Tour-de-France-Start in Deutschland

Comeback auf Bewährung

Von Holger Gerska · 02.07.2017
Für die deutschen Radprofis ist der Tour-de-France-Start in Düsseldorf ein Zeichen für wiedergewonnenes Vertrauen. Mit dem Dopingbeben vor rund einem Jahrzehnt hatte der Radsport erheblich an Reputation in Deutschland verloren. Eine Generation später feiert sich die Szene für ihr Comeback.
Die Tour de France zurück in Deutschland! Ein Millionen-Publikum in Düsseldorf! Die Anhänger feiern ihre Stars, als hätte es die Doping-Ära des Radsports nie gegeben! Für die aktuelle Generation deutscher Radprofis die Erfüllung eines Traums: Ich glaube man kann es als deutscher Fahrer nicht verneinen, dass es was ganz besonderes ist.
"Ich denke dass das jetzt die Früchte sind, die wir dafür einfahren können und jeder hat im Juli Tour de France geguckt und ich denke, dass ist das Ziel für die nächsten Jahre ist. Start in Deutschland, das wird in meiner Karriere wahrscheinlich nur einmal vorkommen!"
Dabei werden Tony Martin, John Degenkolb und vor allem Nikias Arndt noch ein paar Jahre dabei bleiben und wer weiß? Vielleicht kommt die Tour doch bald wieder. Denn die Tour de France in Deutschland – das ist eigentlich eine Erfolgsgeschichte. Ob bei Etappenankünften wie zuletzt 2005 in Karlsruhe oder den Großen Starts wie erstmals 1965 in Köln:
"Vor der mächtigen Kulisse des Kölner Doms erteilt ihre Eminenz, der Erzbischof von Köln Josef Kardinal Frings den 130 Fahrern, die in wenigen Augenblicken zur Tour de France 1965 starten, den Segen seiner Kirche. Es ist ein festlicher Auftakt dieses größten und schwersten Straßenrennens der Welt. Tausende, hunderttausende von Zuschauern sind in Köln vom Startplatz über die Deutzer Brücke hierher zum Dom und weiter zum Müngersdorfer Stadion auf den Beinen."

Jan Ullrich - der erste gesamtdeutsche Rad-Star

Mit ähnlich großer Begeisterung wurden die Radprofis auch 1980 in Frankfurt am Main und 1987 in Westberlin auf die Tour de France geschickt. Aber den Höhepunkt der Popularität erreichte der Radsport erst weitere zehn Jahre später, mit Jan Ullrichs Tour-de-France-Sieg und weiteren Erfolgen des ersten gesamtdeutschen Rad-Stars:
"In diesem Augenblick kann ich es noch gar nicht richtig glauben, dass ich die Tour 1997 gewonnen habe. Ich muss erst mal ein bisschen Zeit ranlassen. Ich habe schon als Kind die Tour de France im Fernsehen verfolgt. Und jetzt stehe ich hier selber als Sieger auf dem Siegerpodest, also das ist unglaublich."
So berichteten die Reporter damals:
"Jan Ullrich, der jüngste im Feld wird der Weltmeister! Und wann gab es das das letzte Mal, dass ein 19jährige Amateur Weltmeister wird."
"Kopfsteinpflaster hier in Treviso, es sind noch 16 Sekunden. Er muss sich sputen und er schafft es! Jan Ullrich ist Weltmeister!"
"Jan Ullrich ist auf dem Weg das größte zu erreichen, nimmt die Hände nach oben und weiß, er wird Olympiasieger!"
"Aber er wird noch schneller! Das wäre ja phantastisch, was der da am Schluss gefahren ist. Und er wird Weltmeister! Es ist unfassbar!"
Unfassbar und unwirklich. Denn: Die Dopingblase platzte. Viele hierzulande verschlossen angesichts der packenden Duelle zwischen dem Perfektionisten Lance Armstrong und dem das Gegenteil symbolisierenden Jan Ullrich die Augen vor der Wahrheit hinter den Kulissen. Dabei hätten schon 1998, als der erste große Dopingskandal die Tour de France durchschüttelte, die Warnsignale schrillen müssen. Aber das Gesamtpaket Telekom – Medien – faszinierender Sport fiel lange nicht als Mogelpackung auf. Erst der Skandal um den spanischen Dopingarzt Fuentes 2006 brachte mit Jan Ullrich den Helden zu Fall.
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Ein geächteter Held: Jan Ullrich (Bild: picture alliance / dpa / Gero Breloer)© picture alliance / dpa / Gero Breloer

