vielen Fouls heißt es am Ende des Schaukampfes: 8:7 für die Steinmeier-Zwillinge.
Noch zehn Jahre werden sie in der Radball-Weltspitze mitspielen – 1990 ihren dritten WM-Titel holen – mehrmals zu Gast sein im Aktuellen Sportstudio – unter anderem in der ersten Sendung von Günther Jauch.
Die 3-fachen Radball-Weltmeister Andreas und Thomas Steinmeier erhalten vom damaligen Innenminister Otto Schily die höchste deutsche Sportauszeichnung: Das Silberne Lorbeerblatt.
Die Radball-Weltmeister Andreas und Thomas Steinmeier erhalten vom damaligen Innenminister Otto Schily die höchste deutsche Sportauszeichnung: das Silberne Lorbeerblatt. © Privat
Heute sind beide erfolgreiche Wirtschaftsberater, erzählt Andreas.
"Ich bin seit einem Jahr tätig in der Beratung von Investmentbanking-Abteilungen. Und das sind die gleichen Parameter: Durchsetzungsvermögen, Fleiß, Engagement, Überzeugungskraft. Bei meinem Training ist es eben so, dass diese Aspekte innerhalb von wenigen Minuten rübergebracht werden müssen. Und da ist kein großer Unterschied zwischen Leistungssport und Beruf."

Radball-Spieler sind in Berlin Mangelware

Zurück in der Halle der Radsportvereinigung Nord Berlin. Hier zählt vor allem der Spaß am Spiel – nach der Arbeit oder der Schule. Seit gut drei Jahren ist Luis dabei. Der 12-Jährige kurvt mühelos durch die Halle, schießt hin und wieder ein Tor und behält immer die Balance. Auch zu Turnieren fährt er.
"Ja, das ist cool und anstrengend und macht ziemlich Spaß. Und am Ende gibt es eine Preisvergabe."
Training ist jede Woche für Luis. Mit dabei am Spielfeldrand der kleinen Halle in Berlin-Wedding sitzt auch sein Vater.
"Das ist Zufall, dass Luis zum Radball gekommen ist. Weil der auch hier in der Schule unterrichtet wird. Und er hat das dann mal gesehen mit einem Freund zusammen. Als hier Training war. Und dann haben die hier mittrainiert und haben Spaß dran gefunden."
Der Freund von Luis ist inzwischen nicht mehr dabei, somit fehlt dem 12-Jährigen sein Partner. Eine Radball-Mannschaft besteht in der Regel aus zwei Spielern. Früher waren auch Varianten mit 5er- oder 6er-Teams populär. Aber allein einen Mitspieler zu finden, ist in Berlin schwer.
"Es gibt halt richtig gute Mannschaften in kleinen Ortschaften, wo Radball die Sportart Nummer eins ist und in Berlin ist es wirklich eine Randsportart und in den letzten Jahrzehnten immer weniger geworden. Früher gab es mehr Radball-Vereine und heute ist es der letzte hier. Eigentlich ein bisschen schade."
Nur einen Radball-Verein gibt es noch in der Großstadt Berlin. Das steht symptomatisch für den Sport, der vor allem in Kleinstädten und Dörfern ganz groß ist.

Lüblow ist Kaderschmiede für Radballer im Norden

"Jetzt fahren wir nach Lüblow rein. Landkreis Ludwigslust-Parchim. Rechts sieht man gleich eine Pferdekoppel. Ein Schild zum Sportplatz. Und hier wohnt der Chef des Radballs von Wanderlust Lüblow."
"Ist ja schön ländlich hier."
"Ja, das stimmt."
Knapp 700 Menschen leben in Lüblow - "gelegen ungefähr zwischen Hamburg und Berlin an der A24", so sagt es Burkhard Protz bei einem Spaziergang durch den Ort. Er ist hier aufgewachsen - und wohnt gleich gegenüber vom Dorfplatz. Im Radball-Verein ist er seit 1974.
"Allein die Radbeherrschung. Die Möglichkeiten, die man mit dem Radballrad hat. Die Akrobatik. Das ist schon faszinierend."
Nach der aktiven Zeit formte Burkhard Protz als Trainer und Vorsitzender von Wanderlust Lüblow den Verein zu einer Kaderschmiede für den Radball-Nachwuchs. Damit knüpfte er an eine lange Tradition an, die Radball gerade in Kleinstädten und Dörfern Jahrzehnte hatte – als sich das Gemeindeleben noch ohne Internet und Fernseher vor allem in den Tanzsälen abspielte.

