Tourismus in den Alpen

Idylle unter Druck

Skifahrer auf der Piste und auf der Terrasse der Skihuette Schafalm vor der Kulisse des Dachstein-Gebirges, aufgenommen am 6. Januar 2018, Planai, Schladming, Oesterreich.
Dicht an dicht gedrängt bei Pisten-Bier und Brotzeit: Wieviel Tourismus vertragen die Alpen noch? © imago/Eibner Europa
Von Günther Wessel · 05.02.2019
Bike-Routen, Klettersteige, Sommerrodelbahnen, Lifte, Pisten und Après-Ski-Schuppen machen manches Alpen-Dorf zur Event-Hölle. Natürlich: Die Region lebt vom Tourismus. Aber wie viel davon verkraften Natur und Bewohner?
Gernot Paesold: "Wir haben 4,5 Millionen Nächtigungen im Winter und fast drei Millionen im Sommer, also 7,5 Millionen Nächtigungen im Tourismusjahr betrachtet."
Willi Seifert: "Ich glaube, man muss sich hier wie in vielen Dingen der Gesellschaft, der Wirtschaft, von einem dauerhaften Wachstumsgedanken verabschieden oder zumindest, dass das Wachstum über die Quantität sich abspielt. Denn speziell ein Alpental ist limitiert, in seiner Fläche, in seinen Ressourcen, und das kann nicht unendlich wachsen.
Werner Bätzing: "Die Alpen sind in Europa eine Ungunstregion, die durch zahlreiche negative Elemente geprägt ist, was die menschliche Nutzung betrifft, das heißt, wir haben einen hohen Ödlandanteil, wir haben ein steiles Relief, wir haben hohe Niederschläge, wir haben kurze Vegetationszeiten."
Die Zukunft ist trist, weil die Alpen sich der modernen Nutzung prinzipiell sperren.
Doris Stadlmaier: "Auch, wenn die Gäste jetzt weiterhin kommen, wenn es jetzt schon für die Gäste alles passt, es wird trotzdem noch dazu gebaut. Weil: Es könnten ja noch mehr kommen. Das ist ein Hamsterrad. Es muss dann immer noch mehr, immer höher und immer weiter, damit ich das abbezahlen kann, was ich vorher aufgebaut habe, das ist so ein Kreislauf."

Alpenorte – Idyllen unter Druck

Herbert Gschoßmann: "Nachhaltigkeit ist für mich beispielsweise der bewusste Umgang mit der Natur hier."
Alpenorte sind Idyllen. Im Katalog. Der zeigt schneebedeckte Gipfel, blühende offene alpine Weiden, aus groben Balken gezimmerte Almhütten, dichte Wälder und Ortskerne mit kleinen Kirchen und Häusern, die mit blumengeschmückten hölzernen Balkonen verziert sind. Die gute Luft wird beschworen, die Ruhe, die der gestresste Mensch von heute ansonsten nirgendwo mehr finden kann, und die Möglichkeiten, sich sportlich zu betätigen. Dazu der Genuss regionaler Spezialitäten. Die Orte leben vom Tourismus, sie buhlen um Besucher. Egal ob im Tiroler Zillertal oder auf der deutschen Seite im Berchtesgadener Land.
Die Inntal-Autobahn führt von Kufstein nach Innsbruck. Bei Wiesing beginnt die Bundesstraße 169. Sie führt nach Süden: ein kurzes Stück durch Wiesen und Wald, dann folgen rechter Hand eine Tankstelle, ein McDonalds und sofort dahinter wie auf einem Parkplatz an der Autobahn ein großer, zweistöckiger Pavillon. Zillertal.at steht groß dran, es ist die Zentrale der Zillertal Tourismus GmbH, die den Fremdenverkehr im Zillertal entwickelt und vermarktet. Deren Geschäftsführer Gernot Paesold verkündet voller Stolz wachsende Besucherzahlen:
"In den letzten zehn Jahren haben wir von 6,2 auf eben diese 7,4 Millionen Nächtigungen im Jahresschnitt gesteigert."
Das sind fast 21.000 Übernachtungen am Tag, jeden Tag, also auch in den Zeiten, in denen keine touristische Saison herrscht. Ist das viel? Ist das zu viel?