Betrug als Geschäftsgrundlage

Jan Ullrich war hierzulande die Symbolfigur für die Verlogenheit einer Branche, in der der Betrug Geschäftsgrundlage war. Bis heute ist der einstige Held öffentlich geächtet. Was aber nur zum Teil mit den Dopingpraktiken zu tun hat. Es ist vielmehr seine Unfähigkeit, reinen Tisch zu machen und einfach mal die Wahrheit zu sagen. Im Rahmen seines Rücktritts im Februar 2007 geriet ein Fernseh-Auftritt in der Sendung Beckmann zu einem peinlichen Schauspiel:
Ullrich: "Ich kann ganz klipp und klar sagen, da bin ich auch wirklich stolz drauf: Ich habe ein reines Gewissen. Ich habe keine Angst vor der Zukunft. Und ich habe, dass möchte ich auch noch mal betonen, weil das groß ist – das kann nicht jeder von sich sagen – keinen betrogen und keinen geschädigt in meiner ganzen Karriere.
Beckmann: "Was ist für Sie Doping?"
Ullrich: "Was ist für mich Doping? Doping ist wenn man (lange Pause, äh), wenn man sich einen Vorteil verschaffen will mit Arzneimitteln oder was auch immer gegenüber seinen Gegnern. Unfairen."
Beckmann: "Und sehen Sie Doping als Vergehen an?"
Ullrich: "Ja, natürlich."
Beckmann: "Wann, Jan, werden wir erfahren, wie die ganze Sache ausgehen wird? Wann ist endgültig Klarheit, ob da was gelaufen ist und wie es gelaufen ist? Wann können wir sozusagen mal von Ihnen das freie Wort erfahren?"
Ullrich: "Das würde ich auch gern wissen. Ich hoffe bald."

Salami-Taktik mit unappetitlichen Häppchen

Richtig aufgeräumt mit der Vergangenheit hat Jan Ullrich aber nie. Die Salami-Taktik, mit der immer neue unappetitliche Häppchen aus der Dopingküche des Radsports präsentiert wurden, ließ die Meinung der Öffentlichkeit in Deutschland von heller Begeisterung in tiefe Ablehnung kippen. Und das mit typisch deutscher Gründlichkeit. Die Radsport-Weltmeisterschaften 2007 in Stuttgart gerieten zur Farce, es war das vorläufig letzte große Gastspiel dieser Sportart in Deutschland. Auch nationale Rennen verschwanden von der Bildfläche. Ebenso die großen Teams T-Mobile, Gerolsteiner und Milram. Und es war die Zeit, da mit Tony Martin der erfolgreichste deutsche Radsportler des vergangenen Jahrzehnts Profi wurde. Bis heute hat er es auf sieben Weltmeistertitel und fünf Tour-de-France-Etappensiege gebracht.
"Ich muss erst mal sagen, dass ich sehr, sehr froh bin über den Zeitpunkt, an dem ich Profi geworden bin. Das war 2008. Das war also wirklich diese Wende im Radsport. Davor war sicherlich Doping ganz und gäbe. Und ich bin sehr sehr froh, dass ich nicht in diesem Zwiespalt geraten bin. Vielleicht wenn ich früher Profi geworden wäre. Ok. Nimmst Du was, wirst Du Teil des Systems um konkurrenzfähig zu sein oder versuchst Du den sauberen Weg zu gehen, um dann wahrscheinlich mehr oder weniger dann erfolglos unterzugehen."
Vor wenigen Wochen war ein entspannter Tony Martin Gast in der Talkshow des NDR Fernsehens. Auch derartige Auftritte waren für Radsportler über Jahre undenkbar.
"Wir hatten auf jeden Fall eine sehr sehr tiefe Krise, gerade auch in Deutschland. Sicherlich auch ausgelöst von meinem ehemaligen Idol Jan Ullrich. Wo sicherlich viele Zweifler dann am Werke waren, die uns nicht mehr geglaubt haben. Im Jahr 2008, wo ich dann Profi werden durfte, war eigentlich der Radsport bei null und unsere einzige Möglichkeit war eigentlich, uns den Fans zu öffnen, uns zu gläsernen Sportlern zu machen und zu zeigen mit allen Mitteln: Okay, wir sind erfolgreich, aber wir bringen die Leistung, die wir bringen, wirklich mit sauberen und fairen Mitteln. Das war wirklich Sisyphus-Arbeit. Wir haben wirklich bei null angefangen und haben uns jedes Jahr gesteigert. Jedes Jahr weiter Vertrauen zurückerobert und sind jetzt wieder an einem Punkt, wo Düsseldorf bereit war, die Patenschaft für den Tour-Start zu übernehmen."