Früher wurde Radball in den Tanzsälen der Dörfer gespielt

"Damals in Lüblow war es so, dass die angefangen haben: Sporthallen gab es ja damals nicht, die haben, wenn dann hinten auf den Tanzsälen. Und wenn dann früher die Tanzveranstaltung war, dann haben die da früher Radball gespielt oder ganz früher Kunstradfahren gemacht. Und das war dann immer ein Teil der Veranstaltung. Das ging dann schon nachmittags los", erzählt Burkhard Protz.
"Dann haben die sich einige andere Dörfer eingeladen, weil früher gab es ja bald in jedem Dorf hier einen Radfahrerverein. Und so sind die im Sommer immer von Dorf zu Dorf gefahren und haben ihre Wettkämpfe ausgetragen und abends war dann Tanz und Geselligkeit und so weiter."
So ist das teilweise bis heute in einigen Orten, vor allem in Süddeutschland. Diese Verankerung in ländlichen Regionen zeigt sich auch in der Radball-Bundesliga. Dort heißen die aktuellen Spitzenteams: RV Stahlross Obernfeld aus Niedersachsen, RMC Lohengrin Stein aus Bayern und RSV 1914 Backnang-Waldrems aus Baden-Württemberg. Alle um die Jahrhundertwende gegründet – zu einer Zeit als sich die Menschen massenhaft in Radsportvereinen organisierten und der Trend aus den USA rüberschwappte – so sagt es die Legende.

Kunstradakrobat erfindet Radball in den USA

"Der Kunstradfahrer oder Kunstradakrobat hieß es ja früher – Edward Kaufmann glaube ich – ist mit so einer Art Hochrad durch den Park gefahren. Und da kam ihm ein kleiner Mops – also ein kleiner Hund – über den Weg gelaufen und um nicht zu stürzen oder das Tier zu schützen, hat er das Vorderrad angehoben und hat den sachte bei Seite geschoben. Und so ist der Radball geboren. Das hat er später mit seinem Kunstradpartner in den USA - Rochester hieß der Ort - das erste Mal vorgeführt."
Schnell verbreitete sich der neue Sport vor allem in Mitteleuropa. Noch heute kommen die besten Teams aus der Schweiz, Österreich, Tschechien, Frankreich, Belgien und Deutschland, wobei es hierzulande inzwischen ein krasses Nord-Südgefälle gibt.
"Rund 200 Vereine gibt es. In Mecklenburg-Vorpommern sind noch vier. In Baden-Württemberg sind es so an die 60."
Umso erstaunlicher was Burkhard Protz als Radball-Verantwortlicher von Wanderlust Lüblow alles schon in den Norden geholt hat.
"Angefangen 2006: die Deutsche Schülermeisterschaft. 2008: Europacup Elite. 2010: Junioren-Europameisterschaft und 2016: einen Weltcup."
Was noch viel mehr zählt, sind aber vermutlich die Talente, die er seit gut 25 Jahren immer wieder findet und fördert in der Region. Ehrenamtlich - nach seiner Arbeit als Hausmeister in einer Apotheke. Aktuell hat er zwei Teams, die als Landeskader von Mecklenburg-Vorpommern gefördert werden – und so jetzt auch in Corona-Zeiten in der Halle trainieren dürfen.