Das Zillertal umfasst eine Fläche von etwa 1000 Quadratkilometern bei einer Länge von etwa 40 Kilometern. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts kommen Besucher und ab 1949 wurde das Tal touristisch erschlossen. Entlang des namensgebenden Flusses liegen die meisten der 25 Gemeinden. Die größten sind Fügen und Mayrhofen mit etwa 4000 Einwohnern. Insgesamt übernachten im Zillertal ein Sechstel aller Tirol-Urlauber und im Jahr mehr als im gesamten österreichischen Bundesland Oberösterreich. Und auch gut 20 Prozent mehr als in Köln.
Wintersportler fahren bei sonnigem Wetter mit dem Sessellift im Skigebiet auf dem Stubaier Gletscher in Neustift im Stubaital (Österreich).
Mehr Lifte, mehr Ski-Pisten-Kilometer, mehr Touristen... Die Skigebiete machen sich gegenseitig Konkurrenz.© Jan Woitas / dpa
"Guckt man erstmal die Entwicklung an, kann man feststellen, dass der Tourismus im Alpenraum sich je länger, desto mehr auf die großen Tourismuszentren konzentriert."
Das sagt einer der besten Kenner des Alpenraumes.
"Mein Name ist Werner Bätzing. Ich bin inzwischen emeritierter Professor für Kulturgeografie und ich beschäftige mich seit 40 Jahren mit den Problemen des Alpenraums in einer integrativen Perspektive, das heißt, die Verbindung von wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und soziokulturellen Elementen."

"Ein gnadenloser Wettbewerb"

Werner Bätzing hat die Entwicklung des Tourismus von 1985 bis 2014 für alle 1000 österreichischen Alpengemeinden verglichen. Das Ergebnis: Auf etwa 300 Gemeinden konzentriert sich die Hälfte des gesamten Übernachtungstourismus. Nur die Gemeinden mit mehr als 5000 Betten für Touristen wachsen noch, alle anderen schrumpfen. Sie verlieren in einem Verdrängungswettbewerb.
"Es gibt zurzeit einen gnadenlosen, beinharten Konkurrenz-Wettbewerb, wo die einzelnen Gebiete sich wechselseitig versuchen zu übertreffen."
Das würde Gernot Paesold so nicht sagen. Aber er ist sich natürlich des Drucks bewusst. Die Auslastung der Hotels, Pensionen und Ferienwohnungen liegt im Sommer im Zillertal bei knapp 30 Prozent, im Winter bei knapp 50 Prozent – dazu kommt, dass die Urlauber oft nicht sehr lang bleiben. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer beträgt gerade mal 5,3 Tage, was aber für Tirol und auch für andere Alpenregionen schon einen Spitzenwert darstellt. Dort verweilen die Besucher kürzer.
Damit das im Zillertal so bleibt, investieren die Gemeinden. In Infrastruktur – in Wanderwege, Klettersteige, Mountain-Bike-Parcours, Kulturveranstaltungen.
"Das Zillertal, es klingt so schön oder so traditionell, es ist nicht alles so schön und traditionell, wie es von der Außenseite aus ausschaut – und so heimelig."
Doris Stadlmaier, Jugendpastoralassistent in Aschau.
"Aschau ist eine feine Gemeinde, ist eine tourismusverschonte oder -geschonte Gemeinde. Wir haben auch keinen direkten Anschluss an die Hauptstraße drüben und sind so ein bisschen entfernt vom Megaverkehr."

