Tove Ditlevsen: "Kindheit"

Sprache als Schutz zwischen Ich und Wirklichkeit

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Das Buchcover "Kindheit" von Tove Ditlevsen ist vor einem grafischen Hintergrund zu sehen.
Tove Ditlevsen findet in „Kindheit“ ebenso zarte wie fulminante Bilder für Beklemmung, Sorge und Angst. © Deutschlandradio / Aufbau Verlag
Von Meike Fessmann · 18.01.2021
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Ein Buch, das ebenso feinsinnig wie brutal ist. Mehr als 50 Jahre nach dem dänischen Original erscheint mit "Kindheit" von Tove Ditlevsen ein umwerfendes Stück autofiktionaler Prosa in deutscher Übersetzung. Was für eine Wiederentdeckung!
Ein hochempfindliches Lauern, von einer Dichte, die wie mit Krakenarmen ins lesende Gemüt greift, kennzeichnet dieses umwerfende Stück autofiktionaler Prosa, während es ins Bewusstsein eines am Anfang fünfjährigen Mädchens hinabtaucht.
Das Kind sitzt neben seiner Mutter am Küchentisch, ganz still, um sie nur ja nicht aufzuscheuchen. Der Vater ist arbeiten, der Bruder in der Schule. Die Mutter wird jeden Moment aufspringen, um einkaufen zu gehen – oder um über ihre Tochter herzufallen, mit Worten oder Taten. Die Spanische Grippe und der Versailler Vertrag gehören zu dieser Ouvertüre, als Zeitungsberichte, auf denen die Hände der Mutter ruhen.
Mehr als 50 Jahre nach dem Erscheinen des dänischen Originals 1967 können wir nun endlich den ersten Band von Tove Ditlevsens "Kopenhagen-Trilogie" auf Deutsch lesen. Nur der dritte Band ist schon einmal, unter dem Titel "Sucht", auf Deutsch erschienen. In der vor Geistesgegenwart vibrierenden Übersetzung von Ursel Allenstein heißt er nun "Abhängigkeit". Man kann ihn wie "Jugend", den zweiten Teil, ab dem 15. Februar kaufen.

Biografie eines Arbeiterkindes

"Kindheit" ist der furiose Auftakt dieses atemberaubenden Unternehmens, das in die Gegenwart platzt wie eine Neuigkeit. Dabei hätten Annie Ernaux, Didier Eribon, Rachel Cusk, Karl Ove Knausgard, Maggie Nelson und andere autofiktional reüssierende Schriftstellerinnen und Schriftsteller bei der 1917 geborenen Dänin in die Lehre gehen können.
Tove Ditlevsen wuchs im Kopenhagener Arbeiterviertel Vesterbro auf und lebte fast die ganze Zeit in der Stadt, bis sie sich 1976 mit 58 Jahren das Leben nahm.
Es ist die Biografie eines Arbeiterkindes, das trotz Begabung nicht aufs Gymnasium durfte und dennoch bereits in jungen Jahren eine beeindruckende Schriftsteller-Karriere hinlegte. Sie schrieb Gedichte, Romane, Erzählungen, Kinderbücher und Essays.
Die "Kopenhagen-Trilogie" war eine Art Neustart nach einer tiefen Krise, wenn man bei einer Schriftstellerin, die unter Alkohol- und Medikamentensucht litt, von einer Ehe in die nächste schlidderte und die Psychiatrie als "Zufluchtsort" vor Männern und Kindern empfand, wie es im Nachwort heißt, überhaupt von einzelnen Krisen sprechen kann.

Fast keine Lücke zwischen Ereignis und Erleben

Wie sich die Sprache als Schutz zwischen Ich und Wirklichkeit schiebt, beschreibt "Kindheit" auf vielfältige Weise. Der Vater, ein Heizer, der in der Weltwirtschaftskrise arbeitslos wird, hat als leidenschaftlicher Leser Verständnis für seine Tochter, auch wenn er Gedichte für "Schwärmerei" hält. Heimlich benutzt sie ihr Poesiealbum, um eigene Gedichte zu notieren, die später einmal belegen sollen, was für ein "Wunderkind" sie war.
Für Beklemmung, Sorge und Angst findet Tove Ditlevsen ebenso zarte wie fulminante Bilder – "ein dunkler Rand aus Angst um all meine Gedanken". Sie weiß, wie unterschiedlich Kindheiten selbst bei Geschwistern sind. Dennoch haben ihre Sätze etwas Allgemeingültiges: "Dunkel ist die Kindheit, und sie winselt wie ein kleines Tier, das man in einen Keller eingesperrt und vergessen hat."
Tove Ditlevsen erzählt nah am inneren Erleben. Es gibt fast keine Lücke zwischen Ereignis und Erlebnis. Ihre Prosa hat einen Thrill, feinsinnig und brutal. Sie holt Vergangenes ganz und gar in die Gegenwart - eine strahlkräftige Wiederentdeckung!

Tove Ditlevsen: "Kindheit". Erster Teil der Kopenhagen-Trilogie
Aus dem Dänischen übersetzt und mit einem Nachwort von Ursel Allenstein
Aufbau Verlag, Berlin 2021
120 Seiten, 18 Euro

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