Landeskader dürfen noch in der Halle allein trainieren

"Ich bin Tim Leonhardt, ich bin 13 und wie lang spiele ich, sechs Jahre."
"Ich bin Tommy Hermann, bin 12 Jahre alt und spiele seit sechs Jahren Radball."
Tommy und Tim spielen von Anfang an zusammen. Der eine aus Lüblow – der andere aus dem Nachbardorf Wöbbelin, wo auch die Halle steht. Beide gehören in ihrer Altersklasse U13 zu den besten Radballern der Republik.
Tim Leonhardt und Tommy Hermann spielen seit sechs Jahren zusammen Radball beim SV Wanderlust Lüblow. Hier stehen sie in der Halle in Wöbbelin.
Tim Leonhardt und Tommy Hermann spielen Radball beim SV Wanderlust Lüblow.© Andre Zantow
2019 holten sie im bayrischen Frohnlach sensationell die Deutsche Vizemeisterschaft. Erstmals in der 115-jährigen Geschichte gelang das einem Team vom SV Wanderlust Lüblow.
"Das war natürlich cool! Da überhaupt hinzufahren, war auch schon cool. Und dann, dass wir da auch Zweiter geworden sind, ist natürlich auch richtig cool."
Vor allem ihre gekonnten Standardsituationen seien ein Erfolgsrezept, sagen die beiden.
"Vier Meter können wir eigentlich sehr gut und Eckbälle auch."

Durch Corona fehlt einem ganzen Jahrgang die Förderung

Da blitzt die Freude am Spiel wieder auf, die jetzt durch Corona und ohne Wettkämpfe fast weg ist.
"Ja, das ist halt doof, weil als wir kein Training mehr hatten, habe ich auch nicht mehr so regelmäßig Sport gemacht."
"Man wusste auch nicht mehr, was man machen sollte. Es war auch sehr schwierig sich den ganzen Tag etwas einfallen zu lassen, was man als nächstes macht. Man hat dann auch viel irgendwelche Sachen auf dem Handy gespielt. Und es wäre halt schon schön, wenn wir mal wieder ein Turnier hätten. Andere Gegner treffen könnten."
So müssen Tommy und Tim heute mal wieder allein in der Halle aufs Tor schießen. Immerhin. Die anderen dürfen gar nicht. Ein ganzer Jahrgang ist jetzt praktisch weggefallen – ohne Förderung – erzählt Trainer Burkhard Protz. Er hatte schon Anfänger aus der Grundschule nebenan und sogar aus der Kita begeistert, aber die dürfen wegen Corona nicht mitmachen.

Der Opa hat noch die Pospisils gesehen

Am Eingang der Halle trötet ein Edelfan: Tommys Opa ist gekommen – mit seiner Trompete. 70 ist er inzwischen und verfolgt Radball schon sehr lange.
"Ich war schon mal Fan. Ich kenne die Pospisils noch. Ich habe die noch spielen gesehen, als die Weltmeister wurden. Und damals war ich schon begeistert. Aber hier im Norden war ja nix. Und dann ist das ja auch verlaufen im Sand, aber dann ist das hier wieder wach geworden mit den Jungs."
Opa Karl-August Klein zeigt stolz sein T-Shirt. Darauf ist der Kopf von Tommys älterem Bruder zu sehen: Tony mit seinem Radball-Partner Lars. Beide schon erfolgreich bei den Deutschen Meisterschaften und so kam auch der jüngere Bruder dazu. Jetzt trompetet der 70-Jährige für Tommy in ganz Deutschland.
"Ja, die Trompete habe ich geerbt von meinem Vater. Die lag immer bei mir rum. Und wo das losging vor 12 Jahren mit Tony schon mal – dem Bruder – dem älteren. Und dann habe ich immer geblasen, wenn die gespielt haben. Angefeuert."