Mayrhofen, der Ballermann vom Zillertal

Touristischer Hotspot ist Mayrhofen, von vielen als Ballermann vom Zillertal bezeichnet. Hier tobt am Nachmittag das Leben – und das Vogelgezwitscher kämpft zunächst noch gegen den Lärm des Open-Air-Konzertes an – nach einer Stunde hat die Musik gesiegt. Sie dröhnt bis knapp 22 Uhr, danach herrscht relative Nachtruhe.
Zu der Zeit sind in Aschau längst die Bürgersteige hochklappt. Und anderswo gibt es gar keine. Denn auch das ist das Zillertal: An seinem Ende, dort wo das Tal enger und wilder wird, sich in kleinere Nebentäler aufspaltet, die die Hänge steiler und die Gipfel höher und unzugänglicher werden, erstreckt sich der Hochgebirgs-Naturpark Zillertaler Alpen. Sein Geschäftsführer ist Willi Seifert.
"Aktuell umfassen wir 422 Quadratkilometer Schutzgebietsfläche, die sich eigentlich von den Tallagen von 1000 Meter Seehöhe bis auf 3509 Meter am Hochfeiler erstrecken."

Das Besondere daran ist: Trotz dem Besucherandrang ins Tal, trotz wachsenden Besucherzahlen wurde der Naturpark in den letzten Jahren um etwa 45 Quadratkilometer ausgedehnt.
Was nicht nur Willi Seifert begrüßt, auch der Tourismusmanager Gernot Paesold. Doch nicht überall herrscht Einigkeit. Die Schlüsselfrage: Gibt es genug Tourismus im Zillertal, zu viel oder genau die richtige Menge? Muss man mehr ausbauen?
DJ Ötzi tritt bei der Gipfeltour 2018 in der Alm-Arena am Hauser Kaibling in der Steiermark, Österreich, auf. 
Die Stille der Natur ist nicht genug: Après Ski mit DJ Ötzi in der Steiermark.© picturedesk / Martin Huber
Seifert: "Es ist ganz sicher so, dass im Zillertal sehr viele Dinge ausgereizt sind, die Kapazitäten im Bereich der Beherbergung und auch des Seilbahnwesens sind enorm hoch, und natürlich kann ich ein Liter Wasser nicht ständig in einen Halbliterkrug einschenken."

"Die Alpen lernt man da nicht mehr kennen"

Gernot Paesold möchte hingegen – das ist schließlich sein Job als Tourismusmanager – die Besucherzahlen und die Auslastung der Hotels erhöhen. Deshalb lässt er sich was einfallen: So halten die Erstligaklubs aus Bremen, Bern und Amsterdam im Zillertal ihre Trainingslager ab. Die Gemeinden sponsern die Infrastruktur und Angebote für Fanreisen gibt es passend dazu – und Paesold freut sich hinterher über die schönen werbenden Bilder, die von den Fußballern in sozialen Netzwerken gepostet werden. Und er schwärmt von den attraktiven Freizeitmöglichkeiten, die meist in privater Regie entstehen:
"Da gibt es zahlreiche Highlights wie das Fichtenschloss, was eine sehr schöne naturnahe Inszenierung von Holz und Wasser in Berg in Zell am Ziller ist, die Gletscherhöhle in Tux-Finkenberg, wo man in eine Gletscherspalte hineingehen kann."
Dann gibt es noch die Adlerbühne Ahorn, eine Greifvogelstation auf 2000 Meter Höhe, erreichbar wie zahlreiche Almhöhen per Bergbahn, oder den Golfplatz in Uderns, eine 18-Loch-Anlage, die Paesold als einen der "Leading Golf Courses" in Österreich bezeichnet. Diese Liste lässt sich verlängern, dazu zählen auch Klettersteige, Hochseilgärten oder Sommerrodelbahnen. Was Paesold liebt und lobt, lässt den Alpenkenner und Kulturgeografen Werner Bätzing gruseln.
"Im Sommer Tourismus hat man die Tendenz, künstliche Attraktionen neu zu schaffen. Aussichtsplattformen spektakulärer Art, Hängebrücken, irgendwelche Streichelzoos an den Bergbahnen-Stationen oder so eine Art Volksbelustigungspark mit irgendwelchen Fahrgeschäften. Das Problem ist, die Leute machen das dann ein, zwei, drei Mal. Dann wird es schon fast wieder langweilig. Also muss eine neue Attraktion her. Das Nachbargebiet macht es noch größer, noch spektakulärer, ein permanenter Wettbewerb ist dabei mit diesen technischen Attraktionen für den Sommertourismus."
Und Bätzig zieht ein ernüchterndes Fazit: "Mein Kritikpunkt ist der, dass man heute im Alpenraum in diesen Tourismuszentren von den Alpen gar nichts mehr mitbekommt. Man ist quasi in einer künstlichen Freizeitwelt, die sehr stark mit technischen Strukturen verbaut ist. Die Alpen lernt man da überhaupt nicht mehr kennen."
Doch wo lernt man die Alpen noch kennen?
Alpenorte sind Idyllen, in der Realität: Überwiegend im Nationalpark Berchtesgaden liegt die kleine Gemeinde Ramsau. Ein Dorf am Fuße des Watzmann, durchflossen von der milchig weiß-bläulichen, brausenden Ramsauer Ache. Ein paar alte Fachwerkhäuser, der Friedhof mit der Gedenktafel für Hermann Buhl, den Erstbesteiger zweier Achttausender, des Nanga Parbat und des Broad Peak.