Beleidigungen auf offener Strecke

Stolz klingt dabei durch, aber auch Erleichterung. Denn Tony Martin erinnert sich an diesem Abend im Fernsehstudio auch an die richtig schweren Zeiten für einen deutschen Radsportler:
"Im ersten Jahr, in dem ich Profi war, haben die Fans teilweise mit Bannern an der Strecke gestanden: 'Nächste Apotheke rechts abfahren' und 'Scheiß Doper'. Wir wurden beschimpft, wo man sich wirklich fragt, was wollen die Leute beim Radsport, warum kommen die an die Strecke? Nur um uns runterzuschauen. Und umso schöner ist jetzt, dass wir die Möglichkeit haben, nach so vielen Jahren wirklich das auch zu ernten und in Düsseldorf am Start zu stehen."
Zumal gemeinsam mit Tony Martin im Schatten der Öffentlichkeit erstaunlicherweise eine Goldene Generation herangewachsen ist. Tony Martin, Marcel Kittel, John Degenkolb und Andre Greipel fuhren in den letzten Jahren von Sieg zu Sieg. Klassiker-Triumphe, Weltmeistertitel, Tour de France-Etappensiege. In den letzten fünf Jahren gelangen 24 deutsche Tagessiege beim wichtigsten Radrennen der Welt. Die breite Öffentlichkeit hat davon nur bedingt erfahren, schließlich gibt es erst seit zwei Jahren wieder Live-Bilder von der Tour de France im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Und trotzdem entwickelte sich im Schatten der großen Stars auch noch eine zweite Reihe deutscher Radprofis, die im Ausland unter Vertrag stehend hochgeachtet als Helfer oder Wasserträger im Einsatz sind. Fahrer wie Marcel Sieberg, Christian Knees, Paul Martens oder auch Robert Wagner. Der Deutsche Meister von 2011 - seit Jahren in Diensten der niederländischen Lotto-Mannschaft - hat es nie bereut, sich für diesen Sport entschieden zu haben:
"Nein, ich finde in Deutschland geht’s aufwärts. 2018 kriegen wir wieder die Deutschland-Tour, was auch wieder ein sehr sehr gutes Zeichen ist. Ich habe mich nie dafür geschämt, Radprofi zu sein. Weil das, was früher verzapft wurde, dafür kann ich nichts. Es ist wie es ist."
Der deutsche Radfahrer Tony Martin hat ein Rad-Rennen in dem Land Katar gewonnen.
Der deutsche Radfahrer Tony Martin© dpa, picture-alliance Yorick Jansens
Aber wie ist es eigentlich um den Radsport zehn Jahre nach dem großen deutschen Dopingknall bestellt? Jörg Jaksche hat damals mit seiner Beichte erstmals die sogenannte Omerta – das Schweigegelübte der Szene - gebrochen. Den heutigen Radsport hält der Experte für sauberer als damals, aber längst nicht für komplett dopingfrei:
"Es gibt Teams, die versuchen einigermaßen sauber und transparent, glaube ich, zu überleben. Und es gibt eben andere Teams, wo man eben sagen muss: Okay, das interessiert die nicht, ob die sauber sind oder nicht. Die wollen einfach nur erfolgreich sein. Und da steht dann irgendein russischer Oligarch dahinter, der sagt: Das ist mein Hobby, ich find das geil. Ich flieg mit meinem Privatjet hin und ihr sollt gewinnen, egal wie."