"Schweriner Volkszeitung" berichtet regelmäßig über Radball

Mit dabei am Spielfeldrand bei den Radballern aus Mecklenburg ist auch Thomas Willmann. Der Sportreporter von der "Schweriner Volkszeitung" kennt sich aus – ist immer da bei wichtigen Turnieren.
"Ich bin jetzt seit 25 Jahren bei der Zeitung. War vorher beim NDR. Und seitdem ich bei der Zeitung bin, bin ich auch regelmäßiger Gast hier beim SV Wanderlust Lüblow. Mich fasziniert einmal der Sport an sich. Aber auch die gesamte Atmosphäre und der Zusammenhalt. Der ist wirklich einmalig hier. Es ist tatsächlich nicht gelogen, wenn man von einer großen Familie spricht, also wenn die Radballer zusammenkommen, ist das eine familiäre Atmosphäre, jeder kennt sich. Es ist halt doch ein relativ eingeschworener Kreis."
Thomas Willmann ist einer der wenigen, die regelmäßig über Radball berichten. So hält die "Schweriner Volkszeitung" weiterhin die mediale Fahne hoch – anders als Fernseh- und Radiosender, die sich seit den 90er-Jahren zunehmend verabschiedet haben von dieser deutschen Traditionssportart.
"Wenn man sich das mal hier wirklich anschaut. Wir haben den Weltcup hier gehabt. Wir haben Europameisterschaften gehabt. Was wirklich die Könner auf ihrem Rad fabrizieren. Hier sieht man es in Ansätzen schon – die Jungs sind ja schon relativ weit – gehören zur deutschen Spitze. Aber wenn Du die Weltspitze - und es war ja wirklich die Weltspitze in Ludwigslust zu Gast – wenn Du das siehst: Das ist ein Wahnsinn, was die da auf ihren Rädern fabrizieren. Was die für eine Körperbeherrschung haben. Da kann man nur den Hut ziehen. Und wenn Du siehst, was für eine Geschwindigkeit dieser Ball aufnimmt, wenn der abgefeuert wird, dann möchtest Du nicht im Weg stehen."

Für Frauenligen gibt es nich genug Sportlerinnen

Dass Radball noch immer lebendig ist in Deutschland – auch im Spitzenbereich – liegt an den vielen extrem engagierten Ehrenamtlichen: Trainern, Vereinsvorsitzenden, Eltern und natürlich an den Aktiven. Abseits von großer Sportförderung, von Olympia oder medialer Aufmerksamkeit brennen sie für ihr Hobby. Und so kamen auch nach den Steinmeier-Zwillingen noch weitere Weltmeisterteams aus Deutschland: Die Brüder Jürgen und Werner King, Jörg Latzel und Karsten Hormann, die Brüder Michael und Sandro Lamuscio, die Zwillinge Mike und Steve Pfaffenberger, Christian Hess und Thomas Abel, Uwe Berner und Matthias König und zuletzt 2017 die Cousins Gerhard und Bernd Mlady.
Auffällig ist, dass Frauen fehlen. Zwar gibt es in unteren Ligen und im Nachwuchs auch mal gemischte Teams. Aber meist hören die Mädchen mit 15 bis 17 Jahren auf. In dem Alter legen die Jungs körperlich oft so zu, dass sie klar im Vorteil sind. Und für reine Mädchen- oder Frauenligen gab es zwar Initiativen, die bisher aus Mangel an interessierten Sportlerinnen aber alle im Sande verliefen.