Es gibt die idyllischen Bergdörfer noch

Der Blick auf die Kirche St. Sebastian im Ortskern mit den blanken Felswänden und Gipfeln der Reiteralpe dahinter ist weltberühmt. Er war ein beliebtes Motiv der Landschaftsmalerei des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und heute fotografiert nahezu jeder Besucher des Ortes die Kirche vom sogenannten Malerwinkel aus. Und zwar immer so, dass die Straße, die durch den Ort führt, nicht zu sehen ist. Diese ist zwar nicht groß, aber vorüberfahrende Autos würden die Alpenidylle dann doch trüben.
Viele der Hobbyfotografen sind übrigens dabei im Internet zu sehen. Schließlich hängt am Malerwinkel eine Live-Webcam, die die Ramsaus Kirche alle zehn Sekunden ablichtet. Ramsau lebt wie das Zillertal auch vom Tourismus.

"Wir haben 1750 Einwohner. Wir haben also ungefähr 75.000 Gäste und knapp 350.000 Übernachtungen. Wir sind also hier – wenn man das also mal ins Verhältnis setzt zu den Einwohnern – im Landkreis Berchtesgadener Land von der Wertschöpfung her am stärksten vom Tourismus abhängig."
Das sagt einer, der den Ort sehr gut kennt.
"Mein Name ist Herbert Gschoßmann. Ich bin seit 2008 hier ehrenamtlicher Bürgermeister und bin in meiner hauptberuflichen Betätigung selbständig im Finanzbereich und jetzt in der zweiten Periode hier im Bergsteigerdorf Ramsau ehrenamtlicher Bürgermeister. Ich bin 58 Jahre alt, verheiratet, drei Kinder, ja, und sehr zufrieden hier in Ramsau."
Die Pfarrkirche St. Sebastian in Ramsau.
Beliebtes Foto-Objekt der Touristen: die Pfarrkirche St. Sebastian in Ramsau.© blickwinkel