Depressionen und schlechtes Gewissen

Um zu verstehen, ob sich wirklich ein Wandel vollzogen hat, lohnt es sich, noch einmal zurückzuschauen. Wie war damals der Umgang mit den verbotenen Medikamenten, mit den Bluttransfusionen, mit dem Betrug? Wie sind die Radprofis in diesen Strudel hineingeraten? David Kopp war mitten drin in der Doping-Ära. Er fuhr vor rund einem Jahrzehnt für T-Mobile und Gerolsteiner und hat gedopt.
"Ich bin in allen Klassen, in denen ich gefahren bin, also auch in den Nachwuchsklassen und als Amateur immer in der Weltspitze gewesen, in der deutschen Spitze sowieso. Als Profi dann einfach nicht mehr. Das ist mir schwer gefallen, das zu verstehen. Ich hab dann auch viel links und rechts gehört und irgendwann die Entscheidung getroffen: Entweder du beendest deine Karriere oder du musst halt mitmachen. Meiner Meinung nach war das Spiel damals so."
David Kopp hat mitgespielt und teuer bezahlt. Er erkrankte an Depressionen, weil er dem Druck, Freunde und Familie zu belügen, nicht mehr gewachsen war. Besonders schlimm empfand er, dass bereits Jugendliche sanft an Doping herangeführt wurden.
"Zum Beispiel haben wir damals schon als Nachwuchsfahrer in der Juniorenklasse Tabletten bekommen mit Nahrungsergänzungsmitteln, wo wir für jede mögliche Richtung uns wappnen konnten, damit wir uns nicht erkälten, damit wir keinen Leistungsabfall haben. Man hat halt eine ganze Batterie Tabletten gehabt, die man sich jeden Tag rein geschmissen hat und das Gefühl hatte, das man was Gutes für seinen Körper tut. Und so eine Konditionierung hat dann auch im weiteren Verlauf der Karriere stattgefunden, dass der Schritt für mich selber, irgendwann zu verbotenen Mitteln zu greifen, nicht mehr so groß war."
Eine These, die auch der Radsportexperte Jörg Jaksche bestätigen kann:
"Und dann kommt dazu, dann man vielleicht einen Nationaltrainer hat, der natürlich Druck hat und der auch erfolgreich sein muss. Und der auch schon viel mitgemacht hat und weiß, dass in Italien gedopt wird – schon in den Jugend- und Juniorenklassen – und der sagt dir natürlich: Naja, ihr wärt ja eigentlich erfolgreich, wenn ihr auch dopen würdet. Ich will nicht, dass ihr dopt, aber ihr seid Supertypen – aber die Italiener da – man fühlt sich ungerecht behandelt, weil man eigentlich erfolgreich sein könnte. Man hat natürlich diesen Medikamentenplan und das ist so eine Mischpoke, wo man so langsam auf eine Dopingkarriere vorbereitet wird."