Die Jugend-Europameister aus Großkoschen

Schon verewigt in den Bestenlisten haben sich die Lehmann-Zwillinge.
"Wir haben mit vier Jahren angefangen und spielen in Großkoschen seit 14 Jahren. Wir trainieren pro Woche zwei bis dreimal."
Eric und Tim Lehmann sind praktisch auf dem Rad aufgewachsen. Turniere in Deutschland waren für die heute 18-Jährigen schnell nicht mehr genug:
"Wir waren schon in Österreich, in der Schweiz, in Tschechien, in Japan und in Frankreich. In Japan waren wir 2019 und haben da für zehn Tage ein Trainingslager absolviert und haben da mit den besten Mannschaften von ganz Japan am Ende ein Turnier gespielt, und konnten dieses Turnier erfolgreich gewinnen."
Jetzt sitzen Tim und Eric im heimischen Wohnzimmer in Großkoschen. Eine 1300-Einwohner-Gemeinde im Süden Brandenburgs. "Mehrfach DDR-Meister im Radball", steht auf ihrer Wikipedia-Seite. Gleich darunter der Verweis auf die Deutschen Meistertitel von Tim und Eric Lehmann:
"Ja, wir sind bereits sieben Mal Deutscher Meister geworden. Einmal Europameister im Jahr 2018. Das war in Bazenheid in der Schweiz. Und dann ist in dem Augenblick ein Traum in Erfüllung gegangen. Weil wir uns das schon immer vorgestellt haben. Und dann ist eine riesen Last von uns gefallen und wir waren extrem glücklich. Und haben das Ziel geschafft."
Dass die beiden überhaupt beim Radball gelandet sind, hat natürlich mit der Familiengeschichte zu tun: Der Opa war schon Radballer, der Vater spielte bei Großkoschen sogar in der 1. Bundesliga – und strahlt jetzt hörbar über die Internetleitung aus dem heimischen Wohnzimmer.
"Ja, Hallo. Ja, natürlich bin ich sehr stolz und es war ja nicht abzusehen, dass sie mal Radball spielen werden. Nach der Geburt denkt man ja nicht an sowas. Das hat sich alles mit der Zeit entwickelt. Die sind auch ziemlich zeitig Rad gefahren. Das haben sie zuhause selbst geübt. Und dann waren sie immer zugucken gewesen und sind auch schnell zum Training gekommen", erzählt er.
"Man hat auch gemerkt, dass sie ein bisschen das Talent in die Wiege gelegt bekommen haben. Und dann ging das zügig voran. Sind auch die mit die jüngsten Deutschen Meister gewesen. Da sind auch schon mal ein paar Freudentränchen geflossen."

Familie als Radball-Unternehmen

Neben Talent, sind es vor allem Ehrgeiz und Teamwork – der ganzen Familie.
"Der Manager war die Frau gewesen. Ich war der Trainer und die Jungs waren die Sportler. Das ist wie so ein richtiges Unternehmen. Und das war auch nicht immer einfach. Gerade das Finanzielle. Die Sportart wird ja auch nicht irgendwie gefördert sonstwie."
Es gibt ein paar Sponsoren, viel Unterstützung vom Heimatverein und inzwischen umfasst der Lehmann-Tross 30 Personen, die zu den Turnieren fahren, die manchmal auch mit Schmerzen verbunden sind, erzählt die Mama.
"Wo sie klein waren, gab es aufgeschlagene Knie und so weiter. Auch wenn sie über das Fahrrad – den Lenker – gestürzt sind. Oder an der Bande hängen geblieben sind. War es schon immer sehr hart zu sehen. Größere Sachen waren zum Beispiel bei der EM, wo Eric verletzt war und ins Krankenhaus musste. Da haben wir ihn ins Krankenhaus begleitet und Tim blieb dann dort und musste weiterspielen. Das war schon eine sehr aufregende Zeit."
Inzwischen sind die beiden 18, haben eine Lehre begonnen. Auf dem Rad sitzen sie seltener. Durch Corona steht fast alles still. Eigentlich sollten die Lehmann-Zwillinge längst bei den Männern starten – gleich in der 2. Bundesliga. Aber die macht wie so vieles gerade Zwangspause.

Häufig erfolgreiche Zwillinge im Radball

Bleibt mir noch eine Frage: Warum so oft Zwillinge im Radball?
Eric Lehmann: "Es ist auf jeden Fall ein Vorteil, weil: Wir verstehen uns blind. Wir wissen, wo der andere hinfährt und wo er hinpasst."
Thomas Steinmeier: Vielleicht ist es bei Brüdern – und Zwillingen besonders – so, dass sie relativ gleich stark sind. Sich dadurch gegenseitig gut motivieren, weil der andere nie davonzieht. Und weil das Spielverständnis ähnlich ist. Es ist ja im Radball nicht nur das Athletische, sondern auch der Gedanke, und der Spielwitz und das wird bei Geschwistern ähnlich sein, anders kann ich mir das gar nicht erklären."
Andreas Steinmeier: "Wir haben uns extrem oft gestritten. Im Nachhinein war das ein Erfolgsgeheimnis für uns, dass man sich aneinander gerieben hat und eine steile Karriereleiter gestiegen ist."
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