Bergsteigerdörfer statt Ballermann-Tourismus

Ramsau ist eine Besonderheit. Es ist seit September 2015 ein sogenanntes Bergsteigerdorf, das erste in Deutschland. Die Bergsteigerdörfer wurden vom Österreichischen Alpenverein erfunden und 2014 wurde das Konzept dann vom Deutschen Alpenverein übernommen.
"Die Gemeinde muss sich bei uns bewerben, ganz offiziell."
Jens-Peter Kiel, Ressortleiter für Naturschutz und Kartografie bei der Zentrale des Deutschen Alpenvereins.
"Das sind verschiedenste Kriterien, die berücksichtigt werden. Das ist einerseits das Ortsbild, das traditionell auf großer Fläche erhalten sein sollte. Ein großer Anteil an Schutzgebietsfläche, über ein Drittel sollte der betragen auf dem Gemeindegebiet, und auch eine Absichtserklärung, die ganz klar darstellt, dass man sich in Zukunft auch noch stärker mit den Fragen der Nachhaltigkeit beschäftigen möchte und sich auch weiterentwickeln möchte."

"Als wir erfahren haben von der Idee Bergsteigerdörfer und als sich das hier ein bissel konkretisiert hat, haben wir gesagt: Wir wollen uns bewerben, Bergsteigerdorf zu werden, um dem Kind sozusagen einen Namen zu geben", sagt Bürgermeister Herbert Gschoßmann.
"Wir sind Bergsteigerdorf, weil diese Kriterien des nachhaltigen Tourismus hier eigentlich immer schon sehr stark im Vordergrund gestanden sind und diese Kriterien eigentlich mehr oder weniger wie die Faust auf das Auge zu dem Gedankengut hier in der Ramsau passen. Denn die Berge allein machen es nicht. Sondern man muss schon auch seinen Teil dazu beitragen, dass die Berge so bleiben, wie sie sind, dass das Umfeld so bleibt, wie es ist. Und ich glaube, dass wir da auf einem sehr guten Weg sind."
Blick auf den Hintersee bei Ramsau im Nationalpark Berchtesgaden
Naturidylle für Ruhe-Suchende: der Hintersee bei Ramsau im Nationalpark Berchtesgaden© blickwinkel / dpa

Einheimische tragen Tourismus-Konzept mit

Den guten Weg kann man leichter negativ beschreiben – über das, was es nicht in Ramsau gibt: keine Sommerrodelbahn, keine großen Events, keinen Lift auf den Watzmann oder andere Gipfel, keine Ansiedlungsflächen für neue Hotels. Was bleibt, sind Wanderwege: In drei Stunden hinauf zur Halsalm, in fünf Stunden zum Wimbachtal oder für wirklich trittsichere, schwindelfreie und konditionsstarke Bergsteiger die Watzmann Überschreitung in zwölf bis vierzehn Stunden. Dabei sind auf einer Strecke von 22,5 Kilometern immerhin knapp 2400 Höhenmeter zu bewältigen, zum Teil auch Kletterstellen.
"Der Einheimische steht dahinter. Denn die Gemeinde allein würde es ja nicht auf die Füße bringen, denn die Einwohner nicht dahinterstehen würden."
So Judith Ober, die in ihrem Bergsteigercafé einen selbstgemachten Apfelstrudel anbietet, den man nicht genug loben kann. Nein, große Debatten, sich als Bergsteigerdorf dem größeren touristischen Ausbau zu verschließen, habe es nicht gegeben. Und Birgit Gschoßmann, die erste Vorsitzende des Tourismusvereins in Ramsau, selbst Gastgeberin und mit ihrem Namensvetter, dem Bürgermeister, weder verwandt noch verschwägert, stimmt ebenfalls zu:
"Ich würde es eher Unsicherheiten nennen, weil niemand am Anfang sich mit dem Wort Bergsteigerdorf identifizieren konnte. Die wussten nicht, was kommt jetzt auf uns zu, müssen wir jetzt etwas anders machen wie sonst, aber das genau war es ja: Dass sie nichts anderes machen müssen oder sollen wie sonst. Die sollen so bleiben wie sie sind."
Allerdings – so Herbert Gschoßmannn – nicht im Sinne eines unveränderlichen Status quo. Entwicklung bräuchten auch Bergsteigerdörfer, sie seien kein Freilichtmuseum. Sperre man sich generell dagegen, unterhöhle man die Akzeptanz der Idee. Nur müsse alles zum Bergsteigerdorf passen.