Neue Kontrollen und ihre Nischen

Und so läuft es sicher auch noch heute. Da und dort. Aber sicherlich nicht mehr flächendeckend, glaubt Mario Thevis, Dopinganalyst des Labors an der Deutschen Sporthochschule Köln:
"Der Radsportverband hat beispielsweise als einer der ersten Verbände den Athleten-Pass, den Blut-Pass zum Einsatz gebracht. Er war einer der ersten Verbände, der die sogenannte Isotopen-Verhältnis-Massen-Spektrometrie eingesetzt hat. Einfach ausgedrückt: Körperfremden von körpereigenem Testosteron zu differenzieren. Ich denke, dass der Abstand heute deutlich kleiner geworden ist. Nichtsdestoweniger muss man davon ausgehen, dass es immer Schlupflöcher gegeben hat und geben wird. Wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, dass wir auf Augenhöhe sind oder sogar mehrere Schritte voraus."
Rund sieben Millionen Euro lässt sich der Radsport-Weltverband jährlich sein Anti-Doping-Programm kosten. Rund 12 000 Proben werden Jahr für Jahr analysiert. Seit 2010 hat jeder Radprofi den sogenannten Blut-Pass. Hier werden alle Daten einer jeden Probe gespeichert und von externen Experten ausgewertet. Unter dem Strich ist das das fortschrittlichste und gemessen an der Anzahl der Sportler teuerste Programm aller Sportverbände. Aber auch das effektivste? In den ersten Jahren mit Sicherheit. Die Jahre nach 2010 waren wahrscheinlich die saubersten der letzten Jahrzehnte. Und heute? Laut Jörg Jaksche haben sich Radprofis, die betrügen wollen, schon wieder auf das neue System eingestellt.
"Es geht halt so in die Richtung eines minimalst wissenschaftlichen Dopings, das eigentlich schon in homöopathischen Dosen abgeben wird, trotzdem eben das so weitergetrieben wird. Grund ist einfach der ganz klassische Fall, dass die Leute, die das forcieren und die das System getragen haben – Teammanager, Teamärzte – die seit 30 Jahren im Radsport dabei sind, dass die immer noch dabei sind."
Viele glauben, dass an Grenzwerte heran gedopt wird. Minimale Mengen, die nicht nachweisbar sind. Das Ausnutzen aller Grauzonen. Der siebenmalige Weltmeister Tony Martin sagte jüngst in einem Fernseh-Interview über seinen Medikamenten-Konsum:
"Es kommt schon vor, dass man Schmerzmittel nimmt. Aber nichts Außergewöhnliches. Mal eine Paracetamol oder mal eine Ibuprofen. Das ist denke ich nichts Tragisches, steht auch nicht auf der Dopingliste. Das ist auch aus meiner Sicht kein Graubereich. Gerade auch bei solchen Rennen wie jetzt Roubaix, wo man auch noch neben Beinschmerzen, neben Muskelschmerzen auch einfach wirklich andere körperliche Leiden hat wie Gelenkschmerzen und so – da nimmt man auch sowas, um einfach den Körper zu unterstützen und das Ganze auch mental durchstehen zu können."

Die dreistesten Betrüger bleiben im System

Aber: Auch im neuen Team von Tony Martin, der Katjuscha-Mannschaft, tummeln sich Figuren aus der alten Zeit. Dag van Elslande war als Arzt schon im Team von Lance Armstrong. Und Jose Azevedo fuhr als Edelhelfer die Tour de France an der Seite des wahrscheinlich dreistesten Betrügers: Lance Armstrong. Jetzt ist der Portugiese Sportchef in Tony Martins Team.
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Lance Armstrong bei der Tour de France© epa / Christophe Karaba
"Schauen Sie, das ist ein Teil meiner Karriere im Radsport. Und ich denke, ich kann das nicht löschen. Ich denke, ich hatte in meiner Karriere nie ein Problem mit einer positiven Kontrolle, hatte nie ein Problem mit Doping. Ich kann in den Spiegel schauen und sehe einen ehrlichen Mann. Ich arbeite ehrlich. Ich möchte gewinnen, ich möchte gute Ergebnisse, aber ehrlich."
Solche Personalien und die eine oder andere fabelhafte Leistung lassen immer wieder die Sensoren der Beobachter reagieren. Verdächtigungen sind deutlich schneller ausgesprochen als in anderen Sportarten. Das ist Fluch und Segen zugleich. Und hat natürlich mit der Geschichte des Radsports zu tun. Auch Tony Martin hat früher die eine oder andere Leistung im vertrauten Kreis mit einem Kopfschütteln quittiert:
"Es gab definitiv früher Fahrer, wo ich gesagt habe, denen traue ich nicht von hier bis über die Straße. Wenn der mich besiegt hat, dann kam auch schon das große Zweifeln, definitiv. Ich habe das aber für mich selber niedergelegt, diese Denkweise. Weil es Dich kaputtmacht. Ich kann es nicht beweisen. Das ist für mich auch selber nur drauflos geraten und selber für mich eine Begründung, warum der andere stärker war. Aber diese Denkweise, die macht Dich verrückt."