Die Idee von unverfälschter Natur und Gastfreundschaft

Gut dazu passt das Berg-Kultur-Büro im alten Mesnerhaus direkt neben dem Kirchhof im Herzen des Ortes, das im April 2017 eröffnet wurde. Gegründet hat es Jens Badura,
"Wenn man den Berufszeugnissen glauben schenkt, dann müsste ich mich Philosoph nennen."
Aber er ist nicht nur Hochschullehrer in Zürich und Salzburg, sondern auch Bergretter und Bergführer, Kulturmanager und Kunstvermittler. Mindestens einmal am Tag muss er hinaus – der Berg ruft halt. Ein alpiner Unruhegeist, der sich immer mit alpiner Kultur und Lebensweise beschäftigt, mit deren Vermittlung, dem Nachdenken über unsere Wahrnehmung des Alpenraumes, mit der Geschichte desselben und auch dem Tourismus. Er weiß, woraus der Unterschied zwischen Tourismusregionen in Tirol oder Ramsau resultiert:
"Tirol ist insofern ein spezieller Fall, als dass wir eine Tourismusentwicklung haben, die geprägt ist von einer Plötzlichkeit in der Entwicklung des Tourismus, die dazu geführt hat, dass wir eine asynchrone kulturelle Situation hatten, bei denen, die kamen, und bei denen, die da sind."

Was deshalb zu Irritationen führte: Bei den Gästen – wie es schon Heinrich Heine 1830 in seinen Reisebildern leicht ironisch beschrieb.
"Die Frauenzimmer in Tirol begrüßen dich so zuvorkommend freundlich, die Männer drücken dir so derb die Hand und gebärden sich dabei so putzig herzlich, dass du fast glauben solltest, sie behandelten dich wie einen nahen Verwandten, wenigstens wie ihresgleichen."
Denn hier schien und scheint das rettende Idyll noch Wirklichkeit: die Idee des brave Landmanns, der unverfälschten Gastfreundschaft, der ebenso unverfälschten Natur – was unzählige Heftromane, Fernsehserien, Heimatabende und Lieder seit Heidi, dem Geissenpeter und dem Alpöhi immer wieder beschwören. Herz, Schmerz, Seele und lockende Bergwelt – der Alpenraum als Gegenentwurf zur verderbten Stadt, zur Unsicherheit. Touristische Erfolgsgaranten bis heute.
Historische Skier und Schneeschuhe
Von den Anfängen des Tourismus: historische Skier und Schneeschuhe.© imago / blickwinkel

Das "Tourismus-Trauma" der Bewohner

Selbst in den vergnügen Alpenkrimis von heute, die sich augenzwinkernd über das vermeintliche Hinterwäldlertum und die stille Schläue der Alpenbewohner amüsieren, stammt das Böse meist von außerhalb. So werden immer wieder dieselben Bilder vermittelt – die selten der Realität entsprechen.
Auch die Gastgeber waren irritiert. Unsicher, was die Gäste wollten. So entstanden und entstehen bizarre Situationen, seltsame Drehungen aus Erwartungen und Ansprüchen.
Badura: "Man macht etwas, von dem man denkt, dass die anderen denken, so soll es sein. Das ist die Logik eines Tourismus, wie er in Tirol ganz stark zum Ausdruck gekommen ist. Aber er hat eben tiefe Wunden hinterlassen, die etwas zu tun haben mit der Frage, wer sind wir denn eigentlich. Wenn wir uns als Statisten in einer Lebenswelt bewegen, die so gebaut ist wie wir denken, dass die anderen denken, dass die Lebenswelt aussehen soll. Und das ist eine fatale Situation."
Das geht bis tief in die Familienstrukturen hinein. Denn alles wurde dem Tourismus unterworfen.
Badura: "Dass meine Generation noch, dass die alle ein Trauma haben, dass sie im Winter und im Sommer raus mussten aus ihren Zimmern und dass die Gäste eigentlich überall hin konnten und es keine Rückzugsräume mehr gab."
Doris Stadlmaier, die Pastoralassistentin aus Aschau im Zillertal, berichtet genau davon:
"Meine Eltern haben selber Gästezimmer gehabt. Wir hatten ein kleines Haus. Wir sind fünf Kinder. Wir hatten jeder zu zweit ein Schlafzimmer und im Sommer sind wir in den Keller gewandert. Wir schliefen im Keller."
Als Kind machte ihr das zunächst wenig, die Gäste brachten ihr Süßigkeiten und auch Kleidung mit. Als Erwachsene empfand sie das anders. Zu viel richte sich nach den Besuchern aus:
"So das eigene Leben und die Familie. Wie ich selbst im Tourismus war, war mein Sohn der zweite und die Gästekinder die ersten. Das hat mich dann auch eher etwas betroffen gemacht, wie ich es eigentlich mal realisiert hatte."

"Es gibt so eine Gunst des Verschlafens"

Als "Einbruchsituation" bezeichnet Jens Badura diese schnelle Tourismusentwicklung in manchen Regionen. Die habe die Struktur der Gemeinden verändert, auch ihr Aussehen. Da sei dann ohne Plan, ohne Raumkonzept gebaut worden, hier ein Anbau, dort ein Anbau, in einer Architektur, von der man annahm, dass die Gäste sie so als genuin alpin, aber auch modern genug empfinden würden. Und genau das habe die Atmosphäre, die die Gäste suchten, dann zerstört. Ramsau sei da anders.
"Es gibt so eine Gunst des Verschlafens. Man hat einfach in den 70er-, 80er-, 90er-Jahren nicht die Entwicklung gemacht, wie sie in vielen Stellen in Österreich gemacht worden ist, dass man gesagt hat: Wir modernisieren, wir bauen aus, wir bauen neue große Strukturen."
Und geht es nach Bürgermeister Gschoßmann, dann wird das auch so bleiben. Er will zwar nicht sagen, dass der Weg, den andere Gemeinden gehen, falsch sei.
"Nur wenn man so einen Weg einmal einschlägt, dann glaube ich, gibt es irgendwann kein Zurück mehr. Man ist auf diesem Weg gefangen und da gibt es dann nur eins: weiter, weiter, denn wenn man da einen Anschluss verliert, dann ist man wirklich im Niemandsland. Ein Zurückdrehen gibt es nicht mehr, und somit ist man sozusagen Gefangener der eigenen Strategie. Und eine Strategie, wie wir sie hier haben, ist mir dann, wenn ich die Wahl hätte, die liebere."
Können alle Alpenorte Idyllen sein?
Paesold: "Wir haben 50.000 Gästebetten und 33.000 Einwohner. Aber diese 33.000 leben vom Tourismus und leben mit dem Tourismus und leben auch dank des Tourismus."
"Ich bin kein Freund von dem Schwarz-Weiß-Malen." – Christian Rauch ist 56 Jahre alt und Besitzer des 80-Betten-Hotels Neuwirt in Schwendau im Zillertal.
"Diese Entwicklung wäre nie möglich gewesen, wenn wir keinen Tourismus hätten. Und das gibt es auch im Gewerbe und in anderen Bereichen. Die sind zu fast 80 Prozent vom Tourismus abhängig. Es würde auch diese ganze Infrastruktur, dieser ganze Wohlstand für die Leute nicht möglich sein ohne die touristische Entwicklung."