Der Kampf gegen die TV-Abstinenz

Der Radsport hat inzwischen in vielen Ländern eine sehr kritische Medienbegleitung. Journalisten fragen nach Doping und bekommen Antworten. Vor allem in Deutschland haben die herausragenden Sportler gelernt, mit einer distanzierten Presse umzugehen. Aber die öffentlich-rechtliche Fernsehabstinenz empfanden sie ungerecht. Die Duelle der Doper Ullrich und Armstrong wurden zelebriert, die Auftritte der neuen – nach Selbsteinschätzung sauberen - Generation aber ignoriert. So ihre Sichtweise. Aber John Degenkolb und Co. verschwanden nicht im Schmollwinkel, sondern betrieben Lobby-Arbeit, auch bei den Fernsehmachern:
"Wir sind konkret auf Medienvertreter, konkret auf Politiker, auf einfach wichtige Leute zugegangen und haben versucht, uns natürlich auch so ein bisschen eine Lobby zu machen und einfach uns denen zu präsentieren und einfach vorzustellen. Ich denke, dass das jetzt auch die Früchte sind, die wir einfahren können. Jeder hat im Juli Tour de France geguckt und ich denke, das ist das Ziel für die nächsten Jahre, dass eben die Hausfrau Helga aus Erfurt im Juli die Tour de France guckt."
Fans cheer near the finish line during a 14 km individual time-trial, the first stage of the 104th edition of the Tour de France cycling race on July 1, 2017 in and around Dusseldorf, Germany.  / AFP PHOTO / Jeff PACHOUD
In Düsseldorf applaudieren Fans den Rennfahrern der Tour de France© AFP
John Degenkolb hat als Radprofi die großen Klassiker Mailand-San Remo und Paris-Roubaix gewonnen. Aber auch die Lobby-Arbeit hatte Erfolg. Seit zwei Jahren läuft die Tour wieder live im Ersten. Es ist vor allem die neue Offenheit, die Transparenz, die das Vertrauen zum Radsport langsam wieder wachsen lässt. So ließ sich Marcel Kittel schon einmal unter Aufsicht von einem Lügendetektor mit Dopingfragen testen. Und Tony Martin öffnete am Vorabend des wichtigsten Klassikers Paris-Roubaix einem NDR-Reporter die Hotelzimmer-Tür und ließ seinen Koffer nach Medikamenten durchsuchen:
"Ich denke, was Dich wirklich interessiert, ist meine kleine Wundertüte hier, wo ich eigentlich alles drin habe. Nahrungsergänzungsmittel, Vitamin C hat mir der Doktor gegeben. Auch so eine Rundumversorgung. Dann habe ich einen Haufen Vitamin D, weil ich da chronisch unterversorgt war. Das ist Carnitin, soll ein bisschen die Fettverbrennung anregen. Betanin soll den Muskelaufbau unterstützen, das ist eine Aminosäure. Ich glaube das kann man hier alles auch in jeder Küche in einem deutschen Haushalt finden.
Das einzige, wo ich wirklich sagen kann, das bringt mir was, wo ich auch wirklich einen Effekt habe im Rennen, ist Koffein. Das heißt also ein Power- oder Energie-Gel, wo dann auch Koffein schon beigefügt ist. Das ist das einzige, wo ich wirklich sage: Okay, das nehme ich gerne. Das würde mir nicht wehtun, aber ich würde es vermissen, wenn es das nicht mehr geben würde. Koffein war auch schon auf der Dopingliste. Also insofern ist das gar nicht so unrealistisch, dass das auch wieder mal abgeschafft wird. Aber ansonsten passiert eigentlich nicht wirklich viel."