Konkurrenz durch den Karibik-Urlaub

Schwendau ist kein Hotspot des Tourismus, lebt aber wie alle Gemeinden im Zillertal davon. Mal gut, mal nicht so gut. Tendenz – so Rauch: Es wird schwieriger. Heute sind die Gäste nicht mehr so treu wie früher, sie buchen ihren Urlaub später und der ist dann auch kürzer. Scheint die Sonne, kommen sie, regnet es und lässt der Wetterbericht keine Besserung erwarten, wird schnell mal storniert. Das Problem im Tourismus ist die Wertschöpfung – die sinkt, der Urlaub wird immer billiger und die Urlaubsdestinationen unterbieten sich gegenseitig.
"Die Welt ist sehr klein geworden im Tourismus. Wenn man heute 1000 oder 2000 Euro ausgibt, dann kann man fast auf der Welt alles machen. Ob es eine große Seefahrt ist oder ob das ein Fernflug ist in die Karibik."

Sinkende Einnahmen, vor allem in den großen Tourismusregionen. Wo Ramsau Bürgermeister Herbert Gschoßmann davon spricht, dass die Familienpensionen vor Ort, weil sie nun merken, dass ihre Angebote geschätzt werden, vielleicht ein oder zwei Euro pro Nacht mehr verlangen können, spricht Andreas Herzog, der Bezirkskammerleiter von der Arbeiterkammer in der Zillertalregion davon, dass der Tourismus ein Niedriglohnsektor sei:
"Zum Beispiel: Für eine 40-Stunden-Kraft im Tourismus ist ein Bruttolohn von, ich glaube, 1450 brutto für 40 Stunden die Woche vorgesehen. Das ist nicht wahnsinnig viel."
Was Christian Rauch mehr oder weniger bestätigt:
"Das große Thema im Tourismus ist bei uns, dass wir unseren Mitarbeitern, die bei uns die Lehre machen oder auch beschäftigt sind, einheimisch sind, Familie haben, Kinder und das Umfeld haben, oft nicht einen Jahresjob in unseren Häusern bieten können. Und das ist natürlich in der heutigen Zeit sehr, sehr problematisch."
Eine Palme an einem Strand - im Hintergrund das Meer.
Karibik statt Ski-Urlaub? - Jeder Zipfel der Welt ist für Touristen erreichbar.© dpa / Stephan Persch

Die Mischung muss stimmen

Und so versteht der Hotelier Christian Rauch einerseits den Tourismusmanager Gernot Paesold, der versucht, mit immer neuen Ideen die Übernachtungszahlen weiter anzukurbeln, aber auch die Umweltschützer wie Willi Seifert, der froh ist, dass sein Schutzgebiet ausgeweitet wurde. Der lobt seinerseits die gute Zusammenarbeit mit den "Touristikern" – nicht aus Opportunismus. Denn er, der er schon ein Dutzend Jahre im Zillertal arbeitet und zwischenzeitlich auch beim Österreichischen Alpenverein für Naturschutz zuständig war, weiß um die Schwierigkeiten, in den engen Tälern eine Alternative zum Tourismus zu finden:
"Wenn man die Frage treffsicher beantworten kann, dann hat man ein Lottogewinn gezogen. Also ist es sicher eine Mischung zwischen landschafts- und gebietsangepassten Tourismus, natürlich auch die Landwirtschaft in Verbindung mit regionalen Produkten. Wo auch, wenn entsprechende Kriterien und Qualität dahintersteht, ein entsprechend hoher Preis erzielt werden kann."
Und der Alpengeograf Werner Bätzing stimmt ihm weitgehend zu:
"Heute leben 15 Millionen Menschen im Alpenraum, die können von den Ressourcen vor Ort gar nicht mehr leben. Das heißt, wir brauchen auf der einen Seite die Aufwertung der regionalen Produkte, aber auf der anderen Seite brauchen wir auch im Alpenraum Betriebe, die mit der globalen Wirtschaft verbunden sind."
Rauch: "Wir sind schon immer froh, wenn wir dann leben können, wo andere Urlaub machen, und ich bin selbst sehr viel in den Bergen und ich genieße das wirklich auch. Und im Sommer, es ist einfach grandios im Hochgebirge, im Sommer."
Die Sendung wurde am 18. Juli 2017 erstmals ausgestrahlt.
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