Doping-Recherchen in anderen Sportarten sind tabu

Solche Recherchen sind wohl unvorstellbar bei der Fußball-Nationalmannschaft, einem Bundesliga-Team, bei Rafael Nadal, Usain Bolt oder Serena Williams. Journalisten-Kollegen, die beispielsweise mit Tennis-Stars über Dopingthemen sprechen wollen, bekommen regelmäßig die Gelbe Karte von Managern und Pressesprechern. Es ist in vielen Sportarten weiterhin ein Tabu-Thema. Der neunmalige Tour-de-France-Etappensieger Marcel Kittel dagegen ließ sich vor ein paar Wochen in einer Talkshow zum Thema Doping löchern:
"Was im Radsport einfach passiert ist, ist natürlich, nachdem die ganzen Skandale geschehen sind, dass zum Beispiel Siegerlisten abgeändert wurden. Also Lance Armstrong ist raus, Jan Ullrich ist raus. Das hinterlässt natürlich unschöne Lücken. Was das Ganze auch noch mal mit angestoßen hat, ist wirklich auch ein Umdenken im Sport. Ich glaube, wir können um von Bestzeiten wegzukommen, im Radsport ganz froh sein, dass man das nicht immer direkt vergleichen kann.
Also wenn man jetzt sagt: In den nuller Jahren da hatten wir das Rennen mit der und der Zeit und jetzt 10-12 Jahre später haben wir wieder das Rennen und die waren nur 10 Minuten langsamer. Das hat nicht viel zu sagen, weil es auch um Windstärken geht und es geht um Technik. Und was ich auch noch sagen wollte: Es ist einfach die Kultur. Damals nach den Geschichten, die man so gehört hat, war es eben wirklich so – was Du vorhin scherzhaft über Fußball gesagt hast – dass die sich halt im Trainingslager einfach die Weinflaschen rein gedroschen haben und große Party gemacht haben. Und das ist wirklich im Moment ein krasser Wechsel. Dass der Radsport wirklich extrem professionell geworden ist, trägt auch dazu bei, um natürlich auch den Sport vielleicht schneller zu machen, aber nicht unbedingt unglaubwürdiger."
Glaubwürdigkeit. Das zentrale Thema bei der Rückkehr des großen Radsports nach Deutschland. Glaubwürdigkeit beweist man nicht durch bestandene Dopingtests. Das zeigt die Historie des Sports. Viele der größten Betrüger sind nie positiv getestet worden. Glaubwürdigkeit hat auch viel mit Geduld zu tun. Und viele glauben den Marcel Kittel und Co. immer noch nicht:
"Trotzdem bin ich da immer Optimist und ich kann aus Überzeugung und Erfahrung sagen, dass die Leute sich wirklich in ihrer Meinung gedreht haben. Ich glaube dass der Radsport ein anderes Image bekommen hat, dass die Leute auch verstanden haben, dass der Sport sich wandeln will und auch gewandelt hat."
Der Tour-de-France-Start in Düsseldorf war ein gelungenes Comeback. Nächstes Jahr folgt mit der Wiederauflage der Deutschland-Tour der nächste Schritt. Stufe für Stufe klettert der Radsport zurück aus dem Keller ans Licht der Öffentlichkeit. Aber allen ist klar, dass ein neuer Skandal den sofortigen Wieder-Absturz bedeuten würde. Auch deshalb war Düsseldorf ein Heimspiel auf Bewährung.
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